Drogenhandel, Müllberge, ein Mord: Berlin streitet über den Umgang mit Obdachlosen im Tiergarten. Sollte der Staat die Camper abschieben – obwohl sie aus der EU stammen?
Wo sie lebe? "Bett", sagt Amara und streicht mit ihrer faltigen Hand über den Schlafsack, auf dem sie sitzt. Dann weist ihr Zeigefinger nach oben, zum Vorsprung des Bahndamms, an dem sie lehnt. "Dach", sagt sie.
Der Berliner Tiergarten an einem sonnigen Oktobertag: Familien flanieren durch den Park, Radfahrer schlängeln sich durch die Menschengruppen, aus dem nahegelegen Zoo schallen Kinderstimmen. Und ganz am Rand, am Bahndamm: Amara, 65, und ihr Sohn Alexander, 34.
In ihrer Heimat Lettland hätten sie ihr Haus verloren, erzählt Amara, der Vermieter habe sie vor die Tür gesetzt. Ihre Rente habe zum Leben nicht gereicht, ihr Sohn Alexander, geistig beeinträchtigt, fand einfach keinen Job. Also kamen sie nach Deutschland. Seit fünf Monaten schlafen sie jetzt hier, im Tiergarten.
Für die Stadt wird das zunehmend zum Problem. Der Tiergarten ist in die Schlagzeilen geraten. Mit Müllbergen und Spritzen auf Kinderspielplätzen. Mit afghanischen Flüchtlingen, die sich prostituieren, um ihre Heroinsucht zu finanzieren. Mit Schwänen, die vermutlich von Obdachlosen verspeist wurden. Vor allem aber mit einem Mord.
Im September war die Kunsthistorikerin Susanne F. im Tiergarten überfallen worden. Ihre Leiche fand man im Gebüsch, keine 30 Meter von dort, wo Amara und Alexander jetzt sitzen. Der mutmaßliche Täter, ein Mann aus Tschetschenien, wurde inzwischen gefasst.
No-go-Area oder Panikmache?Ist der Tiergarten, seit jeher nicht die beste Adresse, inzwischen eine No-go-Area geworden? Wie gefährlich es wirklich ist, ist schwer zu sagen. Einige Cafébesitzer berichten von Obdachlosen, die aggressiv werden, wenn man sie vertreibt. Ein Sozialarbeiter sagt, man habe ihn zusammengeschlagen. Es gibt aber auch Menschen, die sprechen von "Panikmache", einem "Hype". Der Tiergarten ist nachts wahrscheinlich nicht der sicherste Ort - auch wenn er nicht zu den kriminellen Hotspots der Stadt zählt.
In der Dunkelheit wirkt der Park wie ausgestorben. Und doch gibt es Stellen hier, da leuchten Taschenlampen im Gebüsch. Da raschelt es, und man hört Stimmen. Polnisch, Deutsch, Arabisch, Englisch mit starkem Akzent.
Es war ein Grüner, der den Tiergarten auf die Agenda hob. Stephan von Dassel, Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte, war bei einem Pressegespräch deutlich geworden. Er befürchte das Entstehen einer "rechtsfreien Zone", sagte er. Etwa 60 Obdachlose würden im Tiergarten zelten, einige alkohol- und drogenabhängig, viele aggressiv. Die meisten kämen aus Osteuropa.
Und dann dieser Satz: "Aggressive Obdachlose aus EU-Ländern abzuschieben sollte kein Tabu sein." Das Echo darauf war gewaltig, auch weil das rechtlich so gut wie unmöglich ist. Kritik kam selbst aus der eigenen Partei. Einigen gilt von Dassel, der schon die Prostitution auf der Kurfürstenstraße verbieten wollte, inzwischen als "grüner Hardliner", als "Boris Palmer von der Spree".
Eine Woche später klingt der Mann, der sich selbst als Pragmatiker bezeichnet, schon differenzierter. Von Dassel, 50, schwarze Brille, grüner Schlips, steht an einer Wegkreuzung im Tiergarten, umgeben von Journalisten. Er fühle sich missverstanden, sagt er, niemand werfe Obdachlose ohne Vorankündigung aus dem Park. Seine Mitarbeiter würden die Obdachlosen auf Hilfsangebote hinweisen. Auch die aus Osteuropa.
Dann sagt er aber auch: "Letztlich kann es sozialer sein, Menschen in die Heimat zurückzubringen. Dorthin, wo sie zumindest die Sprache sprechen."
