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Zeit für ein neues Menschenbild

Der Historiker und Journalist Rutger Bregman setzt sich in seinem neuen Buch mit dem Wesen des Menschen auseinander. Anders als in der westlichen Denktradition angenommen ist der Mensch seinen Thesen nach nicht böse, sondern im Gegenteil: im Grunde gut. Sarah Kröger hat das Buch gelesen und stellt es vor:

Wer einen Blick auf die tagesaktuellen Nachrichten wirft, kann sich bei diesem Gedanken schnell die Augen reiben. „Dass Menschen von Natur aus egoistisch, panisch und aggressiv sind, ist ein hartnäckiger Mythos“, schreibt der Autor. Doch woher stammt unser düsteres Bild vom Menschen? Einen Grund sieht Bregman in dem sogenannten „Negativitätseffekt“: Negative Ereignisse oder Gefühle bleiben uns stärker im Gedächtnis haften als positive. Viele Medien haben sich das zu Nutze gemacht und beliefern uns gerne mit negativen oder skandalösen Schlagzeilen: Darauf reagieren wir stärker und lesen sie deswegen häufiger. So entsteht schnell das Bild von einer Welt voller Verbrechen und Katastrophen. Dabei würden wir eigentlich in der reichsten, sichersten und gesündesten Ära aller Zeiten leben, argumentiert der Autor.

Erst als die Menschen begannen, sich niederzulassen, fingen die Kriege an, schreibt Bregman und spricht vom „Fluch der Zivilisation“. Meiner Meinung nach idealisiert er den „Naturzustand“ an dieser Stelle etwas zu sehr. Ansonsten ist er aber sehr bemüht, seine Gedanken differenziert darzulegen und aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven zu beleuchten. Er ist nicht überzeugt davon, dass alle Menschen Engel sind: „Wir haben eine gute und eine schlechte Seite, die Frage ist, welche Seite wir stärken wollen.“

Im Buch werden einige bekannte Studien, die das Grausame im Menschen belegen sollen, als manipuliert entlarvt. Das Stanford-Prison-Experiment zum Beispiel, bei dem vor fast 50 Jahren eine Gruppe Studierender in einem fiktiven Gefängnis andere Studierende bewachten. Als das Experiment nach ein paar Tagen eskalierte - einige Wärter zeigten sadistische Verhaltensweisen, manche der Gefangenen erlitten emotionale Zusammenbrüche - wurde es wieder abgebrochen. Die Erklärung, die damals alle erschütterte: Wir sind alle zu furchtbaren Dingen imstande, wenn wir in die passende Situation geraten. Erst viele Jahre später wurden die Original-Tonbandaufnahmen zugänglich, aus denen ersichtlich wurde, dass die Wächter immer wieder dazu angehalten wurden, möglichst gnadenlos zu sein. Einige der Mitwirkenden bezeichneten das Experiment später sogar als „zielgerichtetes Impro-Theater“.

Was wäre, wenn wir vom Guten im Menschen ausgingen?
Das Buch erschien im März 2020, als die Zahl der Corona-Infizierten in Deutschland immer mehr stieg und Menschen zu Panikkäufen motivierte. Doch auch das wäre kein Argument für die egoistische Natur des Menschen, meint Rutger Bregman im Interview mit der deutschen Welle: „Für jeden Panikkäufer gibt es tausend Krankenschwestern und Pfleger, die bis zum Umfallen arbeiten. Für jeden Horter gibt es Tausende, die sich in Facebook- und WhatsApp-Gruppen voller Hilfsbereitschaft in der Nachbarschaft organisieren.“ Bregman ist fest davon überzeugt, dass wir weiterhin an das Gute im Menschen glauben sollten und sogar müssen, wenn wir wollen, dass sich die Gesellschaft zum Besseren verändert. „Was, wenn Schulen und Unternehmen, Ministerien und Regierungen vom Guten im Menschen ausgingen?“, fragt er.






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