Eine urbane Enklave Detroits verändert sich seit Jahren: Muslimische Immigranten kommen, Katholiken ziehen weg. Über den Straßen Hamtramcks wehen die Fahnen der Welt. Ein Besuch in der US-Stadt, die manche "Shariaville" nennen.
Von Roland Peters, Hamtramck
Dass sich etwas verändert in den Vereinigten Staaten, das bemerkte Greg Kowalski schon im Jahr 2004. Aus der neuen Moschee in Hamtramck kamen Muezzinrufe. Katholische Kirchengänger auf der anderen Straßenseite fühlten sich gestört, die Presse berichtete über den Fall. Weiße kamen, um gegen die Muslime zu demonstrieren. Einem Anrufer aus Chicago, der sich mit seiner Gruppe ebenfalls einmischen wollte, erteilte Kowalski eine Absage. "Bleibt mal lieber zuhause, wir regeln das selbst", riet der Historiker. Um den Streit beizulegen, stimmte die Stadtbevölkerung ab - und sprach sich mehrheitlich für den Gebetsruf der neuen Nachbarn aus.
Mit seiner lapidaren Antwort half der heute 66-Jährige, dass eine lokale Angelegenheit nicht von rechtskonservativen US-Amerikanern zum nationalen Streit eskaliert wurde. Als Kompromiss gibt es seither abgestimmte Zeiten für die Kirchenbesucher und den Muezzin vom Al-Islah Islamic Center. Der polnischstämmige Kowalski hat sein ganzes Leben hier verbracht, inzwischen leitet er das Stadtmuseum. Nun sitzt er an einem dunkelbraunen Furniertisch im schummrigen Tiefparterre des Polish Village Café. Beim Mittagessen erzählt er von den Veränderungen in Hamtramck. Seit Donald Trump Präsident ist, gebe es Unruhe in der von Detroit umschlossenen Stadt. "Die Muslime sind besonders freundlich. Als wollten sie nichts falsch machen." Die Jemeniten und die syrischen Flüchtlinge hier sind direkt von Trumps Muslim-Bann betroffen.
Ohne wahrnehmbare Emotion spricht Kowalski über die Veränderung in seiner Heimat und zieht historische Parallelen: "Was jetzt passiert, ist exakt das Gleiche wie vor 100 Jahren zwischen Deutschen und Polen." Zunächst waren die deutschen Siedler als Bauern gekommen, sie trieben die Stadtgründung Anfang des 20. Jahrhunderts voran. Dann nahm die Fabrik von Dodge ihren Betrieb auf, brachte Tausende Jobs und zog polnische Arbeiter an. Im Jahr 1970, kurz vor der Ölkrise und schrumpfender US-Autoindustrie, waren 90 Prozent der Einwohner von Hamtramck polnischer Abstammung. Sogar Johannes Paul II. kam zu Besuch, ein Block entfernt steht zur Erinnerung eine Statue des polnischen Papstes. Jetzt ziehen vor allem Bangladescher und Jemeniten hierher. "Das Rad dreht sich wieder", sagt Kowalski. Nur noch ein Drittel der etwa 24.000 Einwohner in Hamtramck gelten laut US-Behörden als weiß.
Inzwischen ist der Anteil polnischer Bewohner auf unter zehn Prozent geschrumpft, schon 2013 wurde Hamtramck zur ersten Stadt der USA mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. Conant Street an der östlichen Stadtgrenze wird inzwischen "Banglatown" genannt, die Stadt auch "Muslimtown". Manche Bezeichnungen sind deutlich abfälliger: In Nachbargemeinden heißt die Stadt mitunter "Shariaville". Als würde der Staat die Kontrolle verlieren, wenn die Menschen an Allah glauben. Bis 1995, mehr als 70 Jahre lang, hatten ausschließlich Polen den sechsköpfigen Stadtrat gebildet. Dann, 2015, wurde er größtenteils muslimisch. Das Ergebnis der Bürgermeisterwahl hat den Wandel auf politischer Ebene unterbrochen. Nicht der Muslim Mohammed Hassan gewann, sondern erneut die Polin Karen Majewski mit 61 Prozent der Stimmen.
Im Alltag verändert sich die Stadt. Über der Hauptstraße Joseph Campau Avenue wehen Fahnen aus aller Welt, finanziert und gehisst von den Menschen, die aus all diesen Ländern stammen. Manche Geschäfte in rot-weißen Farben sind verbarrikadiert, daneben gibt es Pfandleiher und Modeläden mit arabisch-englischen Schildern. Der Eindruck täusche, regt sich Kowalski auf: Interesse von potenziellen Mietern gebe es genug, aber ein britischer Investor baue Luxuswohnungen in die oberen Stockwerken der Gebäude, wolle die Lokale darunter aber nur an finanzstarke Ketten vermieten. Die besser gebildeten Polen sind in wohlhabendere Gegenden gezogen, weg von den Knochenjobs, die nun die neue Generation von Immigranten übernommen haben.
