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„Das Wort wohnt im Leib“

Sehnsucht, Wehmut, Lust – als der Tango um 1900 zum Modetanz wurde, bezeichnete Papst Pius X. ihn als sündhaft und verbot ihn den Gläubigen. Dass er dieses Verbot letztlich nicht aufrecht hielt, ist dem argentinischen Tangotänzer Casimiro Aín zu verdanken. Es heißt, dieser habe mit einer Botschaftssekretärin vor dem Heiligen Stuhl getanzt und so den Papst zur Rücknahme des Dekrets bewegt.

Heute entdeckt die Kirche den Tango für sich als eine Möglichkeit, angesichts schwindender Bedeutung Menschen neu und anders zu erreichen. So auch in der evangelischen Heiliggeistkirche in Heidelberg, wo an Christi Himmelfahrt, 14. Mai, 11 Uhr, ein Gottesdienst mit Tangomusik und Tanz stattfindet. Der Allhelgonachor Lund aus Schweden führt zusammen mit der Studentenkantorei und Instrumentalisten die Tangomesse „Tanzen hat seine Zeit“ von Johan-Magnus Sjöberg auf. Der Komponist ist zugleich der Chorleiter des schwedischen Chores, mit dem die Studentenkantorei seit Jahren eine Chorpartnerschaft pflegt. Die schwedischen Tänzer Ellinor Westrup und Daniel Carlsson tanzen argentinischen Tango und am Ende des Gottesdienstes, der von Pfarrer Vincenzo Petracca geleitet wird, darf selbst in der Kirche Tango getanzt werden. „Ich finde, man sollte das Evangelium sinnlich kommunizieren“, sagt Petracca, der 2012 in der Melanchthongemeinde Mannheim schon einmal einen Tango-Gottesdienst gefeiert hatte und der gleich offen für die Idee war. Der Mensch sei ein ganzheitliches Wesen. „Wenn man immer nur die Predigt betont, kommen andere Seiten zu kurz.“

Das Hohelied der Liebe sei voller Erotik und Sinnlichkeit. Doch es gebe schon im Alten Testament und vor allem im Neuen Testament leibfeindliche Tendenzen. „Der Körper ist kein Unfall der Schöpfung, Gott hat den Menschen als sinnliches Wesen geschaffen“, betont Petracca. Mit der Diffamierung der Lust habe die Kirche Schreckliches angerichtet.

„Der Tanz beschwingt und befreit die Seele“, sagt Petracca. Der Tango sei ein Tanz voller Sehnsucht, entstanden in Argentinien in einer multikulturellen Umgebung, in der sich die Europäer heimatlos gefühlt hätten. Die Sehnsucht bezeichnet der Pfarrer als ein zentrales theologisches Thema. „Es ist eine der Säulen des christlichen Lebens, dass wir mit dem Leben, das wir hier leben, nicht zufrieden sind.“ Sehnsucht und Sinnlichkeit höre man in der Tangomusik, aber nicht nur da. „Wenn Sie an Karfreitag die Matthäuspassion singen, kommunizieren Sie auf der sinnlichen Ebene. Das spricht die Menschen in tieferen Schichten an, als das Wort es kann“, erläutert er.

Als Einrichtung der Evangelischen Kirche in Heidelberg verbindet die Citykirche an Heiliggeist Themen aus Kultur, Politik, Diakonie und Wissenschaft mit einer religiösen Perspektive. „Wir wollen bewusst Menschen am Rand der Kirche mit unkonventionellen Gottesdiensten ansprechen“, so Petracca. Geplant sind ein Theatergottesdienst zusammen mit dem städtischen Theater, ein Kunstgottesdienst mit dem Neuenheimer Künstler Siegfried Angermüller, ein Gottesdienst mit Beatles-Songs zum Mitsingen und ein Kneipengottesdienst, für den noch eine Altstadt-Kneipe gesucht wird.

Foto: Sabine Hebbelmann