Kriminelle Großfamilien in Berlin haben die Flüchtlinge für sich entdeckt. Manche rekrutieren sie als Drogendealer oder betreiben überteuerte Notunterkünfte.
Eine Zeit lang kamen sie jeden Tag, sagt Andreas Meyer*, manchmal auch nachts. Junge Männer, Anfang 20, die ihre teuren schwarzen Limousinen in den Seitenstraßen der Berliner Notunterkunft parkten, wo Meyer über ein Jahr lang gearbeitet hat. Junge Flüchtlinge stiegen in die teuren Wagen und übernahmen kleine Mengen Haschisch, Koks oder Heroin. Eine halbe Stunde dauerten diese Treffen in der Regel. Meyer ist sich sicher, dass er gesehen hat, wie Mitglieder von arabischen Clans etwa zehn Flüchtlinge aus seiner Unterkunft, alle zwischen 18 und 20 Jahre alt, als Dealer rekrutiert haben.
Viele der Flüchtlinge, sagt er, wurden selbst abhängig. Einige sieht er manchmal mit ausgemergelten Gesichtern an den Stationen der U-Bahn-Linie 1. Mit den Medien reden möchten die Männer nicht.
Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei Berlin bestätigt den Verdacht. "Mitglieder dieser Familien versuchen direkt vor den Unterkünften Flüchtlinge anzuwerben", sagt er. Die Idee überrascht ihn nicht, sie sei sogar naheliegend. "Die jungen Flüchtlinge haben hier niemanden, der ihnen Halt gibt", sagt Jendro. "Dann sehen sie Gleichaltrige, die einen Audi Q8 fahren, und hören, wie leicht man da dran kommt. Das wollen die auch. Man kann ihnen keinen Vorwurf machen." Zudem fänden sie bei den Familien vermeintlich das, was ihnen hier fehlt: Zuwendung.
Naheliegend ist die Konstellation auch aus Sicht der kriminellen Clanmitglieder: Die Flüchtlinge sind meist noch nicht straffällig geworden. Einige fallen unter das Jugendstrafrecht, harte Strafen haben sie nicht zu erwarten. Da sie nur als Handlanger eingesetzt werden, haben sie keinen Zugang zu den inneren Kreisen der Organisation - und können im Ernstfall nichts Belastendes aussagen. "Für die Clans", sagt Jendro, "besteht kein Risiko."
Längst beschränken sich die kriminellen Großfamilien nicht mehr darauf, Flüchtlinge für den Drogenhandel anzuwerben. Polizisten, Sozialarbeiter und Flüchtlinge selbst berichten, dass sie Flüchtlingen Wohnungen zu überhöhten Preisen anbieten. Mitunter sind die Pensionen, die sie als Unterkünfte betreiben, überbelegt oder die Betreiber kassieren Geld für Menschen, die gar nicht dort leben.
Allein in Berlin lebten etwa zwanzig dieser arabischen Großfamilien, oftmals mit Hunderten Mitgliedern, sagt Jendro. Ermittler vermuten, dass bis zu zwölf Clans in kriminelle Aktivitäten verwickelt sind, wobei natürlich unklar ist, wie viele der Familienmitglieder unbescholten bleiben. Die Delikte, die ihnen angelastet werden, umfassen Einbruch, Raub und Schutzgelderpressung, aber auch illegale Prostitution und den Handel mit Drogen und Waffen.
Die Beamten stoßen dabei auf ein geschlossenes Milieu. "Da sich die Familien untereinander kennen", sagt Benjamin Jendro, "ist es nahezu unmöglich, Ermittler von außen einzuschleusen." Aussteiger machten oftmals spätestens vor Gericht einen Rückzieher. Zu groß sei der Zusammenhalt der Familien, zu hoch der Druck.
Vor allem an die Hintermänner komme man nur, "wenn man die Geldströme kontrolliert." Das könnte bald leichter werden, hofft Jendro. Wenn das neue Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung im Juli in Kraft tritt, müssen die Ermittler nicht mehr beweisen, dass beschlagnahmte Gelder oder Waren aus illegalen Geschäften stammen. Verdächtige müssen dann nachweisen, woher ihre Güter kommen.
Der Migrationsforscher Ralph Ghadban beschreibt in seiner Abhandlung über Clan-Kriminalität, wie sich einige dieser Familien von der Außenwelt abschotten. Er vermutet, dass eine Ursache dafür in ihrer Geschichte begründet ist. Ein Großteil der arabischen Großfamilien, die in Deutschland leben, zählt zu den sogenannten Mhallami, einer Ethnie, die weder eindeutig zu den Arabern, Kurden oder Aramäern gehört. In ihrer Heimat, dem Südosten der Türkei, wurden sie als Menschen zweiter Klasse behandelt. Deshalb flohen viele Mhallamis in den 1940er Jahren in den Libanon. Doch auch dort wurden die meisten nie eingebürgert und konnten nur schwarz arbeiten. Als dann 1975 der Bürgerkrieg ausbrach, machten sich viele gemeinsam mit palästinensischen Familien aus den Flüchtlingscamps auf den Weg nach Deutschland. Die meisten flohen nach Berlin, Bremen und Essen. Mit dabei: das Misstrauen in staatliche Institutionen und das Vertrauen in den engen Zusammenhalt der eigenen Familie.