Begleitet wird von Dassel an diesem Tag von Mitarbeitern des Bezirksamtes, darunter Markus Schwenke, Revierleiter des Straßen-und Grünflächenamts Mitte. Schwenke, 48, grüne Uniform, hält Fotos in die Kameras, die zeigen, womit er und seine Kollegen es täglich zu haben: Berge von Müll, zerbrochene Flaschen, offene Spritzen. Er erzählt von pöbelnden Obdachlosen, von Beleidigungen, von tätlichen Angriffen, denen seine Mitarbeiter ausgesetzt sind. Und klagt, dass ihm die Manpower fehle. 30 feste Mitarbeiter seien zu wenig. Zumal sich die Zahl der Obdachlosen im Tiergarten in den letzten acht Jahren verdoppelt habe.
Niemand weiß, wie viele Obdachlose es in Berlin gibt
Das Campieren im Park ist eine Ordnungswidrigkeit. Das Ordnungsamt hat inwzischen mit verstärkten Kontrollen begonnen und kann, so die Absprache zwischen Polizei und Bezirk, auch die Polizei hinzurufen, die ebenfalls mehr Streife läuft. Zum Beispiel um Zelte zu räumen.
Das war allerdings auch bisher schon der Fall, 80 Räumungen gab es im vergangenen Jahr. Ein nachhaltiges Modell sei das nicht, sagt Schwenke. Platzverweise gelten nur für 24 Stunden; meist stünden die Zelte am nächsten Tag wieder da. Zu sehen ist davon an diesem Tag allerdings wenig. Abgesehen von sieben Zelten am Eingang des Parks, und einigen Matratzen, versteckt hinter Büschen, gibt es nur wenige Spuren der Obdachlosen. Die meisten, sagt Schwenke, seien weitergezogen in die Tiefen des 200 Hektar großen Parks.
Außerdem sollen die Personalien der Obdachlosen festgestellt werden. Das, wie auch die verstärkten Streifen, hat die eilig einberufene Taskforce für den Tiergarten aus Senatsverwaltungen, der Polizei und der Bezirke Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf beschlossen. In Berlin fehlt, wie auch bundesweit, eine offizielle Statistik zu Zahl der Obdachlosen. Die Schätzungen reichen bis zu 10.000. Von Dassel glaubt, dass es nur 2.000 sind. Etwa 60 Prozent der Obdachlosen in ihren Notunterkünften kämen inzwischen aus Osteuropa, schätzte der Träger Gebewo im Januar.
Sozialleistungen oder nicht?
Sind die Daten erfasst, sagt von Dassel, müsse geklärt werden, welche Perspektiven die Menschen hier hätten. Und einige Obdachlose seien zu Hause "eben besser dran". Denn viele Angebote würden nur für Menschen mit Anspruch auf Sozialleistungen gelten. Aber schließt das Obdachlose aus EU-Ländern, auf die er immer wieder zu sprechen kommt, tatsächlich aus?
Das ist nicht eindeutig zu beantworten. Der Bundesrat hat vergangenes Jahr zwar ein Gesetz verabschiedet, demzufolge EU-Bürger, die nicht in Deutschland gearbeitet haben, die ersten fünf Jahre keine Sozialleistungen beziehen. In der juristischen Praxis werde die Rechtslage allerdings "unterschiedlich interpretiert", sagt Petra Schwaiger, Leiterin von Frostschutzengel Plus, einem Beratungsprojekt für Wohnungslose der Gebewo und des Caritasverbandes Berlin.
Grundsätzlich, erklärt Schwaiger, müssten EU-Bürger in Deutschland gleich behandelt werden. Was eben auch heiße: Die meisten Obdachlosen aus EU-Ländern hätten das Recht auf soziale Leistungen und auf Hilfe der Behörden. Auch bei der Unterbringung.
Dass die Menschen diese Leistungen selten beziehen, hat laut Schwaiger mehrere Gründe: Anträge müssen ausgefüllt, Zahlungen mitunter eingeklagt werden – von der Straße aus sei das natürlich fast unmöglich. Zumal viele Ämter ausländische Obdachlose "nicht gerade mit offenen Armen empfangen". Schwaigers Team, zu dem polnisch-, bulgarisch-, rumänisch- und russischsprachige Sozialarbeiter zählen, begleite die Menschen daher auch bei Amtsgängen.
