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44/2014 - Wenn zu Hause gar nichts in Ordnung ist - Furche.at

Wenn zu Hause gar nichts in Ordnung ist

Rund 30.000 österreichiche „Messies" sind unfähig, ihre Wohnung sauber zu halten. Am meisten leiden die Angehörigen, weiß unsere Autorin – auch aus eigener Erfahrung. Als meine Großmutter beerdigt wurde, schrieb ich die Grabrede. Ein Mann vom Beerdigungsinstitut las sie wörtlich vor, lediglich einen Satz dichtete er dazu: „Die Verstorbene war sehr ordnungsliebend." Ich musste mich zusammennehmen, um in diesem Moment der Trauer nicht in Gelächter auszubrechen. Wochenlang waren meine Familie und ich ständig von Wien nach Innsbruck gependelt, um die Wohnung unserer Mutter, Schwieger- und Großmutter zu leeren. Um persönliche Erinnerungsstücke von dem zu trennen, was sie im Laufe der Jahrzehnte sonst noch angehäuft hatte. Berge an Dingen, die sie vermutlich nicht einmal in einem zweiten Leben hätte brauchen können. Unmengen von leeren Gläsern, Joghurtbechern, Papier, Hausrat, Kleidung. In beinahe jeder Schublade fanden wir zarte Plastiksackerln aus dem Supermarkt, fein säuberlich durch leere Klopapierrollen gezogen. „Das darf ja nicht wahr sein!", entfuhr es meinem Vater immer wieder. Nach und nach räumten wir jeden einzelnen der hundert Quadratmeter leer. Hilfeschrei der Seele Meine Großmutter litt zu Lebzeiten an etwas, das heute das „Messie-Syndrom" genannt wird: An der Unfähigkeit, die eigene Wohnung ordentlich zu halten. Etwa 30.000 Menschen dürften in Österreich vom Messie-Syndrom betroffen sein. Diese Zahl orientiert sich allerdings daran, dass man in Deutschland von 300.000 Betroffenen ausgeht, bemerkt Nassim Agdari-Moghadam, Psychotherapeutin und -analytikerin in Wien. US-Forscher schätzen, dass es sich um vier Prozent der Gesamtbevölkerung handelt, also um das Zehnfache. Mit etwas Abstand betrachtet, hatte der Grabredner mit seiner Aussage vermutlich nicht einmal unrecht: Ordnungsliebend war meine Oma. Sie war praktisch ständig am „Räumen", hortete alles fein säuberlich. Meine Mutter erzählt oft vom schwierigen Leben einer Frau, die während des Krieges aufwuchs. Geprägt davon, nichts zu haben. Aus Platzgründen musste ihre Mutter immer wieder die wenigen Spielsachen weggeben. Dazu kamen schwerwiegende Verluste: Der Tod des Bruders im Krieg, später die Scheidung. Erklärt das, weshalb sich meine Oma so schwer von Dingen trennen konnte? Grundsätzlich sei es nicht einfach, psychische Beeinträchtigungen oder Störungen ursächlich zu ergründen, sagt Agdari-Moghadam. Aber auch: „Als Psychoanalytikerin kann ich psychische Schwierigkeiten nur als Möglichkeiten der Seele, mit unterschiedlichen Situationen und Anforderungen im Leben umzugehen, verstehen. Es ist anzunehmen, dass frühe Verluste in der Kindheit und andere traumatische Erlebnisse einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit haben." Um die sehr subjektiven und persönlichen Ursachen und Gründe zu verstehen, brauche es die Psychotherapie. Nach heutigem Forschungsstand bestehe außerdem eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Messies auch an anderen psychischen Störungen leiden, vor allem im Bereich der Depression. Leidensdruck der Angehörigen Neben den Erkrankten selbst sind häufig auch Angehörige und Freunde betroffen. Matthias, der eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben möchte, wuchs in einer Messie-Wohnung auf. Wenngleich seine Mutter das Problem bis heute leugnet, hat er es aus nächster Nähe erlebt. Zu Matthias' Kindheitserinnerungen zählen halb leer gekaufte Flohmarkttische und Wochenenden am Müllplatz, an denen er dem Stiefvater half, zuvor Angeschlepptes wieder loszuwerden. Freunde durfte Matthias nie mit nach Hause bringen. Brauchte er sauberes Gewand, musste er es aus dem Wäscheberg heraussuchen. Rückzug fand er nur in seiner „Höhle", einem Zimmer, das sein Stiefvater für ihn abtrennte, und wo die Welt für ihn in Ordnung war. Heute ist Matthias Mitte dreißig, längst ausgezogen, führt sein eigenes Leben. Er sagt, er trenne sich sehr leicht von Dingen. Vermutlich, weil er erlebt hat, was das Horten aus Menschen machen kann. Klinisch sauber sei es bei ihm aber auch nicht, lacht er. Seine Mutter lebt alleine in ihrem großen Haus. Weil alle anderen Zimmer vollgeräumt sind, schläft sie im Wohnzimmer. Besuche der Familie sind selten geworden, der Stiefvater ist gegangen, andere soziale Kontakte gibt es kaum noch. Wie Matthias und seine Geschwister ihrer Mutter helfen können, wissen sie nicht. „Reden, Reden, Reden! Und sich über therapeutische Angebote informieren", rät Agdari-Moghadam. Eine Reihe von Angeboten – Selbsthilfegruppen, Psychotherapie und Hausbesuche – bietet zum Beispiel die Ambulanz der Sigmund-Freud-Privatuniversität. Neben einer Selbsthilfegruppe für Betroffene wurde auch eine für Angehörige ins Leben gerufen. Denn diese, vor allem Kinder und Ehepartner, haben große Schwierigkeiten, mit Betroffenen zusammenzuleben. „In einem Messie-Haushalt aufzuwachsen, ist eine große Herausforderung für Kinder und bringt einen enormen Leidensdruck der Heranwachsenden mit sich. Der Leidensdruck der Angehörigen ist manchmal auch größer, als jener der Betroffenen", weiß die Therapeutin. „So sieht es in mir aus" Auch Matthias hat das Gefühl, seiner Mutter gehe es mit ihrer Erkrankung nicht so schlecht wie ihrem Umfeld. Für Agdari-Moghada ist klar, dass jeder nach seinen eigenen Vorstellungen leben darf, wenn er andere nicht gefährdet. Man müsse sich aber fragen: „Warum nimmt sich jemand so viel Lebensraum weg, lebt lieber mit weniger sozialen Kontakten und vielen anderen Einschränkungen? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass es ganz andere persönliche Gründe dafür gibt?" Obwohl es für Betroffene wichtig ist, Unterstützung etwa in der Psychotherapie zu suchen, schaffen viele es nicht oder erst spät, diesen Weg zu gehen. Dazu müssen der Lebensstil und die damit einhergehenden Einschränkungen als leidvoll empfunden werden, weiß die Expertin. Erst dann bringen die meisten tatsächlich die Bereitschaft auf, ihre Schwierigkeiten verstehen und letztlich verändern zu wollen. Dass in Österreich die Gesamtkosten einer Psychotherapie auf Krankenschein noch immer nicht übernommen werden, macht es Betroffenen allerdings häufig schwer, Hilfe zu finden, kritisiert Agdari-Moghadam. Als Spiegelbild der Seele würde sie den Zustand einer Wohnung nicht zwangsläufig bezeichnen. Sehr wohl aber denkt sie, dass Betroffene der Welt etwas zeigen wollen: „Als würden sie sagen: So sieht es in mir aus, das ist Ausdruck meiner Seele." An der Oberfläche sehe man zwar die Dinge, aber das, wonach es sich wirklich zu suchen lohne, finde man nicht in den Wohnungen.

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