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"Sie denken, sie würden sterben"

Millionen Argentinier geraten durch die Corona-Pandemie in noch größere Existenznot. (Foto: imago images/Agencia EFE)

Seit März gelten in Argentinien strikte Ausgangssperren, um das Coronavirus einzudämmen. Die psychischen Folgen sind schon jetzt besorgniserregend. Das Schlimmste kommt wohl noch. Von der Angst, die umgeht.

Von Roland Peters, Buenos Aires

Das Leben veränderte sich innerhalb von Stunden. Wer konnte schon dagegen sein, als sich Präsident Alberto Fernández am 19. März wegen des Coronavirus an Argentiniens Bevölkerung wandte?

Der Staatschef hatte gerade ein Notstandsgesetz zur "verpflichtenden sozialen Isolierung" im ganzen Land unterschrieben. Alle Argentinier sollten ab Mitternacht zuhause bleiben, also weniger als drei Stunden später. Zuwiderhandlungen würden hart bestraft: "Jeder hat nun zwei Kämpfe auszutragen: Der gegen das Virus, und der gegen eine Psychose. Dieses Gefühl, dass alles sehr schlimm ist, irreparabel, man nichts tun kann."

Ich sitze an diesem Abend auf dem Balkon eines Freundes, mit Blick über Buenos Aires. Die Sonne tönt sich dunkelgelb, und lässt lange Licht zurück, als sie verschwindet. Der März ist angenehm; nicht zu heiß, immer im T-Shirt, meist regt sich ein spielerisches Lüftchen um die Nase. Als die Uhrzeiger auf 21 Uhr zugehen, wenige Minuten vor Fernández' Rede, rücken die Menschen des Viertels bereits zusammen, indem sie sich und dem medizinischen Personal Mut zuklatschen. Wir wissen, was kommt. Die Klänge der Solidarität drängen durch die Dämmerung auf den Balkon und mir Tränen in die Augen.

Zu dieser Zeit gibt es nur rund 200 Infizierte. Aber alle kennen die Bilder der Särge aus Italien, ein Land, zu dem viele Argentinier eine familiäre Bindung pflegen. "Wir erleben eine trügerische Situation. Eine Wirtschaft, die abstürzt, steht auch wieder auf", erklärte Fernández später seine Priorität: "Aber ein ausgelöschtes Leben kommt nie wieder zurück." Inzwischen zählt das Land mehr als 1700 Corona-Tote. Ohne die frühen Maßnahmen hätten es viele mehr sein können, wie auch ein Blick über die Grenze nach Brasilien zeigt. Dort sind es bereits mehr als 69.000 Todesopfer.

Argentinien hat viel Lob erhalten für sein striktes Durchgreifen, auch die Bevölkerung steht im Grunde dahinter. Aber aus den zwei Wochen Urlaub, wie es viele im März nannten, sind dreieinhalb Monate geworden; aus dem Spätsommer der Winter; und statt über Memes der Apokalypse auf der Couch zu lachen, machen sich mentale Probleme bemerkbar. Niemand, mit dem ich spreche, ist mit der derzeitigen Situation zufrieden. Und nirgendwo auf der Welt gibt es im Verhältnis zur Bevölkerungszahl so viele Psychologen in Argentinien, etwa 200 je 100.000 Einwohner. Also rufe ich eine Psychologin an.

Andrea Distéfano, mit drei Jahrzehnten Erfahrung im städtischen Fachkrankenhaus Arturo Ameghino und in ihrer eigenen Praxis, hat schon die traumatische Staatspleite von 2001/2002 miterlebt, als viele Argentinier all ihre Ersparnisse verloren und die Wirtschaft zusammenbrach. "Das Schlimmste an der aktuellen Situation ist die Unsicherheit", sagt mir die 58-Jährige: "Wenn mich ein Patient fragt, wann all das endet, ich kann ihm nicht antworten."