Die meisten Neuankömmlinge aus dem Nahen Osten und Südasien sind ihrer schlechten Englischkenntnisse wegen zunächst arbeitslos. Später schuften sie in Detroits Fabriken und der Hamtramck Assembly an der südlichen Stadtgrenze; dort, wo General Motors Cadillacs und Chevrolets bauen lässt. Außerhalb der Fertigungsanlagen laufen in unterschiedlichen Gewändern gekleidete Männer herum, Frauen in Kopftüchern bis Burkas, auch sie prägen das Bild der immer schon armen Stadt. Rund 40 Prozent der Einwohner Hamtramcks leben unterhalb der Armutsgrenze. Hamtramck ging zwei Jahre nach der Rezession in den USA 2008/09 bankrott. Seither steht sie unter Zwangsverwaltung des Bundesstaates. Das ist nichts Neues in der Arbeiterstadt. "Das passiert alle 30 Jahre", winkt Kowalski ab. "Wir haben Erfahrung damit."
Herausforderung HungerAcht Blocks nördlich vom Polish Village Café, Ecke McDougall und Halleck Street, steht ein typisches einstöckiges amerikanisches Haus mit Veranda. Drei Stufen führen hinaus in den kleinen Garten, wo Frauen hinter vollgestellten Tischen Lebensmittel verteilen. Wenige Meter weiter gibt ein geöffnetes Garagentor den Blick frei auf ein ganzes Lager - Konserven, Einmachgläser, Klopapier und mehr ist zu sehen. Bis zu 500 Immigranten- und andere Familien versorgt der hier ansässige Muslim Family Service. Allen wird geholfen, unabhängig vom Glauben.
Der Hunger in Hamtramck sei eine Herausforderung, seine Bekämpfung habe oberste Priorität, sagt Khalid Iqbal. Dann lädt der Geschäftsführer der Hilfsorganisation mehrere Kisten voller Lebensmittel in sein geräumiges Auto, setzt sich hinters Steuer und fährt los. "Sie würden nie fragen, du musst sie finden", erklärt er; auf der Straße, auf den Verandas, manche sogar in ihren Häusern. Aufmerksam guckt er durch die Seitenscheiben, er achtet darauf, wie sich die Menschen verhalten, auf ihren Gang, ihre Blicke. "Maskeen" werden hungrige Bedürftige in der arabischsprachigen Welt genannt. Sie wollen ihre Würde nicht durch Betteln verlieren.
Auf dem Bürgersteig gegenüber bewegt sich langsam ein älterer Mann vorwärts, trotz wärmender Sonne trägt er einen dunklen, leicht abgewetzten Anorak. Khalid Iqbal hält an, nimmt eine farbige Supermarkttüte mit Konserven, Nudeln und Keksen und geht langsam über die Straße. "Hast du Hunger?", fragt er. "Ich habe Essen dabei. Wenn du möchtest kannst du es haben." Der Bärtige reagiert skeptisch. Nach ein paar Sätzen mehr bedankt er sich, nimmt die Tüte, hängt sie an seinen Rollator und schleicht weiter vorwärts. Khalid Iqbal hat Erfahrung mit Sozialarbeit. Er war im kanadischen Winnipeg tätig und in Washington D.C.. Seit ein paar Jahren ist er hier in Hamtramck.
Viele Einwanderer gehen zuerst nach New York City, dann ziehen sie nach Hamtramck. Das Leben ist vergleichweise günstig: Zwischen 15.000 und 45.000 US-Dollar kostet hier ein Haus. In New York City sind es zehnmal so viel. Immigranten verdienen ihr Geld auch in der Hamtramck Assembly. Die Beschäftigten des größten Arbeitgebers der Stadt vertritt die Industriegewerkschaft United Auto Workers. Das verantwortliche Büro liegt an der nach Westen führenden Ausfallstraße Michigan Avenue. Über der Eingangstür hängt ein verblichenes kreisrundes Logo mit drei stilisierten, stolzen Arbeitern: "We Built This City", steht über ihren Köpfen.
Rhonda Maurer ist seit 2016 gewählte Präsidentin des Büros, die erste Frau an seiner Spitze. Bevor es vom weitläufigen Parkplatz hineingeht, flickt sie ein Loch in der Außenwand des Flachbaus. Ihr Name steht in goldenen Lettern auf der verglasten Eingangstür. Drinnen wartet ein Stück Industriegeschichte: Bilder ehemaliger und aktueller Funktionäre hängen an der Wand, solide Türen und Tische sind aus dunklem Massivholz gefertigt, die Namensschilder der Büros aus Messing. Der blaue Boden des großen Versammlungssaals glänzt frisch poliert.
Rhonda Maurer ist eine, die mit ihren Händen arbeitet, mit breiten Schultern, rauem Lachen, Vokuhila. "Wir sind die Schmelztiegelfabrik", sagt sie über die Hamtramck Assembly. Weitere Gewerkschaftsmitglieder beteiligen sich am über einstündigen Gespräch: ein Schwarzer, ein Latino, und ein älterer Weißer im Ruhestand. Alle arbeiteten zusammen dort, auch die Bangladescher und die Polen.Wenn der Ältere das Wort ergreift, erzählt er viel von früher, davon, welche Veränderungen ihm Angst machen. Er spricht über die Automatisierung der Fabriken, von den fast zwei Millionen Jobs bei General Motors, deren Anzahl um nahezu vier Fünftel geschrumpft ist, und vom fehlenden Nachwuchs. Er redet aber auch über den Irrsinn der weißen Rassisten, die im August in Charlottesville mit ihrem Hass marschierten und eine Gegendemonstrantin töteten. Als er zum Schluss sogar davon spricht, dass sich die Vereinigten Staaten in Richtung eines blutigen Konflikts bewegten, stimmen die anderen zu. Aber von ethnischen Differenzen zwischen Muslims und Christen in Hamtramck, davon redet niemand.
Quelle: n-tv.de
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