10 subscriptions and 6 subscribers
Article

Familiennachzug: Das Warten hat kein Ende

Seit August dürfen Flüchtlinge mit eingeschränktem Status Angehörige nachholen. Zehntausende Menschen haben Anträge gestellt, doch kaum jemand kommt. Woran liegt das?


Sein älterer Bruder, sagt Yusuf*, war nicht mutig genug. Also lag es an ihm. Der Vater war einverstanden, die Mutter dagegen. Und eines Nachts schlich Yusuf, damals elf Jahre alt, mit seinem Onkel davon. Sobald er in Europa wäre, dachte er, könne er die Familie nach drei Monaten nachholen. Das hatte er von anderen Syrern gehört.

Heute ist Yusuf 14 Jahre alt. Er sitzt in einem Café im Osten Berlins, trägt Kapuzenpulli, Jogginghose, Sneakers. Er hat ein schmales Gesicht mit großen braunen Augen, er wirkt abwartend und in sich gekehrt, aber nicht schüchtern oder verschlossen. Eher abgeklärt. "Alle syrischen Familien haben Angst vor der Flucht nach Europa", sagt Yusuf. Deswegen gehe oft nur einer. "Damit im schlimmsten Fall auch nur einer stirbt."

Wenn er über seine Heimat Damaskus spricht, klingt Yusuf wie ein Kind. Sein Vater, sagt er, war ein "großer Mann", Chef einer Firma mit vielen Angestellten. Sie hatten ein Haus und ein Grundstück. Doch dann, sagt er, kamen die Flugzeuge und die Bomben.

Die Familie floh erst zu den Großeltern und dann in den Norden des Libanon. Sie lebte in einem Zeltlager, für den Schulbesuch der drei Kinder fehlte das Geld. Irgendwann sahen sie keine Zukunft mehr, die Flucht eines Familienmitgliedes sollte der Ausweg sein. Und so lebt der Teenager Yusuf, der als Kind geflohen ist, seit drei Jahren in Berlin und wartet auf seine Familie. 

Nur 42 statt 1.000 Visa

Seit 1. August ist der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, also Asylbewerbern mit eingeschränktem Schutz, eigentlich wieder möglich. Auf eine Obergrenze von 1.000 nachziehenden Menschen pro Monat hatten sich die Regierungsparteien in ihren Koalitionsverhandlungen geeinigt. Tatsächlich wurden im August aber nur 42, in der ersten Septemberhälfte nur 70 Visa ausgestellt. Zahlen für die zweite Septemberhälfte liegen noch nicht vor.

Dass Yusuf und viele andere weiter auf ihre Familien warten, hat zwei Gründe: Zum einen wurde das Gesetz verändert. Im Familiennachzugsneuregelungsgesetz sind die Voraussetzungen, Familienmitglieder nachholen zu dürfen, strenger. Bis die Bundesregierung den Familiennachzug im März 2016 für zunächst zwei Jahre aussetzte, durften alle Antragsteller ihre Kernfamilie nachholen, also Ehepartner und minderjährige Kinder. Jetzt geht das nur noch eingeschränkt. Die Ehe muss beispielsweise schon vor der Flucht geschlossen worden sein. Und der Familiennachzug wird generell nur noch aus sogenannten humanitären Gründen gestattet, also bei akuter Bedrohung im Herkunftsland, schwerer Krankheit oder besonders langer Trennung. Aus einem Rechtsanspruch ist eine Kann-Regelung geworden.

Für Sigrun Krause, Rechtsanwältin und Mitgründerin von Jumen, einem Verein, der Fälle von  Menschenrechtsverletzungen begleitet und gerichtlich vertritt, ist das Gesetz in seiner jetzigen Form nicht mit Grundgesetz und Menschenrechten vereinbar. Viele Wartende seien länger als drei Jahre von ihren Angehörigen getrennt, sagt sie. "Das Bundesverfassungsgericht entschied 1987 aber, dass die Trennung einer Ehe für drei Jahre unzumutbar ist." Zudem besage Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, dass – sollte eine Familie in ihrer Heimat nicht zusammenleben können – ihr der Familiennachzug ins Ausland gewährt werden müsse. Da Syrer, die Hauptgruppe der Antragsteller, auch in den Nachbarländern mitunter keine Rechte hätten, "ist das keine Alternative".