Das Herz rast

Das öffentliche Krankenhaus, wo Andrea Distéfano arbeitet, hat mehrere Hilfstelefonnummern eingerichtet. Die Zahl der Anrufe hat im Verlauf der Monate stark zugenommen, berichtet die Psychologin: "Viele haben Angst davor, sich anzustecken, kein Geld mehr und wissen nicht mehr weiter, manche haben Panikattacken, bekommen keine Luft, das Herz rast." Sie rufen an, weil sie denken, sie würden sterben. Insgesamt kümmern sich allein dort rund 200 Ärzte um solche Menschen, die wegen der sozialen Isolierung nicht mehr wissen, was sie tun sollen. "Sie sind meist allein und verzweifelt. Wer einen Unbekannten über eine Telefonnummer anruft, greift nach dem letzten Strohhalm."

Ohne Sondergenehmigung dürfen Argentinier ihr Zuhause offiziell nur im 500-Meter-Radius verlassen, mit Haustier oder für Lebensmitteleinkäufe, nur am Wochenende mit Kindern aus dem Haus. Zwischenzeitlich konnten die Menschen in der Hauptstadt ab 20 Uhr joggen gehen oder Fahrrad fahren. Weil die Kurve weiter nach oben zeigte, gelten nun wieder bis 17. Juli strikteste Ausgangsbeschränkungen. Die meisten Infizierten und Toten gibt es mit Abstand in der Metropolregion Buenos Aires.

Ich kenne mehrere Menschen, die mit einer Mischung aus Pflichtgefühl und Angst vor dem Virus seit Mitte März nicht ihre Wohnung verlassen haben. Ich gehe tagsüber nur mit signalisierendem Einkaufsbeutel in der Hosentasche aus der Tür; mit nagendem schlechten Gewissen manchmal in der Dunkelheit spazieren. Ansonsten sitze ich und arbeite, dazwischen versuche ich mich mit Youtube-Videos zu sportlicher Aktivität zu animieren. Höhepunkte sind, wenn ich Essen bestelle oder die legendäre argentinische Eiskrem. Damit lebe ich im rauschenden Luxus. Und das meine ich vollkommen ernst.

Schon vor Corona galten vier von zehn Argentiniern als arm und zwei Drittel aller Minderjährigen. Was machen nun die rund acht Millionen Menschen, die vorher keinen gemeldeten Arbeitsplatz hatten und sich mit verschiedenen Jobs über Wasser hielten? Kein öffentliches Leben bedeutet für die meisten kein Geld und damit nichts zu essen. Für sie bereitet die Regierung derzeit die dritte Sonderzahlung von etwa 85 US-Dollar vor, weniger als ein monatlicher Mindestlohn. Damit das Geld so lange wie möglich reicht, hat sie die Preise von mehr als 200 Produkten des Warenkorbs sowie Energiekosten eingefroren. Zusammen mit anderen Zuzahlungen werden so mehr als zehn Prozent der Bevölkerung vor dem Fall in die Armut bewahrt, gibt die Regierung an.

Der Staat befindet sich in der Zange zwischen Coronavirus und drohender Zahlungsunfähigkeit, verhandelt deshalb seit Monaten mit Gläubigern in den USA. Kurzfristige Abhilfe schafft derzeit die Notenpresse. Die Inflation betrug schon im vergangenen Jahr über 50 Prozent. Allein im April ist mehr als ein Viertel der argentinischen Wirtschaftsleistung weggebrochen: 26,4 Prozent, vor allem in Bauwirtschaft, Handel und Industrie. So schlimm war es selbst im schlimmsten Monat der Krise 2001/2002 nicht, damals 16,7 Prozent Minus und Verlust der Bankersparnisse.

Andrea Distéfano kämpft mit ihren Mitteln gegen die Krise; mit Worten gegen die Depressionen der Hilfesuchenden. "Etwa 80 Prozent der Patienten meiner Praxis sind energielos, ohne Motivation, einige sind auch arbeitsunfähig geworden." Die Situation der Anrufer im Krankenhaus, die meist zu niedrigeren Einkommensschichten gehören, seien zwar prekärer. Aber die Tendenz ist ähnlich: Psychische Probleme, die aus der sozialen Isolation resultieren. "Wenn wir mit jemanden reden, uns austauschen, baut uns das wieder auf. Aber dann legst Du auf und siehst, dass Du noch immer in deinem Zuhause sitzt."