Arbeit im Hotel, Bett im Tiergarten
Am Rande des Tiergartens, in der Bahnhofsmission Zoologischer Garten, ist die Essensausgabe am Nachmittag gerade vorbei, vor dem braunen Gebäude stehen etwa 30 Männer und ein paar Frauen. Viele von ihnen sind obdachlos.
Dieter Puhl, seit 2009 Leiter der Einrichtung, bittet in sein kleines Büro. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf, zündet sich eine Selbstgedrehte an. Und erzählt.
Die derzeitige Debatte irritiere ihn, sagt Puhl. Er bemerke keinen Anstieg der Gewalt im Tiergarten. Es gebe vielleicht mehr Schwarzfahrer, Ladendiebstähle, vielleicht auch die ein oder andere Rauferei im Suff. "In Berlin leben Obdachlose aus 80 verschiedenen Ländern", auch er schätzt, dass 60 Prozent von ihnen aus Osteuropa kommen. Er fühle sich nach wie vor sicher. Auch die Räumungen von Obdachlosencamps, die er gesehen habe, seien friedlich verlaufen.
Eine Stigmatisierung der Obdachlosen?
Puhl, 60, graue Schiebermütze, gepiercte Augenbraue, engagiert sich seit 1992 in der Berliner Obdachlosenhilfe. Anfang dieses Jahres erhielt er dafür das Bundesverdienstkreuz. Man merkt: Es geht ihm um mehr. Wie die Debatte geführt wird, sagt er, führe zu einer Stigmatisierung der Obdachlosen.
Das Land Berlin stellt jährlich 4,1 Millionen Euro für die Wohnungslosenhilfe zur Verfügung, im Doppelhaushalt 2017/2018 sollen noch einmal 2,5 Millionen Euro dazukommen. Puhl fordert deutlich mehr: 25 Millionen. Für bessere Unterbringungsmöglichkeiten, mehr öffentliche Sanitäranlagen, vor allem für psychologische Betreuung. Ein Großteil der Obdachlosen, sagt Puhl, sei psychisch krank; es brauche psychiatrisch ausgebildete Fachkräfte.
Es gibt Menschen, die das anders sehen. Bezirksbürgermeister von Dassel zum Beispiel. Viele Hilfsangebote, sagt er, hätten nichts gebracht. Im Tiergarten arbeiteten inzwischen auch Sozialarbeiter aus Polen, aber auch die erreichten viele Obdachlose nicht. "Es gibt einfach Menschen, an die kommt man nicht ran. Die sagen: Hau ab mit deinem System."
Auch bei der Frage der Unterbringung gehen die Meinungen auseinander. Laut Senatsverwaltung gibt es derzeit 135 Plätze in ganzjährigen Notunterkünften, 1.000 Plätze sind für die im November beginnende Kältehilfe vorgesehen. Puhl fordert 2.000, für das gesamte Jahr.
"Niemand kommt wegen der Suppenküchen nach Berlin"
Auch hier ist von Dassel skeptisch. Die Grenze von 1.000 Plätzen solle nicht überschritten werden, sagt er. Ein Großteil der Obdachlosen komme nun mal nicht aus Deutschland, man müsse "eine Grenze ziehen" – und das auch, um "keine Anreize zu schaffen". Es ist einer der Kerne seiner Argumentation: Eine verbesserte Hilfsstruktur, sagt von Dassel, mache Berlin über die Grenzen hinaus attraktiv – und verstärke damit den Zuzug aus dem Ausland.
Petra Schwaiger von Frostschutzengel zweifelt daran. Niemand komme wegen der Suppenküchen nach Berlin, sagt sie. Die Menschen seien hier, weil sie in Berlin bessere Chancen sehen würden: auf Arbeit, darauf, am Leben teilzunehmen. Auch das häufig vermittelte Bild, alle Obdachlosen seien arbeitslos, sei falsch. So berate sie zum Beispiel Menschen, die als Reinigungskräfte in renommierten Hotels arbeiten – aber nachts im Tiergarten schlafen.
Wie also kann eine Lösung aussehen? Die Taskforce soll eigentlich eine langfristige Strategie entwickeln, hat aber bisher nur die "Akutmaßnahmen" beschlossen: Zelte abbauen und Personalien feststellen. Um konkrete Hilfsprojekte soll es in der zweiten Sitzung im November gehen.
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