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Klimagerecht schmeckt besser | Forum - Das Wochenmagazin

Bei abgepackten Produkten und Fertigware weiß man oft nicht, woher die Zutaten kommen. Bei frischen Erdbeeren schon eher.

Der Nutri-Score zeigt an, wie gesund ein Lebensmittel wirklich ist. Dem Menschen kann das nützen, dem Klima allerdings weniger. Die entscheidende Frage ist nicht nur: Was essen wir, sondern auch, wo kommt unser Essen her?

Packung aufreißen, Essen in die Mikrowelle, fertig ist das Mahl. Mit ihren „Convenience-", also Bequemlichkeitsprodukten erleichtert die Lebensmittelindustrie unseren Alltag - und füllt die Konten ihrer Manager und Aktionäre. Inzwischen sind zwei Drittel aller in Deutschland verbrauchten Lebensmittel industriell verarbeitet. Jeden dritten Tag gibt es in der deutschen Durchschnittsfamilie Fertigkost. Auch wenn selbst Kochen wieder in ist, Kochshows im Fernsehen reichlich Publikum locken und die Menschen in Corona-Zeiten wieder mehr auf gesunde Ernährung achten: Der Trend zum Fertigessen hält an. Immer mehr Menschen leben alleine. Da lohnt sich das Kochen für viele nicht.

Die Ampel fürs Essen

Ob mit Fleisch, mit Fisch oder vegetarisch - die wenigsten Verbraucher wissen, woraus genau Fertiggerichte bestehen und wie sich die Zusammensetzung auf ihre Gesundheit auswirkt. Deshalb gibt es seit Herbst 2020 in Deutschland die umstrittene Lebensmittelampel. Sie heißt Nutri-Score. Mit Händen und Füßen hatte sich die damalige Verbraucherschutz- und Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner mit der Industrie im Rücken dagegen gewehrt. Sie wolle den Menschen „nicht vorschreiben, was sie essen sollen". In einer Umfrage ihres Ministeriums sahen das die meisten Bürgerinnen und Bürger anders: Neun von zehn wünschten sich die Kennzeichnung als schnell und intuitiv verständlich. 85 Prozent gaben an, eine Lebensmittelampel helfe beim Vergleich der Waren.

Seit November 2020 dürfen die Lebensmittelhersteller selbst entscheiden, ob sie den Nutri-Score auf ihre Produkt-Packungen drucken. Anders als eine Ampel in den drei Farben grün (gesund), gelb (mittel) und rot (ungesund) differenzieren die Angaben zwischen A (gesund) und E (ungesund). Pluspunkte gibt es für einen hohen Protein- (Eiweiß-) Anteil, Ballaststoffe, Nüsse, Obst- und Gemüse im Produkt. Negativ schlagen sich Salz, Zucker und hohe Kalorienzahl nieder. Was viele vielleicht überraschen mag, ist, dass günstigere Lebensmittel häufig besser abschneiden als teure.

9.000 Kilometer für einen Becher Joghurt

Nicht berücksichtigt wird im Nutri-Score die oft katastrophale Umwelt- und Klimabilanz der Produkte. Gut 9.000 Kilometer legen beispielsweise die Zutaten eines schwäbischen Erdbeerjoghurts auf den Straßen Europas zurück, bis der gefüllte Becher das Werk bei Stuttgart verlässt: Früchte aus Polen oder sogar aus China reisen zur Verarbeitung ins Rheinland. Die Joghurt-Kulturen kommen aus Schleswig-Holstein, das Weizenpulver aus Amsterdam, Teile der Verpackung aus Hamburg, Düsseldorf und Lüneburg.

Davon erfahren die Käuferin und der Käufer nichts. Auf der Packung finden sich Name und Standort der Molkerei sowie das Kürzel des Bundeslandes, in dem die Kuh ihre Milch dazu gegeben hat. Dabei hat noch niemand gefragt, was die Kuh gefressen hat. Meist ist es Kraftfutter aus Sojapflanzen, die auf ehemaligen Regenwaldflächen vor allem in Brasilien gewachsen sind. „Allein gut 44 Prozent der Nettoeinfuhren von verdaulichem Eiweiß entfallen auf Sojabohnen und Sojaschrot. Bezogen auf die Eiweißkomponente bleibt Soja damit weiterhin das mit Abstand wichtigste Importfuttermittel", berichtet das Bundeslandwirtschaftsministerium auf seiner Internetseite.

Der Nutri-Score funktioniert nach einem Ampel-Farben-Prinzip mit der Einstufung A (gesund) bis E (ungesund) - Foto: picture alliance / FotoMedienService / Ulrich Zillmann

Deutschland hat 2021 Lebens- und Futtermittel im Wert von rund 51 Milliarden Euro importiert. Die Statistik zählt Zutaten für Viehfutter ebenso wie Palmöl aus den abgebrannten Regenwaldgebieten auf Borneo oder im Sommer aus Argentinien eingeflogene Äpfel. Letztere können wir im Supermarkt genauso ignorieren wie ägyptische Erdbeeren im Januar. Landen solche Produkte in Fertiggerichten, haben wir darauf wenig Einfluss. Auf der Packung steht nur, wer das Produkt wo fabriziert und abgepackt hat.