Selbst wenn man aufs Land entkommen wollte, ist das aufwändig oder schlicht unmöglich. Seit Monaten fahren keine Langstreckenzüge oder -busse, der öffentliche Nahverkehr ist auf elementare Arbeitskräfte wie medizinisches Personal beschränkt. An Straßensperren zwischen Stadt und Provinz, wo insgesamt rund ein Drittel der 45 Millionen Argentinier leben, werden entsprechende Papiere kontrolliert. Wegen Verstößen hat die Polizei schon viele tausend Autos beschlagnahmt.

Leere im Zentrum

Wand an Wand mit dem Hauptbahnhof von Buenos Aires liegt das Barrio Padre Carlos Mugica, eines der größten Armenviertel der Hauptstadt. Die rund 40.000 Bewohner in Sichtweite des Finanz- und Geschäftszentrums leben von dieser Nähe, den Reisenden aus der Region, dem Land und Kontinent. Sonst verkaufen Sie hier Essen, Handyzubehör, Kleidung, alles Mögliche. Doch irgendwann verwandelte sich das Viertel in einen Virenherd. Anfang Juli ist die Fläche vor den Gassen und Gebäuden wie leergefegt, Polizisten haben sich in ihrem Streifenwagen in beobachtende Position gebracht und passen auf, dass niemand gegen die Auflagen verstößt. In der Metropolregion Buenos Aires gibt es mehr als 1000 solcher Armenviertel. Manche stehen unter Komplettquarantäne.

Die Sonderzahlungen der Regierung dürften kaum jemand als einzige Einnahmequelle gereicht haben. Die Warteschlange zu mancher Suppenküche zieht sich inzwischen über mehrere Häuserblocks hin. Dabei ist die Hauptstadt der wohlhabendste Teil Argentiniens. Doch sogar in den nördlichen Vierteln der Besserverdienenden kampieren Obdachlose frierend in Hauseingängen. Zugleich versuchen sich Unternehmer, irgendwie zu retten. Etwa 23.000 Unternehmen mussten allein in Buenos Aires schon aufgeben, bis zu 100.000 könnten es landesweit werden, schätzt die argentinische Handelskammer CAC.

Corona und Quarantäne haben die Welt zusammengeschrumpft. Solche, die das Glück haben, von zuhause arbeiten zu können, teilen sich die Probleme: Prioritäten verschwimmen, Stundenpläne und Schlafrhythmen geraten durcheinander, der Kopf zwingt in emotionale Achterbahnfahrten auf Sicht. Heimarbeit greift zu kurz, schoss mir zuletzt durch den Kopf: Arbeitsheim, das trifft es eher. Wer Kinder hat, betreut diese zusätzlich. Zu Beginn habe ich noch sonntägliche Rebellion geübt und mich mit einem Becher Kaffee an die wenigen grünen Flecken der Stadt gesetzt. Die Polizei vertrieb mich rüde. Ich habe gelernt. Nun kaufe ich einfach immer ein und bleibe in Bewegung.

In den ersten Wochen der Ausgangssperren meldete der Fernsehsender Cronica noch augenzwinkernd: "15 Tage bis zu den nächsten 15 Tagen und zur Ankündigung, dass die Quarantäne verlängert wird." Drei Monate später klingt das ziemlich zynisch. Applaus von den Balkonen höre ich schon seit einiger Zeit nicht mehr.

Die gesellschaftlichen Folgen der sozialen Isolation werden gravierender sein als alles, was sie bislang erlebt hat, davon geht Andrea Distéfano aus: "Niemand sagt zu mir, er arrangiere sich eben mit der Situation. Es sind viel mehr Elemente im Spiel als etwa im Jahr 2001, weil man sich nicht mit Freunden und Familie treffen kann." Vor allem die isolierten älteren Menschen werde dies hart treffen, sowie solche, die ihre Arbeit und damit auch Krankenversicherung verloren haben. "Die Auswirkungen dieser Monate, die neuen Patienten und ihre psychischen Leiden, die sehen wir noch gar nicht."

Quelle: ntv.de
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