Eine jahrhundertealte Tradition erlaubt es albanischen Frauen, sich für ein Leben als Mann zu entscheiden. Mit allen Rechten und Pflichten, mit vielen Freiheiten - aber ohne Liebe.
Die Bäume an den Berghängen um das Dorf Xhuxhë leuchteten rot und golden, als Nushe Vorfi ihrer Cousine eine Schere in die Hand drückte. Die zögerte, weigerte sich: Vorfis Haare waren so schön, so lang, sie reichten der jungen Frau bis zu den Ellenbogen. Doch dann gab die Cousine nach. Eine erste braune Strähne fiel auf die Terrasse vor dem Haus, dann noch eine und noch eine. Als auf dem Kopf nur noch wenige Zentimeter übrig waren, trug Vorfi ihre, nein, seine abgeschnittenen Haare auf ein nahes Feld und verbrannte sie. Die Cousine hatte Vorfi an diesem Nachmittag zum Mann gemacht.
Nush Vorfi ist klein, 1,60 Meter
vielleicht. Das karierte Kurzarmhemd flattert um einen flachen
Oberkörper, darunter leicht taillierte Jeans mit künstlich abgewetzten
Stellen, die Füße in schwarzen Plastikschlappen. Ein kantiges,
sonnengebräuntes Gesicht, kurze Haare und breite Schultern. Dazu
kräftige Hände, die Fingernägel sind sehr weit zurückgeschnitten. Vorfi
ist 38, aber er wirkt mindestens zehn Jahre
älter, sein faltiger, zerfurchter Hals könnte einem 90-Jährigen gehören.
Vorfi spricht nur ungern über seine Gefühle, ein albanischer Mann tut
das nicht. Aber was er in dem Moment empfunden hatte, in dem seine Haare
fielen, auf der Terrasse an einem Herbstnachmittag des Jahres 1994, das weiß er heute noch: Erleichterung. Und Befreiung ...
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