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Kein Krieg, sondern spezielle Militäroperation: Wie Neusprech in Russland seit Jahren funktioniert

Seit vier Monaten dauert der Krieg in der Ukraine. Der Krieg, der in Russland als Krieg nicht bezeichnet werden darf, sondern als Militäroperation. So ein Jonglieren mit Worten hat aber eine längere Geschichte.

Ende Februar startete der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Laut Wladimir Putin findet dort aber überhaupt kein Krieg statt, sondern eine "militärische Spezialoperation". Es ist nicht das erste Mal, dass russische Machthaber im Krieg eine verharmlosende Sprache benutzen. Im Gegenteil: Die Geschichte kennt viele Beispiele dafür.

Die politische Kommunikation in Russland erinnert immer öfter an George Orwells "1984". In dem Roman nutzen die totalitären Machthaber "Neusprech" – eine Art der Sprache, die aus politischen Motiven künstlich verdreht wird. 

"Krieg bedeutet Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke", 

heißt es in dem Buch. Im heutigen Russland ist es noch nicht so weit gekommen. Aber: Krieg ist kein Krieg mehr, sondern eben eine militärischen Spezialoperation. Wer sich nicht daran hält, muss Konsequenzen fürchten: Im März verabschiedete das russische Parlament ein Gesetz, das bei der Veröffentlichung von "wissentlich falschen Informationen" in Bezug auf den Militäreinsatz bis zu 15 Jahre Haft vorsieht. Und den Medien ist es untersagt, von einer Invasion oder einem Krieg zu berichten.

Sowjetisch-finnischer Krieg 1939-1940: Kein Krieg, sondern Geländemarsch

Ein Blick zurück in den November 1939 bietet erstaunlich viele Parallelen zur heutigen Situation. Damals überfiel die Sowjetunion das benachbarte Finnland und begann damit den so genannten "Winterkrieg". Begründet wurde dies mit dem angeblich notwendigen Schutz der Stadt Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, die nahe der finnischen Grenze liegt. Die militärische Annahme war, dass man innerhalb weniger Tage in Helsinki sei. Das finnische Volk würde die Befreiung vom "unterdrückerischen Kapitalismus" mehrheitlich begrüßen und wenig Widerstand leisten – so meinte man in Moskau.

"Die Sowjetische Union befindet sich nicht in einem Kriegszustand mit Finnland", schrieb Außenminister Wjatscheslaw Molotow am 4. Dezember 1939 an den Völkerbund. Das sowjetische Verteidigungsministerium berichtete von "bewaffneten Auseinandersetzungen" und in den Medien kursierte der Begriff "Geländemarsch".

Die sowjetische Begründung des Einmarsches ähnelt verblüffend der heutigen Kreml- Propaganda rund um den überfall auf die Ukraine. "Die finnischen regierenden Kreise ermutigen immer wieder antisowjetische Propaganda", hieß es im November 1939 in der Zeitung "Prawda", dem Zentralorgan der kommunistischen Partei. "In der Armee, in den

Medien, überall wird der Hass gegen 'Moskali' (ein ukrainischer Schmähbegriff für 'Russen', d. Red.) vorangetrieben. All diese Jahre hat sich Finnland nach Westen orientiert, in der ersten Reihe an den Staaten, die der Sowjetunion gegenüber feindselig waren". Heute gibt der Kreml unter anderem angebliche faschistische Tendenzen in der Ukraine als Gründe für die "Spezialoperation" an.

Dazu kamen 1939 Spekulationen, dass Finnland seine Grenzen "bis zum Ural" erweitern wolle und dass es Chemiewaffenfabriken bauen würde. "Die westlichen Imperialisten" benutzten das Land als Instrument ihrer Politik, dabei habe die Sowjetunion Finnland nie bedroht oder seine Unabhängigkeit in Frage stellte. Ersetzt man hier Sowjetunion und Finnland durch Russland und Ukraine – niemand würde den Unterschied bemerken.

Im "Winterkrieg" steckte die sowjetische Armee bereits nach wenigen Tagen an der von den Finnen stark befestigten "Mannerheim-Linie" fest. Erst im Februar 1940 gelang der Roten Armee ein Durchbruch, woraufhin sich Finnland zu einem Friedensschluss am 13. März gezwungen sah. Doch am Ende hatte die Rote Armee wohl mehr als 120.000 Tote zu verzeichnen – gegenüber 26.000 gefallenen Finnen.

Bis heute wird in Russland über diesen Krieg kaum gesprochen. In ganz Moskau gibt es nur ein Denkmal für die gefallenen Soldaten, dass man aber ohne Vorkenntnisse nicht findet.

