Keine Papiere, keine Arbeit, kein Geld – Omar aus Ghana lebt illegal in Berlin und verkauft Gras im Görlitzer Park. "Ich habe mir mein Leben anders vorgestellt", sagt er.
Anscheinend prallt sie einfach an ihm ab, die Angst. Zum Beispiel gerade eben. Da wurde es kurz hektisch im Park. Sechs junge Afrikaner drückten sich die Mauer entlang, eilten Richtung Ausgang. Hinter ihnen tauchten drei Polizisten auf, zwei Frauen, ein Mann; durchwühlten das Gebüsch. Auf der Suche nach Päckchen mit Gras.
Und Omar*? Stand seelenruhig daneben. "Wer rennt, macht sich verdächtig", sagt er. Er habe ja nichts zu verbergen.
Wer Omar an diesem kalten Frühlingstag gegenübersteht, könnte es glauben, so überzeugt wirkt er von sich: 34 Jahre alt, Fünftagebart, ein offenes Lächeln im Gesicht. "Ich würde nie lügen", sagt er oft, "man muss ein guter Mensch sein."
Trotzdem geht sein Blick immer wieder nach links und rechts, scannt die Passanten. Er arbeitet. Sein Arbeitsplatz, das ist ein etwa drei mal drei Meter großes Areal im Görlitzer Park, Berlins bekanntestem Drogenumschlagplatz. Bis zu 200 Dealer, fast alle aus Nord- und Westafrika, stehen hier im Sommer, jetzt im Winter ist es knapp die Hälfte; jede Nationalität hat ihren eigenen Bereich.
Omar und die anderen Ghanaer haben sich unter dem Vordach der einstigen Bahnhofshalle postiert, gleich hinter dem Haupteingang. Ein guter Platz: Wer den Park hier betritt, läuft an Omar vorbei; wer ihm länger als eine Sekunde in die Augen blickt, ist für ihn ein potenzieller Kunde.
"Geh nach Deutschland", rieten ihm seine Freunde
Fast jeden Tag steht er hier. Manchmal ab zehn, manchmal ab Mittag; oft bleibt er, bis es dunkel wird. Er ist selten allein; meist sind sie zu zweit oder zu dritt. Sie lehnen dann neben ihm an der Wand, die Hände in den Taschen vergraben, die Mütze tief im Gesicht. Es ist ihr Alltag: auf Kundschaft warten, Witze reißen, auf dem Handy Musik aus der Heimat hören. Ja, sagt Omar, er habe sich das Leben in Deutschland anders vorgestellt. Früher, da hatte er einen Plan.
Omar stammt aus ärmlichen Verhältnissen in Techiman, im Zentrum Ghanas. Sein Vater starb kurz nach Omars Geburt, mit dem Stiefvater gab es ständig Streit. Mit 15 verließ Omar das Haus, erzählt er, kurz darauf das Land. In Côte d’Ivoire fand er einen Job als Schuhverkäufer, in Libyen schließlich Arbeit, die ihn erfüllt: Tischlern. Er baute Stühle für ein großes Unternehmen; merkte, dass er Talent hat. "Geh nach Deutschland", rieten ihm seine Freunde. "Da kannst du was dazulernen." Es wurde Omars Plan.
Deutschland kannte er da vor allem aus dem Radio. Aus den Erzählungen der Ghanaer, die dort als Fußballer und Sänger erfolgreich wurden – und seither von der neuen Heimat schwärmen; von Hamburg etwa, wo es eine große ghanaische Community gibt.
Doch er kannte auch die Geschichten der Menschen, die Europa nie erreichten. Wusste um die Gefahren. Omar ist gläubiger Muslim, betet regelmäßig, von Kindheit an. Weil er unsicher war, fastete er, wartete darauf, dass Allah ihm ein Zeichen gibt. Das kam nach zwei Tagen: Geh!, habe Allah ihm gesagt. Also bestieg er an einem kühlen Morgen mit 50 anderen ein weißes Schlauchboot im Norden Libyens. Gelangte über Lampedusa, Neapel und die Schweiz nach Deutschland, wo er 2012 Asyl beantragte.
Es ist warm, als er das erste Mal nach Berlin kommt
Doch Deutschland ist nicht das offene Land, das er erwartet hat, zumindest nicht überall. Die Behörden schickten ihn nach Ludwigslust, eine Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern. Ein "Nest, in dem es nichts zu tun gibt", wie Omar sagt. Ohne Arbeitserlaubnis konnte er nicht arbeiten, als Asylbewerber ohne Aufenthaltstitel nicht an Sprachkursen teilnehmen. Er fühlte sich isoliert. "Die Menschen dort", sagt er, "mögen keine Fremden." Die Mitbewohner seines Asylbewerberheims gingen sogar nur zu dritt vor die Tür, aus Angst vor Übergriffen. Und Omar? War immer allein unterwegs, auch nachts, hatte keine Furcht. Nur eine Zukunft in Ludwigslust, die sah er nicht.
