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Integration: Ein Sportverein hilft Flüchtlingen aus Afrika

Training der besonderen Art beim SC Alewiten in Paderborn


Heimspiel: Ein NesT für Geflüchtete im Sportverein


Paderborn. Als Verani Kartum Post von der Bundesregierung bekam, war für ihn sofort klar: „Da sind wir dabei.“ Die Regierung fragte, ob sein Sportverein SC Aleviten eine Flüchtlingsfamilie aus Somalia unterbringen und betreuen könne. Dahinter steckt das Programm NesT (Neustart im Team), ein Aufnahmeprogramm der Vereinten Nationen für besonders schutzbedürftige Geflüchtete.


Kurz vor Weihnachten dann der Anruf bei Vereinsgründer Verani Kartum: Die damals 48-jährige Ardo stand mit ihren vier Kindern Abdullahi, Fadumo, Mohammed und Aisha am Flughafen Leipzig. Kartum, seine Ehefrau Angela und weitere Ehrenamtliche schnappten sich den Vereinsbulli und fuhren los. Dank ihrer guten Kontakte haben sie für die Neuankömmlinge eine Dreizimmerwohnung in der Nähe des Bahnhofs gefunden. Viele freie Wohnungen waren plötzlich doch schon vergeben, wenn die Vermieter erfuhren, dass eine Flüchtlingsfamilie einziehen sollte. 


Für die somalische Familie begann in Paderborn ein komplett neues Leben. Nach ihrer Flucht vor dem Bürgerkrieg lebten sie in einem Lager in Kenia. Dort mussten sie sich ihre Unterkunft aus Plastik- und Holzresten selbst bauen. In Deutschland wundert sich Abdullah, der älteste Sohn der Familie, nicht nur über das Wetter: „Hier gibt es 24/7 Strom“, staunt er. „In Kenia hatten wir nur sechs Stunden Elektrizität in der Nacht und das auch nicht immer“. Auch seine Schwester Fadumo fühlt sich in Paderborn jetzt wohl und sicher. Was sie vermisst? Nichts. Sie zögert, überlegt und flüstert dann schüchtern: „ein bisschen meine Freunde in Kenia“.


Mit denen hält die Familie Kontakt übers Internet. Gleich nach der Ankunft haben ihr die Mentoren vom SC Aleviten deutsche Handykarten gekauft. Im ersten Monat haben sie 400 Euro vertelefoniert“, erinnert sich Verani Kartum. Sie wussten nicht, wie teuer die Gespräche in Deutschland ist. Inzwischen nutzen sie kostenlose Messengerdienste für die Kontakte nach Afrika.


Abdullah will in Deutschland studieren und Ingenieur werden. Wie seine Geschwister und die Mutter besucht er jeden Tag die Sprachschule. „Deutsch ist schwer“, stellen alle fünf übereinstimmend fest. Abdullah spricht ein wenig Englisch, die anderen nur Somali. 


Ohne die Hilfe der Mentorinnen und Mentoren vom SC Aleviten wären sie verloren. „Die müssen wie Neugeborene alles lernen“, berichtet Verani Kartum. Als sie ankamen, kannten sie weder WCs noch Spülmaschinen, Elektroherde oder andere Küchengeräte. 


Die deutsche Bürokratie bringt auch Einheimische an ihre Grenzen. Weil ihre Geburtsurkunden kein Foto enthielten, habe ihnen die Ausländerbehörde den Vermerk „Identität nicht geklärt“ in die Pässe gestempelt. Damit könnten sie in Deutschland weder heiraten noch eigene Kinder anmelden.



Verani Kartum kam selbst einst als Fremder nach Deutschland. Vor 45 Jahren holte ihn sein Vater aus der anatolischen Provinz nach Ostwestfalen. Der Papa war wie so viele damals als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gegangen, um ein paar Jahre lang Geld zu verdienen - und blieb. Seine Frau und die beiden Söhne kamen nach. „Wir haben damals in der Türkei bei unserem Onkel auf dem Dorf gewohnt“: Wasser aus dem Brunnen, Strom gab es nicht und was man brauchte, musste man selbst herstellen. Deutschland erschien ihm wie ein Märchenland - das ihn nicht wollte. Dank vieler türkischer und einiger deutscher Freunde kämpfte er sich durch eine deutsche Wand aus Ablehnung. Geholfen hat ihm auch der Sport. „Ich war Fußballer, spielte im Verein.“ Doch privat musste „der Türke“ draußen bleiben.


Inzwischen fühlt er sich in Deutschland gut integriert und möchte diese Erfahrung weitergeben. Weil er einst selbst als Fremder nach Deutschland kam, glauben und vertrauen ihm die Neuen schneller als denen, die hier geboren und aufgewachsen sind.


2012 gründete Kartum zusammen mit seiner deutschen Frau Angela den Verein SC Aleviten Paderborn, um vor allem Geflüchteten aus aller Welt eine Heimat zu bieten. „Hier kann jeder sein, wie er ist“, verspricht der 53-Jährige und freut sich über die Jungs in den grünen Trikots, die nach und nach zum Turnier der Religionen eintrudeln - viele mit ihren Familien: Deutsche, Araber, Türken, Afghanen. Willkommen sind sie alle. Wer will, trägt ein Kopftuch oder isst wie in der Heimat mit den Händen, ohne sich dafür zu schämen. Anders als bei vielen anderen Sportvereinen dürfen die Kinder auch mal beim Training fehlen, ohne dass jemand deswegen meckert. Auch wer nicht gut Fußball spielt, bekommt eine Chance: „Wir lehnen niemand ab, weil er zu schlecht spielt“, versichert Verani Kartum. 