Sowjetischer Einmarsch in Afghanistan: Kein Krieg, sondern internationale Hilfe für Brudervolk

Der nächste Krieg, der keiner sein durfte, begann im Dezember 1979: Damals marschierten sowjetische Militäreinheiten in Afghanistan ein. Gleichzeitig landeten Fallschirmspringer nahe der Hauptstadt Kabul. Mit dieser Invasion begann ein grausamer Krieg, der Zehntausende Menschenleben forderte, und später komplett aus dem kollektiven sowjetischen Gedächtnis gestrichen wurde.

Moskau berief sich auf einen im Jahr 1978 unterzeichneten Freundschaftsvertrag beider Seiten: Im Rahmen dieses Vertrages bat der von den Sowjets eingesetzte Regierungschef Babrak Karmal die Sowjetunion um "brüderliche Hilfe". Mit ähnlichen Worten begrüßten heute auch die prorussischen Separatistenführer Denis Puschilin und Leonid Passetschnik einen Einmarsch in der Ukraine.

1979 war das Wort "Krieg" im Zusammenhang mit Afghanistan tabu. Vielmehr war die Rede von "internationaler Hilfe für das befreundete afghanische Volk". Die sowjetischen Soldaten, die als "internationalistische Krieger" bezeichnet wurden, kämpften gegen die muslimischen Mudschaheddin. Dadurch sollte die Invasion legitimiert und die internationale Staatengemeinschaft zum Stillschweigen gebracht werden. KPdSU- Generalsekretär Leonid Breschnew glaubte, in sechs Monaten Ordnung schaffen zu können. Moskau wollte ein sowjettreues Regime einsetzen und sich dann wieder zurückziehen.

Doch das Geschehene wurde von den Vereinten Nationen als "Aggression" auf Schärfste verurteilt, die Sowjetunion wurde als "Angreifer" international isoliert. Zu den Sanktionen gehörte ein weitreichender Boykott der Olympischen Spiele in Moskau 1980.

Trotz der immensen Truppenstärke gelang es den Sowjets in Afghanistan nicht, die Rebellen zu besiegen. Die Zahl der gefallenen Soldaten stieg aber immer schneller. Da es offiziell keinen Krieg gab, wurden sie heimlich in zugeschweißten Zinksärgen nach Hause gebracht – die Leute nannten sie "Zinkjungen". So heißt auch das Buch der späteren Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, das bereits zum Ende dieses "unsichtbaren Krieges" 1989 veröffentlicht wurde. "Der Krieg in Afghanistan dauerte doppelt so lange wie der Zweite Weltkrieg, aber wir wissen darüber nur so viel, wie man uns wissen lassen wollte, damit wir nicht erschrecken“, schrieb sie im Vorwort. Dieses Wort – Zinkjungen – stehe exemplarisch für die Verschleierungspraxis der Sowjetunion, die alles dafür getan habe, die brutale Realität des zehnjährigen Krieges geheim zu halten.

Erster Tschetschenienkrieg: Kein Krieg, sondern Operation zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung

Ende 1991 stürzte eine tschetschenische Nationalbewegung um den ehemaligen sowjetischen General Dschochar Dudajew die kommunistische Parteiführung und rief eine unabhängige Republik "Itschkerien" aus. Diesen selbsterklärten Staat erkannten die sowjetische Führung und später die Regierung der Russischen Föderation nicht an.

Am 9. Dezember des Jahres erließ Präsident Boris Jelzin ein Dekret über die "Entwaffnung illegaler Formationen und die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung" in Tschetschenien. Am 11. Dezember rollten die ersten russischen Panzer nach
Tschetschenien. Damit begann der Erste Tschetschenienkrieg, der fast zwei Jahre dauerte und fast 100.000 Zivilisten das Leben kostete.

In den Krieg wurden größtenteils junge, kaum ausgebildete Wehrpflichtige geschickt - in den tschetschenischen "Fleischwolf", wie er damals umgangssprachlich genannt wurde. Doch das Wort "Krieg" benutzten die russische Führung und auch viele Medien weniger gern. Stattdessen war die Rede von der "Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung" oder von einer "Antiterror-Operation".

Der Erste Tschetschenienkrieg endete nach fast zwei Jahren am 31. August 1996 mit dem Friedensschluss von Chassawjurt. Bis jetzt bleibt er neben dem
Zweiten Tschetschenienkrieg eine der dunkelsten Seiten der Geschichte des modernen Russlands, über die nicht viel geredet wird und auch nicht geredet werden darf.

Ob Finnland, Afghanistan, Tschetschenien oder nun die Ukraine: In jedem dieser Fälle vermied die Führung in Moskau das Wort "Krieg". Die "militärische Spezialoperation" ist also keine Erfindung des Jahres 2022, sie geh*rt bereits lange zum Arsenal der russischen Militärstrategie.