Vor diesem Hintergrund erscheinen Geschichten von jungen Männern nachvollziehbar, die für ihre Cousins ins Gefängnis gehen, weil es der Familienrat so will. Die ihre Cousinen heiraten, damit die Familie wächst. Die Streitigkeiten unter sich regeln, in Hinterzimmern von Shisha-Bars und Moscheen. Nur: Sind diese Geschichten Einzelfälle oder Standard in den Familien?
Abed Chaaban ist einer der Menschen, die damals aus dem Libanon nach Deutschland flohen, auch er ist Mhallami. Er ärgert sich über die Klischees. "Die Familienmitglieder werden pauschal vorverurteilt", sagt er, "dabei sind die meisten normale, gesetzestreue Bürger".
Chaaban arbeitet im Deutsch-Arabischen Zentrum in Berlin-Neukölln, dem Bezirk, in dem gut die Hälfte der 160.000 arabischstämmigen Menschen der Hauptstadt lebt. Chaaban, 52, kräftige Statur, tiefe, freundliche Stimme, betreut hier jugendliche Straftäter, vermittelt zwischen Familien und Behörden, lotst neuangekommene Flüchtlinge durch den Dschungel der Bürokratie.
Er beklagt, dass eine Erklärung für die kriminellen Strukturen viel zu selten thematisiert würde: die Rolle des deutschen Staates. Als er 1985 nach Berlin kam, erzählt er, steckte man ihn in eine Massenunterkunft. Sprachunterricht konnte er sich nicht leisten, arbeiten durfte er nicht. Er war in Deutschland lange nur geduldet.
So wie Chaaban ging es damals den meisten der eingewanderten Familien: keine Arbeitserlaubnis, keine Schulpflicht für die Kinder, stattdessen Alltagsrassismus und eine als diskriminierend erlebte Bürokratie. Und über allem schwebte die drohende Abschiebung. "Die Familien hatten in der Heimat alles verkauft, die hatten nichts mehr", sagt Chaaban. "Die hatten einfach Angst."
Einige Familienmitglieder wählten die Schwarzarbeit, verdingten sich als Küchenhilfe in italienischen Restaurants oder als Türsteher vor Diskotheken. Andere zog es in die Kriminalität. Aus Mangel an Alternativen, wie Chaaban glaubt.
Auch Arnold Mengelkoch hat die Situation ähnlich erlebt. Der 60-jährige Integrationsbeauftragte von Neukölln arbeitete zuvor 25 Jahre lang im Jugendamt des Bezirks. Hinter seinem Schreibtisch im Rathaus Neukölln steht ein Regal voller Bücher, die sich mit dem Islam befassen. Er ist auch heute noch gut vernetzt, hält Kontakt zu Polizisten, Lehrern und Sozialarbeitern. Mengelkoch weiß, welche Söhne aus schwierigen Familien gerade Abitur machen, und welche auf die schiefe Bahn geraten sind. Er erzählt von jungen Menschen mit einschlägig bekannten Namen, die Ärzte geworden sind, Anwälte, oder sich ehrenamtlich für Flüchtlinge engagieren.
Aber er spricht auch davon, dass man im Viertel bestimmte Familiennamen nur nennen muss, um "Probleme aus dem Weg zu räumen". Er spricht von Clanmitgliedern, die Banken und Schmuckgeschäfte ausgeraubt und von dem Geld Häuser gekauft haben. Die Sozialhilfe bekommen, aber Tausende Euro in den Bau einer Moschee investieren können. Familien, die rechtsstaatliche Strukturen einfach ignorieren – was in der Community sehr genau beobachtet werde und besonders für einige Neuankömmlinge attraktiv sei. "Die Flüchtlinge sehen, da gibt es Leute, die machen, was sie wollen. Das kommt an."
Letztlich – so sieht es Mengelkoch – gibt es für neue Einwanderer immer zwei Wege: den geordneten, der über Schule und Ausbildung in die Gesellschaft führt. Und den illegalen, über den die Migranten zu Geld kommen, und das meist schnell. Das sei in der arabischen Community nicht anders als unter Russen oder Vietnamesen.
Damit sich die Flüchtlinge für den ersten Weg entscheiden, müssten laut Mengelkoch die Möglichkeiten der Partizipation, gute Bildungsabschlüsse und Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt für sie erreichbar erscheinen. Er plädiert auch für mehr arabischsprachige Mitarbeiter auf Ämtern und in Schulen. "Sonst suggerieren wir den Menschen, dass sie hier nicht willkommen sind." Auch Arabisch-Unterricht an Schulen sei wünschenswert.
Mengelkoch erzählt, die arabische Community habe sich durch die neuen Flüchtlinge auch im positiven Sinne weiter professionalisiert, wie er sagt. Viele Flüchtlingsfamilien hätten im Bezirk Konditoreien und Restaurants eröffnet. "Die Menschen kommen ja nicht her, um Unruhe zu stiften", sagt er. "Und wer es schaffen will, der schafft es auch." Die kriminellen Familien, die Flüchtlinge rekrutieren und sich an ihnen bereichern – sie sind nur ein Aspekt eines komplexen Prozesses.