Es ist warm, als er im Frühjahr 2013 erstmals nach Berlin kommt. Er tanzt in Reggae-Clubs, nachts schläft er im Park. Schnell wird ihm klar: Das ist seine Stadt. Am nächsten Tag fährt er zurück nach Ludwigslust, packt seine Sachen.
Es sind bewegte Zeiten. Auf dem Oranienplatz campen Asylbewerber, protestieren für die Abschaffung der Residenzpflicht, einen Kilometer weiter haben sie mit linken Aktivisten die leer stehende Gerhard-Hauptmann-Schule besetzt. Omar ist mittendrin, schläft im Camp, in der Schule. Trifft andere Asylbewerber, Mitglieder der linken Szene. In einer Sommernacht ein Jahr später dann Clara*, in einem Club. "Die meisten Frauen wenden sich ab, wenn man keine Papiere hat", sagt Omar. Clara tut das nicht. "Eine gute Frau." Zwei Monate später zieht er bei ihr ein, in eine Einraumwohnung nach Charlottenburg.
Du hast Glück, sagen seine Freunde aus dem Park. Vor allem die, denen es schlechter geht. Die zu siebt in einem Zimmer schlafen müssen, im Monat 350 Euro für eine Matratze in einer Bruchbude zahlen. Die Not der Flüchtlinge, sie ist für windige Geschäftsleute zum lukrativen Geschäft geworden.
Seine Freunde sagen auch: Heirate Clara. Die Ehe mit einer Deutschen ist für viele der einzige Weg, legal im Land zu bleiben. Doch Omar, der scheinbar Unbekümmerte, der keine Angst hat, sich irgendwie durchschlägt – er kommt in diesen Momenten mit Prinzipien.
Er wolle Clara heiraten, sagt er. Aber aus Liebe, nicht für die Papiere. "Ein Dokument darf nie über einem Menschen stehen." Clara ist 35, geschieden, hat drei Kinder. Die älteste Tochter ist volljährig, die beiden Geschwister leben beim Vater. Die gelernte Altenpflegerin ist arbeitslos, bezieht Hartz IV. "Ich will ihren Kindern ein guter Vater sein", sagt Omar. Als guter Moslem sei das seine Pflicht.
Überhaupt, Omar und die Moral: Unterstützung vom Staat, "Sozialgeld", wie er es nennt, lehne er ab. Es mache träge. Er wolle eine Ausbildung machen, seinen Plan verfolgen: Tischler sein. Er redet viel davon: zu arbeiten, sich zu bewegen. Und kommt doch nicht vom Fleck.
"Haram", sagt Omar. Verboten.
Omar hat keine Arbeitserlaubnis, inzwischen nicht einmal mehr Papiere. Sein Asylantrag wurde 2013 abgelehnt. Er hat nicht dagegen geklagt, sich seitdem nicht beim Amt gemeldet. Theoretisch droht die Abschiebung. Und so macht er um die Behörde einen Bogen – bekommt kein Geld, darf aber auch nicht legal arbeiten.
Manchmal findet er Aushilfsjobs unter der Hand. Dann repariert er Türen in Hostels, schleppt Möbel bei Umzügen, schrubbt Böden. Doch die Aufträge sind mit fünf Euro pro Stunde nicht nur mies bezahlt, sondern aufgrund der großen Konkurrenz auch rar. Und so steht Omar die meisten Tage im Görlitzer Park. Zum Anfang, sagt er, habe er nur Freunde besucht. Drogen verkaufe er erst seit einem Jahr.
Wie er das eigentlich sehe, das Dealen? "Es schmerzt mich", sagt er. Und kommt auch dann mit Prinzipien: Heroin, Koks und Pillen seien tabu; das Zeug würde Menschen töten. Gras aber sei harmlos, er kiffe selbst nicht wenig.
Und doch ist da Scham. Seine Mutter weiß nicht, wovon er lebt. Verdient er doch mal was als Aushilfe, schickt er einen Teil davon nach Hause. Einnahmen aus dem Grasverkauf aber? Niemals. "Haram", sagt er. Verboten.
Er wird nachdenklich, wenn er über seine Heimat spricht. Seine Mutter ist inzwischen 80, sein älterer Bruder kümmert sich um sie. "Ich bete zu Gott, dass ich sie noch einmal sehe", sagt Omar. Und wird ganz still. Normalerweise behält er seine Sorgen für sich; versteckt sie hinter dem breiten Grinsen, hinter den ganzen Jokes und Joints und dem Eindruck, dass alles irgendwie in Ordnung sei. Und doch, das sagt auch er: "Es ist hart, das Leben als Illegaler."
