Die Zeit Online, 2. Dezember 2015. - Ich kenne jemanden, der hat keine Angst. An seinem Akzent ist seine Herkunft klar zu erkennen, an seinem Vornamen kann man seine Religionszugehörigkeit ablesen, und die gilt da, wo er lebt, als verdächtig. Aber er macht sich das, was andere über ihn denken und sagen, nicht zu eigen. Er zeigt sich als einer, der anders ist als die Mehrheit und anders als die Minderheit, zu der er gezählt wird. Wenn er einen Menschen trifft, dann schaut er ihm in die Augen und sagt: "Da bin ich. Wer bist Du?" Und er stellt diese Frage nicht, um so schnell wie möglich über sich zu sprechen. Er kann sein Gegenüber lange und eindringlich befragen, ihm ausdauernd und mit gespannter Aufmerksamkeit zuhören.
Dieser Jemand heißt Muawia Kabha. Er ist israelischer Araber und lebt im arabischen Dorf Um el-Khutuf bei Harish im Bezirk Haifa. 15 Jahre hat er als Rettungssanitäter nach Terroranschlägen Schwerverletzte stabilisiert, versorgt, mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht. Er hat viele Menschen gerettet. Er hat viele Menschen nicht mehr retten können. Er hat viele Tote gesehen. Manchmal, wenn er schlafen geht, hat er den Geruch der 29 Leichen im Park-Hotel in Netanya in der Nase. Ein Geruch, den er vor 13 Jahren im März 2002 einatmen musste, nachdem ein palästinensischer Selbstmordattentäter sich im Auftrag der Hamas als Frau verkleidet und während des festlichen Seder-Mahls am ersten Pessach-Abend mit einem zehn Kilogramm schweren Sprengstoffgürtel in die Luft gesprengt hatte. Muawia war als erster Rettungssanitäter am Ort des Anschlags.
Oder ein paar Jahre später, 2011, in der Siedlung Itamar. Als ein 18- und ein 19jähriger Palästinenser das Ehepaar Ehud und Ruth Fogel mit ihren elf- und vierjährigen Söhnen Yoav und Elad erwürgten, erstachen und erschossen und die drei Monate alte Hadas köpften, während sie in ihrem Bettchen schlief. Muawia versuchte den vierjährigen Elad noch zu retten. Vergeblich. Dann versorgte er die drei überlebenden Kinder Tamar, Ro'i und Yishai. Die kleine Adele Biton aber, die konnte er retten, 2013. Nachdem das Auto ihrer Mutter Adva von palästinensischen Steinewerfern angegriffen, von der Bahn abgekommen und unter einen Lastwagen geraten war. Adele lebte noch zwei Jahre, bevor sie an den Folgen einer Lungenentzündung starb. Sie wurde vier Jahre alt.
"Der Hass hat über mich gesiegt", sagt Muawia und stellt fest: "Adele wurde ermordet." Das nehmen ihm viele Palästinenser übel. Sie halten diesen Satz für Verrat. Während ihn manche verfluchen, weil er ihre Logik des "gerechten Mordens" durchkreuzt, rufen jüdische Extremisten an den Orten der Anschläge oft "Tod den Arabern". Und das, während Muawia darum kämpft, ein jüdisches Terroropfer im Leben festzuhalten.
Über all dem Wahnsinn hat Muawia sie verloren, seine Angst. Er sieht jetzt klar: "In unserer Gesellschaft beginnt die Gewalt in der Erziehung", sagt er. "Wenn ich meine Kinder nicht so erziehe, dass sie wissen, dass ein Jude ein Mensch und ein Bürger Israels ist wie ich und Du, dann ist das schon Gewalt." Muawia verweigert die Einteilung der Welt in Freunde und Feinde. Er kennt den Preis des Hasses so genau, dass er alles riskiert, um ihm das Wasser abzugraben. Er sah den Tod so oft, dass er die Kostbarkeit des Lebens erkannte. In seiner Liebe zu den Menschen und zum Leben ist Muawia unerbittlich.
In den vergangenen zehn Jahren wurden wir Europäer uns immer sicherer, dass Israel von uns lernen müsse: Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Und dass sie doch nicht so schwer sein kann, die Sache mit dem Frieden. Seit den Anschlägen vom 13. November in Paris aber fangen wir hier in Europa an zu erkennen, dass wir Anfänger sind in Sachen Terror. Inzwischen keimt hier und da vorsichtiges Interesse daran auf, wie die Menschen in Israel das eigentlich aushalten, dieses Leben im Abwehrmodus. Und manchmal höre ich da die Frage heraus, was wir in Europa vielleicht von Israel lernen könnten. Mir fiele da das eine oder andere ein, wozu uns Israelis inspirieren könnten. Und ich meine nicht die Mauer und auch nicht die Checkpoints.
