Seit einiger Zeit ist die österreichische Politikwissenschaftlerin und Netzaktivistin Natascha Strobl als Rechtsextremismus-Expertin omnipräsent. Aufsehen erregte sie zum Beispiel Anfang 2020, als sie auf Twitter angesichts der kurzzeitigen Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten mit AfD-Stimmen von einem "Zivilisationsbruch" sprach, ein Begriff, der gerade bei Linken bislang für Auschwitz reserviert schien. Nun veröffentlicht die 36-Jährige ein Buch mit dem Titel Radikalisierter Konservatismus, wobei sie paradigmatisch vor allem den österreichischen ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz in den Blick nimmt. Entscheidend sei, dass der von ihr so gelabelte "radikalisierte Konservatismus" laut Strobl "nicht vom Himmel" falle, sondern strategisch die Rhetorik rechtspopulistischer oder wahlweise rechtsextremistischer Parteien übernehme zugunsten eines Kulturkampfes gegen progressive Ideale wie "Feminismus, Antirassismus und LGBTQI*-Sichtbarkeit und so weiter".
Für den österreichischen Fall verweist sie vor allem auf die sogenannte Identitäre Bewegung, die sich als neurechter Katalysator in Wien um 2012 formierte und deren Strategien Strobl von Anfang an beobachtet hat. Freilich besteht Strobls These von einem durch die Identitären angestoßenen hegemonialen Rechtsruck den Realitätstest kaum: Die Identitäre Bewegung konnte in den vergangenen Jahren bei ihren "Großdemonstrationen" nur mit Mühe etwa 300 Rechtsextreme auf die Straßen Wiens locken. Aufgrund dieser chronischen Erfolglosigkeit versuchte sie sich ab 2020 als Bürgerbewegung unter dem Namen "Die Österreicher" und scheiterte erneut grandios: Die Bürger blieben weg, dafür verbot die türkis-grüne Regierung ihre Märsche, momentan ist die Szene in Auflösung.
Dennoch sieht Strobl ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz als Inbegriff des "radikalisierten Konservatismus". Er habe sukzessive die Rhetorik der Identitären Bewegung übernommen, was ein Novum für Österreich darstelle. Eine Zäsur würden zudem die Jahre 2015 und 2016 mit den Fluchtbewegungen markieren: In Europa setzte die rassistische Mobilisierung ein; das Brexit-Referendum und der Wahlsieg Donald Trumps waren laut Strobl die Folge. Nun kann man gegen Kurz gewiss alles Mögliche völlig zu Recht vorbringen, allerdings bleibt die Autorin eine Antwort auf die Frage schuldig, warum eine Partei, die immerhin fast 40 Prozent der Wählerstimmen in Österreich auf sich vereint, die Rhetorik einer gescheiterten neurechten Randerscheinung übernehmen sollte. Das Problem liegt hier weniger in Strobls zutreffender Diagnose, dass autoritäres und rechtes Gedankengut auch in der im Übrigen gern angeklagten "Mehrheitsgesellschaft" anzutreffen sei, sondern im politischen Kalkül der Autorin: In die Kategorie "rechts" gehört bei ihr auch eine bürgerlich-konservative Weltanschauung, die keine Gemeinsamkeiten mit völkischer Gesinnung aufweist.
Zwar stellt Strobl fest, dass sich die konservativen Parteien in Westeuropa in einem Wandlungsprozess befinden. Aber wenn sie darin eine Radikalisierung erkennt statt eine Enttraditionalisierung, dann unterschlägt sie komplett die weitreichende Öffnung für linksliberale Werte im konservativen Milieu in den vergangenen Jahren; die Kanzlerschaft Angela Merkels steht dafür ebenso wie die Kandidatur Armin Laschets oder die vor Kurzem ja noch undenkbare Koalition der ÖVP mit den Grünen in Österreich.
Ebenso einseitig und diffus fallen auch ihre historischen Herleitungen aus. Die gravierenden Unterschiede zwischen Konservatismus und Deutschnationalismus/Deutschliberalismus in Österreich werden bei ihr eingeebnet. Und Strobl bemüht selbst den Vergleich zwischen der Weimarer Republik und dem heutigen Österreich, in dem die konservative mit den linksliberalen Grünen in der Regierung sitzt und von Straßenkämpfen oder einer revolutionären Arbeiterbewegung nichts zu sehen ist. Ersichtlich geht es der Aktivistin Strobl um die Aufmunitionierung ihres politischen Waffenarsenals. Dafür übernimmt sie die vom rechten Ideologen Armin Mohler nach 1945 konstruierte Fiktion der "konservativen Revolution" - aber nicht um sie zu dekonstruieren, wie auch unter linken Ideenhistorikern üblich, sondern um sie als Beweis einer Analogie für die Gegenwart ins Feld zu führen. "Konservative Revolution" und "radikalisierter Konservatismus" klingen irgendwie ähnlich, und genau das soll hängen bleiben.
Strobls Analyse steht exemplarisch für ein spezielles linksliberales Unverständnis angesichts des Wandels im konservativen und rechten Parteienspektrum mit dessen Wahlerfolgen. Denn hinter diesem Prozess stehen weniger finstere Strategien oder Weltanschauungen, sondern vielmehr die von Soziologen oft analysierten materiellen und kulturellen Statusverluste in den allenfalls in der Lohnkonkurrenz globalisierten jeweiligen Mehrheitsgesellschaften - was Strobl als eigentliche gesellschaftstheoretische Herausforderung ignoriert. Wenn sie sich hingegen im letzten Kapitel als Reaktion eine schillernde "Mosaik"-Linke wünscht, für die es sich zu kämpfen lohne, offenbart sie ein viel diskutiertes Problem. Denn wenn die Linke auf diese Weise partikulare Identitäten feiert, gibt sie ihren Begriff von Universalismus zugunsten jener symbolfixierten Anerkennungspolitik preis, die die kritische linke Theoretikerin Nancy Fraser "progressiven Neoliberalismus" genannt hat. Die beachtliche mediale Karriere und Resonanz Natascha Strobls jedenfalls verdient dabei als Symptom durchaus Beachtung.
Natascha Strobl: "Radikalisierter Konservatismus". Suhrkamp Verlag, Berlin 2021; 192 S., 16,- €, als E-Book 15,99 €