Fälle, in denen Minderjährige involviert sind, sind dabei noch aus einem anderen Grund problematisch. Zwar wird das Kindeswohl laut Gesetz besonders berücksichtigt. Was aber, fragt Krause, wenn ein Kind der 1001. Antragsteller ist – und damit nicht mehr unter das Kontingent fällt? "In diesem Fall verstieße die Kontingentierung gegen die UN-Kinderrechtskonvention."

Schon in Botschaften kommt es zu Verzögerungen

Doch nicht nur die Neufassung des Gesetzes ist das Problem. Es hapert auch an seiner Umsetzung. Der mehrstufige Prozess ist kompliziert. Die Angehörigen müssen zuerst in einer deutschen Botschaft im Ausland ihren Antrag stellen. Dort prüfen dann die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, ob im Herkunftsland "humanitäre Gründe" für den Familiennachzug bestehen.

Die Botschaften leiten alle Anträge weiter an die Ausländerbehörden der deutschen Bundesländer, jeweils an das Land, in dem der oder die jeweilige Angehörige lebt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Behörden prüfen dann, wie sich die in Deutschland lebende Person integrieren konnte. Hat sie Wohnung, Arbeit? Wurden alle Integrationskurse besucht?

Schließlich trifft eine dritte Instanz, das Bundesverwaltungsamt, die endgültige Entscheidung für oder gegen ein Visum. Es informiert die jeweilige Botschaft im Ausland, die dann das Visum erteilt.

Die Ausländerbehörden arbeiten besonders langsam

Doch in den Botschaften kommt es schon im ersten Schritt, bei der Bearbeitung der Visaanträge, zu erheblichen Verzögerungen. Von den Zehntausenden Anträgen, die Anfang August in den Botschaften lagen, gaben die Mitarbeiter im August nur insgesamt 853 an die Ausländerbehörden in Deutschland weiter. Im September waren es bis einschließlich 25. September laut Bundesverwaltungsamt 815 Anträge. Die Grenze von 1.000 Anträgen wurde also voraussichtlich in beiden Monaten bereits im ersten Schritt nicht erreicht.

Das Auswärtige Amt verweist in diesem Zusammenhang auf das anspruchsvolle Prüfverfahren. Zudem hätten die Mitarbeiter mitunter Schwierigkeiten, die Antragsteller erneut zu kontaktieren.

In den Ausländerbehörden geht es anschließend noch langsamer voran. Von den 1.668 Anträgen, die im August und September eingegangen waren, gaben die Mitarbeiter nur 209 zur finalen Entscheidung an das Bundesverwaltungsamt weiter. Hier kommt der Prozess also weiter ins Stocken.

Ein bisschen Zeit bleibt den Behörden noch, um die Verfahren zu optimieren. Wird das Kontingent von 1.000 erteilten Visa in einem Monat nicht erreicht, kann es bis Ende des Jahres noch auf den nächsten Monat übertragen werden. Aber ab Januar 2019 geht das nicht mehr. Es könnte also passieren, dass langfristig weit weniger als 1.000 Angehörige pro Monat nachziehen, einfach weil die Behörden mit der Bearbeitung der Anträge nicht vorankommen. 

"Erst die Familienzusammenführung ermöglicht Integration"

Umstritten ist das Verfahren aber auch inhaltlich, vor allem die Überprüfung der in Deutschland lebenden Angehörigen. Zwar sind die Sicherung von Lebensunterhalt und Wohnraum laut neuem Gesetz keine Voraussetzung für den Familiennachzug, sie wirken sich laut der Internationalen Organisation für Migration IOM aber positiv auf die Auswahl aus. Bei einer Begrenzung auf 1.000 Menschen pro Monat kann das entscheidend sein. 

Menschen, die voller Sorge auf ihre Angehörigen warten, seien oft nicht in der Lage, sich ausreichend zu konzentrieren, etwa um Deutsch zu lernen, sagt Percy MacLean, ehemaliger Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte. "Erst die Familienzusammenführung ermöglicht Integration."

