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Vor Gericht in Kasachstan


Für ein Jahr zieht es Jonas Lichterfeld nach Zentralasien. Eine fremde Welt, die ihn berührt, aber auch schockiert.


Von Sabrina Winter


Jonas steht in der Mitte eines Gerichtssaals, den Blick zum Boden. Es sieht nicht gut aus für ihn. Jonas versteht nicht alles, was der Richter sagt, aber die Gesten sprechen für sich: Er scheint wütend zu sein. Von der Seite grinst der Staatsanwalt, und der Pflichtverteidiger schlägt die Augen nieder. Die Dolmetscherin, die er engagiert hat, darf vor Gericht nichts sagen. Die Situation scheint aussichtslos. Das Schlimmste daran: Morgen geht Jonas' Flieger nach Deutschland. Aber den sieht er schon ohne sich abheben.

Mittlerweile ist Jonas Lichterfeld zurück in Görlitz. Nach seinem Auslandsjahr in Kasachstan wird er in Chemnitz studieren. Foto: Nikolai Schmidt © nikolaischmidt.de

Während andere nach der Schulzeit ein Auslandsjahr in den USA oder Australien machen, ging Jonas Lichterfeld nach Kasachstan. In seinem freiwilligen Auslandsjahr arbeitete er dort als Lehrer, hat die offene Mentalität der Kasachen erlebt, auf der anderen Seite aber auch Armut und Korruption. Ganz zum Schluss seines Aufenthaltes stand er sogar vor Gericht. Dabei hat Jonas nichts Schlimmes getan.

Der Grund: Der 19-Jährige ist von Kasachstan nach Kirgisien gereist und wieder zurück. Dabei hat er ordnungsgemäß die Grenze überquert, seinen Pass vorgezeigt und einen Stempel bekommen. Das Problem: Nach der Einreise muss man sich noch einmal bei der Migrationsbehörde registrieren. Das wusste Jonas nicht. „Eigentlich erlaubt mir mein Visum, so oft ein- und auszureisen, wie ich möchte." Ein kleines Vergehen, das zum großen Problem wurde. Im Gerichtssaal hieß es dann nämlich: Geld- oder Haftstrafe? Laut kasachischem Gesetz darf sich der Angeklagte zwischen einer Geldstrafe von 80 Euro oder 15 Tagen Arrest entscheiden. Der Staatsanwalt hielt drei Tage Haft für angemessen. Der Richter schimpfte weiter, erbarmte sich aber schließlich zu einer Geldstrafe von 150 Euro - fast das Doppelte. Aber wenigstens hat Jonas seinen Flug bekommen.

Nun ist er seit Kurzem wieder zurück in Görlitz. „Ich wollte vor allem Russisch lernen", erklärt der 19-Jährige, warum er für sein Auslandsjahr nach Kasachstan gegangen ist, und eben nicht in die USA. „Für ein Visum in Russland hätte ich mehrmals ein- und ausreisen müssen. Das wäre teuer und aufwendig gewesen. Darum habe ich mich für Kasachstan entschieden." Elf Monate hat er in der Stadt Ust-Kamenogorsk verbracht, im Nordosten des Landes. Gemeinsam mit einer anderen Freiwilligen lebte er in einer kleinen Wohngemeinschaft: zwei Zimmer, Bad, Küche, gestellt von der Organisation „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners". Der Verein fördert Initiativen, die auf Grundlage der Waldorf-Pädagogik arbeiten. Nur ist die in Kasachstan von staatlicher Seite nicht erwünscht. „Im Grunde habe ich an einer ganz normalen Schule Deutsch unterrichtet", sagt Jonas. Nicht nur dort spürt man die harte Hand des Staates. Kasachstan hat zwar eine demokratische Verfassung, faktisch aber ist die Regierung stark vom Willen des Präsidenten abhängig. Das wird schon deutlich, wenn man durch die Straßen läuft. Viele Plätze und Parks sind nach Präsident Nursultan Nasarbajew benannt. „Er ist einfach omnipräsent", erzählt Jonas.

Auch Korruption gehöre zum Alltag. Zu schnell fahren kostet 25 Euro. Überfährt man jemanden, kann man das angeblich mit 10 000 Euro vertuschen. Das haben Jonas zumindest die einheimischen Kasachen erzählt. „Wir waren mal in einer Bar, und ein Freund von mir hatte zu viel getrunken", erzählt Jonas. „Als die Polizei kam, wollten die Beamten 200 kasachische Tenge dafür, dass sie ihn nicht mit auf die Wache nehmen. Umgerechnet war das etwa ein Euro, den ich dann bezahlt habe."

Ungewöhnlich, befremdlich für europäische Verhältnisse, wirkt auch das Frauenbild in Kasachstan. „Man sollte Frauen nicht die Hand geben", sagt Jonas. Eine der Erklärungen dafür: Die Frau könnte verheiratet sein und niemand darf die Frau eines anderen Mannes berühren. „Da man nie weiß, welche Frau vergeben ist, gibt man einfach keiner die Hand." Auch die Aufgaben im Haushalt sind klar verteilt. Als eine Bekannte erfahren hat, dass Jonas' Mitbewohnerin einen Monat lang verreist ist, fragte sie empört: „Wer putzt, kocht und wäscht deine Wäsche?" Daraufhin, so erzäählt Jonas, zog sie bei ihm ein und schmiss seinen Haushalt. Der 19-Jährige erinnert sich: „Für sie war das ganz normal. Sie war der festen Überzeugung, dass ich als Mann diese Dinge nicht kann. Nach drei Tagen war mir das Ganze so peinlich, dass ich sie gebeten habe, zu gehen."

Als Jonas vor über einem Jahr seinen Verwandten und Freunden erzählt hat, dass er nach Kasachstan gehen möchte, reagierten die meisten schockiert. „Viele wissen mit dem Land nichts anzufangen. Einige haben es mit Afghanistan verwechselt", sagt Jonas. Er selbst war überrascht von der Modernität, die das Land auf der anderen Seite zu bieten hat. „Man bekommt eigentlich alles, was man braucht." Und trotzdem ist Armut in Kasachstan allgegenwärtig. Jonas hat Miniwohnungen von Familien in riesigen Häuserblöcken gesehen. „Dusche und Bad waren auf dem Gang. Die haben sich zwanzig Familien geteilt", berichtet er. „Als ich das sah, war ich sehr dankbar für die Umstände, in denen ich lebe."

Trotz Armut und Korruption mag Jonas die Mentalität der Kasachen und hat Freundschaften fürs Leben geschlossen. In einem Diskussionsclub in der Bibliothek lernte er Studenten kennen. An heißen Sommerwochenenden sind sie oft gemeinsam zu einem Stausee außerhalb der Stadt gefahren. „Es war beeindruckend, dass alle so freundlich zu mir waren. In Deutschland sind die Leute zurückhaltender", sagt Jonas. Bis Oktober hat er noch frei. Dann beginnt er in Chemnitz Europastudien zu studieren, mit Schwerpunkt auf Osteuropa. Was er damit machen will, weiß er noch nicht so recht. „Mir stehen damit viele Türen offen."

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