In Israel wissen die Menschen ziemlich genau, mit wem sie in unmittelbarer Nachbarschaft zusammenleben. Als ein psychisch kranker Pilot am 24. März 2015 eine Germanwings-Maschine mit 150 Menschen an Bord zum Absturz brachte, sagten meine israelischen Freunde: "Bei uns hätte das nicht passieren können." Und tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass in Israel Kollegen, Freunde, Nachbarn und Verwandte über Monate, ja Jahre nichts von einer Depression erahnen. "Im Volk Israel ist einer für den anderen verantwortlich", heißt es in einem rabbinischen Gebot, und in einem israelischen Supermarkt des Jahres 2015 kann das bedeuten, dass mich ein Skater mit Basecap, der zufällig beobachtet, wie ich Schafsjoghurt mit einem Fettgehalt von fünf Prozent aus dem Kühlregal in den Einkaufswagen lege, zu einem cholesterinneutraleren Magermilch-Produkt überreden will. In Israel schauen die Menschen sich an, sie schauen sich um, sie suchen die Begegnung. In Israel lebt das Kollektiv, und sei es in sich auch noch so zerstritten und gespalten. Wenn auf nichts mehr Verlass ist in der Welt, dann doch wenigstens auf die Verbindung untereinander. Der Einzelne ist in Israel immer mehr als nur er selbst, ist immer Teil eines größeren Ganzen.
In Europa haben wir gehofft, wir könnten uns dem Hedonismus zum Nulltarif hingeben und uns dabei passgenaue Gesellschaften Gleichgesinnter zusammenbauen bei gleichzeitiger Ausschließung der Nicht-Gleichgesinnten: Wir haben geglaubt, dass die Welt in Ordnung sei, wenn Veganer sich mit Veganern treffen, Freunde der italienischen Barockoper mit Freunden der italienischen Barockoper und Verfechter der Windkraft mit Verfechtern der Windkraft. Wir haben nach dem Prinzip des "like" und "unlike" gelebt. "Friend", "unfriend". Anstrengungslos und ohne persönliches Risiko. Spätestens nach Paris beginnen wir zu erahnen, dass unsere Demokratie, unser Rechtsstaat und unsere ebenso leichtzüngig wie flachatmig beschworenen abendländischen Werte vielleicht doch nicht nur Accessoires sind, die wir im virtuellen Identitätsshop per Drag-und-Drop-Verfahren in einen Warenkorb legen können, sondern wir um sie ringen, sie weiterentwickeln müssen.
Seit dem 13. November wissen wir hier in Europa, dass wir uns verändern müssen. Wir müssen aufwachen. Freiwillige Helfer Geflüchteter müssen Pegida-Demonstranten zum Weihnachtssingen in der Notunterkunft einladen, Feministinnen sollten gemeinsam mit voll verschleierten Muslimas über weibliche Selbstbestimmung diskutieren, Vertreter der historisch-kritischen Auslegung christlicher, jüdischer und muslimischer Offenbarungstexte könnten Salafisten zu einem interreligiösen Jour-Fixe einladen. Die Zeit ist reif für eine paradoxe Intervention, dafür, uns zu öffnen, obwohl und gerade weil alles nach Abschottung schreit. Wir müssen raus aus unseren komfortablen, geschlossenen Zirkeln der Selbstvergewisserung, mitten hinein in das Risiko der Begegnung mit dem Anderen. Auch dem Anderen in uns selbst. Und üben, Menschen unter Menschen zu sein. Wenn uns das gelingen sollte, dann werden wir genauer wissen, wer wir selbst sind und mit wem wir zusammenleben. Wir werden unterscheiden können, vor wem wir uns fürchten müssen und vor wem nicht.
Wenn wir uns dem Anderen öffnen, werden eines Tages auch wir keine Angst mehr haben. So wie Muawia Kabha. Wir werden uns neu und tiefer miteinander verbinden und erleben, dass uns diese neue Verbundenheit tragen kann. Und ganz nebenbei werden wir dadurch auch eine neue Form der inneren Sicherheit und gesellschaftlichen Stabilität erzeugen.