Geheimnisvolle Zutaten

Selbst die in der EU geschützten Herkunftsbezeichnungen lösen das Problem nicht. In deutschen Supermarktregalen liegt mehr Schwarzwälder Schinken, als es im Schwarzwald Schweine gibt. Die Hersteller kaufen das Fleisch billig bei Mästern im Ausland und verarbeiten es im Badischen. Damit genügen sie den Vorschriften. Selbst Verbraucherinnen und Verbraucher, die Waren aus ihrer Region kaufen wollen, haben so keine Chance. Der „Focus" zitiert Umfragen: Darin sagten die meisten Konsumentinnen und Konsumenten, sie würden für regionale, hochwertige Produkte mehr bezahlen, wenn sie wüssten, wie sie diese erkennen könnten. Mehr als drei von vier Befragten gaben an, dass sie die Qualität von Tütensuppen, Tiefkühlkost, abgepackter Wurst oder Käse aus dem Kühlregal nicht oder nur schwer beurteilen könnten. Sie sehen alle gleich aus, und die bunten Packungen versprechen mit Bildern von glücklichen Tieren in idyllischer Landschaft buchstäblich das Blaue vom Himmel. Die dreistesten Werbemärchen der Lebensmittel­industrie zeichnet die Organisation Foodwatch jedes Jahr mit dem goldenen Windbeutel aus. Spitzenkandidaten sind 2021 zum Beispiel der Lebensmittelkonzern Rewe, weil er Hähnchenfleisch der Eigenmarke Wilhelm Brandenburg als klimaneutral bewirbt. Man kompensiere die durch das Produkt verursachten Treibhausgase durch Zahlungen an ein Regenwaldschutz-Projekt in Peru, behauptet Rewe. Foodwatch berichtet nach eigenen Recherchen dagegen, dass in dem angeblichen Schutzgebiet der Regenwald weiter abgeholzt werde.

Auch das Mineralwasser Volvic hat es auf die Shortlist für den Goldenen Windbeutel geschafft. Der Lebensmittelkonzern Danone bewirbt sein in Plastikflaschen abgefülltes Wasser aus der Auvergne (Frankreich) als klimaneutral, obwohl es über mehr als 1.000 Kilometer nach Deutschland gefahren werden muss. Auch recycelte Plastikflaschen könne man nur einmal wieder verwenden, Glasflaschen dagegen bis zu 50-mal, kritisiert Foodwatch. Klimaschützerinnen und Klimaschützern empfiehlt die gemeinnützige Organisation Leitungswasser: unverpackt, lokal und genauso gesund.

Die Folge des Verwirrspiels: Weil die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht wissen, was genau in den Packungen steckt und woher die Zutaten kommen, kaufen sie das Billigste. Eine Untersuchung der Verbraucherzentralen bestätigte 2015, dass teure Produkte nicht unbedingt gesünder, besser oder regionaler seien als die billigen. Der höhere Preis fließe vor allem ins Marketing der Unternehmen.

Und: Wo Erdbeerjoghurt draufsteht, sind nicht immer Erdbeeren drin. Viele Hersteller ersetzen Früchte durch billigere, künstlichere Aromastoffe. Zitronenkuchen enthält oft keine Zitronen, dafür womöglich Konservierungsstoffe wie das Nikotin-Abbauprodukt Cotinin oder Parabene, denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine hormonähnliche Wirkung nachsagen. Faustregel: „Je stärker verarbeitet das Lebensmittel ist, desto mehr Zusatzstoffe sind in der Regel darin enthalten", schreibt beispielsweise die Zeitschrift „Stern" in ihrem Ratgeber „Ernährung". Wer gern das essen möchte, was der Name eines Produkts verspricht, sollte zu Bio-Ware greifen und aus frischen, regionalen Zutaten selbst kochen. Fruchtjoghurt lässt sich aus Joghurt und Früchten leicht selbst herstellen. Frisches Obst und Gemüse kann man sehen und anfassen. Außerdem müssen die Händler auch angeben, woher ihre Produkte kommen.

Zu viel Fleisch, Monokulturen, Spritzmittel auf den Feldern, Methan­ausstoß und Flächenverbrauch durch Tierhaltung, Lebensmittelverschwendung und viele Fertiggerichte - all das schadet nicht nur dem Klima, sondern auch unserer Gesundheit. Eine sorgfältigere Auseinandersetzung mit dem, was wir kaufen und essen, wäre daher in beiderlei Hinsicht sinnvoll.

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