"Die Menschen sind irritiert, ratlos und wütend"

Auch wenn Yusuf an die erste Zeit in Deutschland zurückdenkt, sagt er heute: "das war hart". Er lebte mit seinem Onkel in einer umfunktionierten Turnhalle. Er habe dort Schlägereien gesehen, schreiende Menschen, einmal sei er selbst mit einem Messer verletzt worden. Und wenn er mit seinen Eltern telefoniert habe, hätten die oft geweint. Sein Vater bereute, dass er ihn gehen ließ. Die Mutter flehte, er möge zurückkehren.

An Schule sei nicht zu denken gewesen. "Ich saß im Klassenzimmer und habe durch meinen Lehrer hindurchgeguckt", sagt Yusuf. "Ich dachte: Was macht Lernen für einen Sinn, wenn meine Familie nicht bei mir ist?" Yusufs Eltern und Geschwister hatten damals einfach Pech. Gerade als er Anfang 2016 zusammen mit seinem Vormund die Familie nachholen wollte, wurde der Familiennachzug ausgesetzt.

Bundesverwaltungsamt hat nur zwei Anträge gestoppt

Menschenrechtler MacLean kritisiert außerdem, dass das Bundesverwaltungsamt jetzt am Prozess teilhat. Denn es untersteht dem Innenministerium und damit Innenminister Horst Seehofer. Dessen CSU hatte sich in den Koalitionsverhandlungen lange gegen die ursprünglich geplante Wiederaufnahme des Familiennachzugs schon im März 2018 gesträubt. Kritiker befürchten, dass das Amt den Nachzug der Antragsteller bewusst erschweren könnte oder zumindest keine Priorität auf die Anträge legen wird.

Bisher hat das Bundesverwaltungsamt jedoch fast alle Anträge positiv beschieden. Nur zwei der 209 Anträge, die ihm vorlagen, wurden vorerst nicht genehmigt. Sie wurden "aufgrund der Mitteilung der zuständigen Auslandsvertretung in der Entscheidung zunächst ausgesetzt", wie das Amt auf Anfrage von ZEIT ONLINE mitteilte. Eine Sprecherin sagte, ihre Behörde entscheide anhand der "im Gesetz genannten Kriterien wie Minderjährigkeit, Trennungsdauer, Notlage, Kindeswohl- und Integrationsaspekte."

Thomas Oberhäuser vom Deutschen Anwaltverein sagt, das sei zu vage. "Ist ein dreijähriges Kind, das zwei Jahre in Syrien wartet, mehr oder weniger schutzwürdig als vierjährige Zwillinge, die erst ein Jahr warten?", fragt er. Niemand könne das in praktikable Kategorien fassen. Mehr noch: Er sehe "keinen politischen Willen, diesen Irrwitz zu beenden". 

Das könnte für den Staat noch zum Problem werden. Denn der Familiennachzug ist ein Visaverfahren. Antragsteller können Untätigkeitsklagen erheben, wenn sie nach drei Monaten noch keine Antwort erhalten haben. Zuständig ist dann das Verwaltungsgericht Berlin. Bisher seien zwar nur vier Verfahren bei der zuständigen Kammer anhängig, sagt Stephan Groscurth, Sprecher des Gerichts. Er rechne aber damit, dass die Zahl am Ende der drei Monate, Anfang November also, deutlich steigen werde.

Helfer befürchten mehr Flüchtlinge auf dem Mittelmeer

Die Auswirkungen könnten allerdings noch dramatischer sein: Hilfsorganisationen befürchten, dass sich wieder mehr Menschen auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer machen, weil ihnen der legale Weg des Familiennachzugs verwehrt bleibt. "Die subsidiär geschützten Menschen in Deutschland sind sehr unruhig", sagt Chris Melzer, Sprecher des UNHCR in Berlin. "Die meisten dachten, es geht ab August einfach weiter. Jetzt sind sie irritiert, ratlos, manche auch wütend."

Für Yusufs Familie wird die Zeit knapp. Sein ältester Bruder ist 17, sein Pass ist abgelaufen. Er müsste nach Syrien, einen neuen beantragen. Dort aber würde man ihn, sobald er volljährig ist, in die Armee einziehen. Schon jetzt, fürchten die Eltern, würde man ihn bei einem Grenzübertritt festhalten. Was die Familie macht, wenn es nicht klappt? Das wisse er nicht, sagt Yusuf, aber er habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie kommen können. "Ich dachte, das ist das Gesetz."  

*Name zum Schutz der Person geändert.

Original