Der Bus der Linie 2A ist voll mit Menschen. Gut 50 Fahrgäste fahren vom Stadtrand in Richtung Innenstadt, sie sind auf dem Weg in die Arbeit, in die Schule oder zur Universität. Sie schauen, wie üblich, auf ihr Smartphone oder aus dem Fenster. Es ist 8.45 Uhr und immer noch recht düster. Ein typischer Dienstagmorgen in Aarhus, Dänemarks zweitgrößter Stadt.
Doch nicht ganz: Blickt man sich um, ist von fast allen Leuten der noch müde und leicht abwesende Gesichtsausdruck zu erkennen. Das ist ungewohnt. Seit Anfang Februar gibt es in Dänemark keine Maskenpflicht mehr. Zwar sind vereinzelt trotzdem noch Menschen mit blauer OP-Maske oder Stoffmaske zu sehen, doch diese sind eindeutig in der Minderheit. "Es fühlt sich zwar ein bisschen komisch an, plötzlich ohne Maske zu sein, aber ich mache es jetzt auch einfach so. Es wäre seltsam, der Einzige mit Maske zu sein", sagt ein 30-jähriger Mann, der gerade auf dem Weg zu seiner Arbeit ist. Er verweist auf seine Impfungen, sie gäben ihm Sicherheit. Von den totalen Öffnungsschritten ist er aber trotzdem noch nicht ganz überzeugt.
Auf einer Pressekonferenz am 26. Jänner hatte Ministerpräsidentin Mette Frederiksen von der sozialdemokratischen Partei verkündet, dass mit 1. Februar so gut wie alle Corona-Regeln aufgehoben werden. Denn Corona sei "keine gesellschaftskritische Krankheit" mehr, hieß es von der Politikerin. Dahinter stehen auch Expertinnen und Experten sowie beratende Professoren wie Michael Bang Petersen, der die größte Studie zum Pandemie-Verhalten in Dänemark leitet. Trotzdem sprachen sich vereinzelt Professoren für einen etwas langsameren Übergang zur Normalität aus, beispielsweise einer Übergangsphase mit Maskenpflicht.
Doch das skandinavische Land setzt alles auf eine Karte: Am Dienstag ist in Dänemark nicht nur die Maskenpflicht gefallen, auch der Grüne Pass muss nicht mehr gezeigt werden und die Nachtgastronomie kehrt aus ihrem kurzen Winterschlaf zurück. Außerdem gibt es keine Beschränkungen mehr für Großveranstaltungen, zum Beispiel Konzerte oder Sportveranstaltungen. All das war in Dänemark seit Mitte Dezember aufgrund der stark ansteigenden Infektionszahlen wieder streng geregelt, Nachtlokale mussten um 23 Uhr schließen und kulturelle Einrichtungen blieben komplett geschlossen.
Doppelt so viele Infizierte wie Österreich
Jetzt gibt es nur noch für Spitäler und Altersheime die Empfehlung, Schutzmasken und den Corona-Pass weiterhin einzusetzen. Zusätzlich bleiben vorerst Einreiseregeln nach Dänemark bestehen, die vom Impfstatus der Einreisenden abhängig sind.
Und all das, obwohl Dänemark Rekorde an Infektionszahlen verzeichnet hat. Pro Kopf weist das 5,8-Millionen-Einwohner-Land doppelt so viele Corona-Fälle auf wie Österreich, am Freitag lagen 1.116 Covid-Infizierte im Spital. Womit die dänische Regierung ihre Entscheidung aber argumentierte, ist die hohe Anzahl der Geimpften. Derzeit liegt die Impfquote bei 81 Prozent der Gesamtbevölkerung, die Booster-Impfung haben bereits knapp über 60 Prozent bekommen.
Während viele internationale Medien am Dienstag nach Dänemark blickten, war die Stimmung im Land selbst eher unaufgeregt. In Aarhus, das an der Ostküste Dänemarks liegt und ungefähr 330.000 Einwohner zählt, gab es keine besondere Aufbruch- oder Partystimmung. Ein Tag wie jeder andere.
Im Stadtzentrum von Aarhus öffnen die Geschäfte unter der Woche um 10 Uhr. Kurz davor gab es am Dienstagmorgen in so gut wie allen Shops - egal ob im kleinen Weingeschäft, in der Bäckerei im Einkaufszentrum oder in der Bank - die gleiche Amtshandlung: Die Zettel mit der Aufschrift "Brug mundbind", das übersetzt "Verwende deine Schutzmaske" heißt, wurden abgenommen und landeten im Müll. Genau wie die Verweise darauf, dass sich gleichzeitig nur zehn Leute im Innenraum einer kleinen Weinbar aufhalten dürfen.
Wie sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit fühlen, wirkt recht einheitlich: Ein Großteil der Leute akzeptiert die Öffnungen und fühlt sich sicher damit. "Ich fühle mich gut. Natürlich ist es etwas ungewöhnlich. Aber ich habe drei Impfungen, und das entspannt mich", sagt eine 20-jährige Dänin, die in einem kleinen Shop in der Innenstadt arbeitet.
Auch die Chefin des Kaffeehauses "Emmerys" in der Innenstadt sieht das ähnlich: "Ich fühle mich wohl damit", sagt sie unaufgeregt und mit leichtem Schulterzucken. Aktuell seien zwei Mitarbeiterinnen ihres Teams infiziert, aber beide hätten nur leichte Symptome. "Ich habe keine Angst, meine Freunde und Familie sehen das auch so. Denn die meisten haben schon drei Impfungen, und alle, die ich kenne, haben mit milden Symptomen zu kämpfen." Von Angst oder Ungewissheit ist in den Gesprächen wenig zu spüren.