Von den arabischen und afghanischen Flüchtlingen, die 2015 und 2016 nach Deutschland gekommen sind, haben die Ehrenamtlichen vom SC Aleviten schon viele in Ausbildung und Arbeit vermittelt. Fast alle sind im Verein geblieben, haben Trainerlizenzen oder Schiedsrichter-Kurse absolviert und spielen weiter mit. Der Verein stellt ihnen Fußballschuhe und Trikots, die sie sich alleine nicht leisten könnten. Ehrenamtliche holen die Kinder mit dem Vereins-Bulli zum Training und zu Spielen ab und bringen sie wieder nach Hause. „Das Bus-Monatsticket kostet nur für Paderborn 36 Euro“, weiß der Vereinsgründer. „Das können sich die Leute nicht bezahlen.“ 


Manche der Jugendlichen seien so ausgehungert, dass sie bei Festen und Turnieren die Lebensmittel schon während des Aufbaus essen.


Dank Unterstützung durch den Landessportbund und die Egidius Braun Stiftung des Deutschen Fußballbundes DFB konnte der Verein bis zum Beginn der Corona-Pandemie all das leisten. Das Jobcenter förderte ihm mehrere Personal-Stellen. So konnte der SC Aleviten Menschen einstellen, die zum Beispiel wegen fehlender Sprachkenntnisse oder einer Behinderung keinen Job fanden. Nun gibt es die Zuschüsse nicht mehr. Das Geld wird immer knapper. „Uns fehlen aktuell noch 3.000 Euro“, berichtet Kartum. Sein Budget ist von 300.000 auf 60.000 Euro geschrumpft. 


Dennoch: Die Arbeit geht weiter. „Es ist doch toll, wie die alle mitmachen, lachen und aufrecht durchs Leben gehen“, schwärmt Verani Kartum. „Diese Anerkennung ist mit Geld nicht aufzuwiegen“. Und Angela Kartum ergänzt: „Die Arbeit hier ist unser Ein und Alles.“









Info:

Programm NesT

Im Resettlement (Wiederansiedlungs)—Programm NesT (Neustart im Team) nimmt Deutschland vom Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen UNHCR ausgewählte, besonders schutzbedürftige Geflüchtete auf. Voraussetzung für die Einreiseerlaubnis ist, dass sich eine Gruppe von mindestens vier Mentoren vor Ort findet. Diese muss für mindestens ein Jahr eine Wohnung für die Neuankömmlinge finden, die Kalt-Miete für diese Zeit übernehmen und die Schutzsuchenden mindestens ein Jahr lang betreuen. Die Mentoren helfen beim Deutsch lernen, bei der Suche nach Arbeit und Ärzten sowie beim Umgang mit der deutschen Bürokratie. So ermöglichen sie den ausgewählten Flüchtlingen eine legale Einreise abseits des deutschen Asylverfahrens. Die Teilnehmer*innen bekommen zunächst eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis sowie Zugang zu Sprachkursen, Unterstützung vom Jobcenter („Hartz IV“) und eine Arbeitserlaubnis. Sie müssen allerdings in der Wohnung bleiben, die die Mentor*innen für sie gemietet haben. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums (BMI) haben seit Beginn des Programms deutschlandweit 31 Mentoring-Gruppen 139 Geflüchtete aus dem Libanon, Ägypten, Kenia, Libyen, Jordanien und Äthiopien aufgenommen.

Das NesT Programm wird verlängert. Ab 2023 kann es jährlich bis zu 200 Geflüchtete aufnehmen. Das Forschungsinstitut des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) begleitet das Programm wissenschaftlich. Es will Anfang 2023 eine erste Evaluation veröffentlichen.


https://www.neustartimteam.de/



SC Aleviten Paderborn: https://www.scaleviten-paderborn.de/



Tipps von Verani Kartum und den anderen Mentor*innen für Menschen, die im Programm NesT Geflüchtete aufnehmen wollen:


Wichtig ist Geduld. Vor allem am Anfang gibt es viele Missverständnisse. Die Flüchtlinge kommen aus einer ganz anderen Welt. Viele kennen weder Kühlschrank noch Toilette, Staubsauger, Spülmaschine oder andere Küchengeräte. „Es ist, wie Neugeborene ins Leben begleiten“, fasst Verani Kartum seine Erfahrung zusammen. Einstellen müsse man sich auf unendlichen Papierkram, viel Arbeit und Reibereien mit dem Jobcenter, der Ausländerbehörde, eine mühsame Wohnungssuche und so manche falsche Erwartung auch der Geflüchteten. „Die dachten, das wäre unser Job und wir bekämen Geld für unser Engagement“, berichtet Kartum. Wir mussten ihnen erst erklären, dass wir keine Serviceeinrichtung sind und all das ehrenamtlich machen. Die Engagierten beim SC Aleviten wollen Freunde der Neuankömmlinge sein und weniger Betreuer. Der Unterschied: „Betreuer arbeiten eine Liste mit Aufgabe ab, Freunde sind füreinander da, klären Konflikte und geben nicht so schnell auf, wenn es schwierig wird.“ 


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