Keine Papiere, kein Arzt
Neulich hatte er einen Unfall. Eine dieser blöden Sachen, die scheinbar aus dem nichts geschehen. Im Park gingen zwei Hunde aufeinander los, Omar versuchte, sie zu trennen; ergriff ein Halsband – da knackte es. Seine Hand. Nichts schlimmes, dachte er; doch am nächsten Morgen stellte sich heraus: Zwei Finger waren gebrochen.
Für die meisten Menschen ein schmerzhaftes Ärgernis. Für Omar hingegen ein echtes Problem. Keine Papiere heißt: keine Gesundheitskarte. Drei Krankenhäuser klapperten er und Clara ab; alle weigerten sich, zu operieren. Man gab ihm schließlich Schmerztabletten, bandagierte seine Hand. Was er jetzt mache? "Aufpassen, dass ich nirgends gegen stoße", sagt er. "Was soll ich sonst tun?"
Gras hat er nie bei sich
Und dann die Kontrollen. Immer wieder hält die Polizei ihn an. Er habe seinen Pass verloren, sagt er dann. Meist verweisen ihn die Beamten nach Ludwigslust, das war's. Gras hat er sowieso nie bei sich – das holt er erst, wenn Kunden danach fragen.
Er sieht sich in einem Dilemma: Geht er zur Ausländerbehörde, riskiert er die Abschiebung; geht er nicht, bleibt seine Situation, wie sie ist. Es sind Momente, in denen er das Gefühl hat, dass ihm außer Dealen nichts bleibt. "Was soll ich machen", sagt er. "Ich habe keine Wahl." Hat er die wirklich nicht?
Seit einem Jahr hat der Görlitzer Park einen Parkmanager: Cengiz Demirci, Kommunikationspsychologe mit Erfahrungen in der Sozialarbeit. Er und sein Team sollen den "Görli" sicherer machen – und sprechen dafür auch mit Dealern. Demircis "Büro", ein alter Bauwagen, steht mitten im Park; er kennt die Jungs. "Wenn sie legal arbeiten könnten", sagt er, "wäre keiner von ihnen hier."
Sein Mitarbeiter Soulemane Sow nickt, wenn er das hört. Eine Entschuldigung fürs Dealen sind fehlende Papiere für ihn dennoch nicht. Sow kam vor 30 Jahren selbst aus Afrika, aus Guinea. In Berlin sah er, wie junge Afrikaner Drogen verkauften, die Familien in der Heimat von dem Geld Häuser bauten. Während er sich als Möbelpacker durchschlug – ohne Papiere zwar; aber auch, ohne in die Drogenkriminalität abzurutschen. Der "korrekte Weg", wie er es nennt. Wer ihn gehen wolle, müsse ihn von Anfang an gehen. "Auch wenn man damit weniger verdient." Nachdem er eine deutsche Frau heiratete, bekam er auch Papiere. "Es gibt immer einen anderen Weg", sagt Sow. "Die Möglichkeiten sind da."
"Eine Respektsperson"
Sow kennt Omar. "Eine Respektperson im Park", sagt er. Aber auch einer, der sich für die einfache Lösung entschieden hat. Dabei habe er eigentlich beste Voraussetzungen – mit der Wohnung und mit Clara.
Fragt man Omar selbst nach seiner Zukunft, wird er erst mal abstrakt. Man könne nur durch Herausforderungen wachsen, sagt er. Nur so komme man weiter. Wie und wohin – das bleibt offen. Nicht nur die Angst, scheint es in diesen Momenten, auch die Realität prallt an ihm ab.
Und doch, inzwischen hat er einen neuen Plan: Omar will zurück in seinen Geburtsort, nach Techiman. Will neben dem Haus seiner Mutter einen Laden aufmachen, einen kleinen Baumarkt; das rechne sich, sagt er, das habe er in Deutschland gesehen. Er würde dort Sägen, Hämmer und Fräsen verkaufen und Aufträge als Tischler annehmen. Clara wäre auch dabei, die würde hinter der Kasse stehen. "Mein Traum", sagt Omar.
Doch so ein Traum, schiebt er hinterher, sei gefährlich. Man dürfe ihn nicht direkt angehen, dann entgleite er einem. Und vielleicht, sagt Omar, komme auch alles ganz anders, wer wisse das schon. "Die Zukunft kennt Gott allein." Bevor er einen falschen Schritt tut, scheint es inzwischen, bleibt er lieber stehen.
*Name geändert.