Wer sich jedoch unter den internationalen Bewohnern in Aarhus umhört - das sind großteils Studierende, die aus aller Welt nach Dänemark kommen -, bemerkt, dass die Stimmung angespannter ist. Viele sind der Meinung, dass die Maskenpflicht noch länger bleiben sollte, zumindest in den öffentlichen Verkehrsmitteln. "Meiner Meinung nach sollte Dänemark mit einer schrittweisen Aufhebung der Beschränkungen beginnen. Mir geht das alles etwas zu schnell", erzählt ein 31-jähriger Student aus Kuba, der in Aarhus lebt. "Zumindest in Lebensmittelgeschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln sollten Masken beibehalten werden, um ältere Menschen zu schützen", meint eine kanadische Studentin.
Das andere Pandemiegefühl
Aber wieso fühlen sich die Däninnen und Dänen in Zeiten der Pandemie sicherer als die Menschen in Österreich oder Deutschland? Ein Grund dafür dürfte das große Vertrauen der Bevölkerung der Politik und ihren Entscheidungen gegenüber sein. Das zeigen die Ergebnisse der HOPE-Studie (How Democracies Cope with Covid-19), die im großen Stil das Pandemieverhalten der dänischen Bevölkerung beforscht. Über 60 Prozent der Bevölkerung würden demnach die Abschaffung aller Regelungen unterstützen, eine Minderheit von 28 Prozent sei beunruhigt. Neben der hohen Durchimpfungsrate spielt auch die offene, unaufgeregte und ehrliche Kommunikation der Regierung eine wichtige Rolle. Während etwa der ehemalige ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz Mitte Juli vom "Ende der Pandemie für Geimpfte" sprach, verweist Ministerpräsidentin Frederiksen jetzt explizit darauf, dass sie nicht voraussagen könne, was im Herbst passieren werde.
Michael Bang Petersen, der Leiter der HOPE-Studie und Berater der Regierung, erläuterte unlängst auf Twitter, dass fortlaufende Beschränkungen auch ihre Kosten hätten - sowohl in Bezug auf die wirtschaftliche Lage eines Landes, die mentale Gesundheit der Bevölkerung als auch in Bezug auf die demokratischen Rechte. Auch er argumentierte, dass es Dänemark aufgrund der hohen Durchimpfung wagen könne, aufzusperren.
Keine Quarantänepflicht
Ein Beleg für das hohe Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zeigt sich auch bei den Quarantäneregeln: Die Dauer der Quarantäne bei einer Infektion wurde auf vier Tage verkürzt und sie kann bei milden oder keinen Symptomen ohne erneutem Test einfach beendet werden. Bei stärkeren Symptomen wie Fieber oder anhaltendem Husten lautet die Empfehlung, ebenso mindestens vier Tage in Quarantäne zu bleiben, allerdings besser so lange, bis die Symptome nur mehr mild oder gänzlich weg sind. Als Begründung für die Verkürzung wird angeführt, dass so die Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur gegeben sei.
All dies sind aber keine verpflichtenden Regeln, sondern lediglich Empfehlungen für die dänische Bevölkerung, wie das dänische Gesundheitsamt der "Wiener Zeitung" bestätigt. Dies würde aber aufgrund des hohen Vertrauens der Bevölkerung in die Politik und das Gesundheitsamt vom Großteil der Bevölkerung respektiert werden.
Trotz totaler Öffnung und Abschaffung aller Restriktionen innerhalb eines Tages ist man in Dänemark nicht illusorisch, wie Ministerpräsidentin Frederiksen in der dänischen Radiosendung P3 am Dienstag mit Ausblick auf den Herbst klar machte: Sie wage es nicht zu sagen, dass es "ein endgültiger Abschied von den Beschränkungen ist". Man wisse nicht, ob es mit Herbst wieder eine neue Corona-Variante geben werde, so Frederiksen.
Derweil ist die Stimmung im Land jedenfalls hoffnungsvoll gegenüber den Öffnungsschritten. Was vorerst noch bleibt, sind vereinzelte Masken im Stadtbild, Desinfektionsspender und Empfehlungen, sich zu impfen und Symptome ernst zu nehmen und sich gegebenenfalls testen zu lassen.
Als es in Aarhus Abend wird, zeigt sich dann doch, dass es kein Tag wie jeder andere ist. Obwohl Dänemark an einem Dienstag all seine Regelungen fallen ließ, ließen es sich viele junge Menschen nicht nehmen, auf die erste Partynacht anzustoßen. Nachtclubs und Bars warben mit Sonderangeboten und "Re-Opening-Partys", viele laden zu großen Feiern für das Wochenende ein, um die Wiedereröffnungen gebührend zu begehen.
Gegen 22 Uhr finden sich auch die ersten Partygäste in und vor den Bars und Clubs entlang des Kanals ein, der typischen Ausgehstraße "Åboulevarden". Von drinnen schallen Songs wie "Dancing Queen" auf die Straße, vor dem Club stehen Freundesgruppen, man teilt sich Drinks und Zigaretten. Vom Abstand halten ist hier keine Rede mehr, es wird ausgelassen gefeiert und getanzt.
So geht der erste Tag mit der zurückgewonnenen Normalität wie vor der Pandemie zu Ende. Allerdings hat das die dänische Bevölkerung bereits am 10. September des Vorjahres bereits einmal durchlebt, als alle Beschränkungen aufgehoben wurden, ehe es im November und Dezember doch noch einmal Verschärfungen aufgrund der Infektionszahlen gab. Wie lange es also diesmal so bleiben wird?
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