Not macht erfinderisch. Landwirte bekommen vom Handel kaum noch auskömmliche Preise für ihre Lebensmittel. Hinzu kommen strengere Auflagen für Umwelt und Tierwohl. Deshalb verkaufen immer mehr Bauern ihre Produkte direkt an die Verbraucher. Dabei hilft ihnen das Internet. Der Hof von Milchbauer Dennis Strothlüke. Per Direktvertrieb erhält er den doppelten Milchpreis im Vergleich zur Molkerei - Foto: Robert B. Fishman
Hinter einer Lagerhalle in einem Bielefelder Gewerbegebiet surrt ein elektrischer Lieferwagen um die Ecke. Sekundenschnell hängt er den dieselbetriebenen Kollegen ab. Die Genossenschaft Wochenmarkt 24 e.G. liefert gerade Lebensmittel direkt von Bauernhöfen aus. Bestellt wird online. „Die Post verkauft die Streetscooter jetzt gebraucht für 35.000 Euro", erzählt Eike Claudius Kramer, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Wochenmarkt24. „Da haben wir zugeschlagen." Ein Siegerlächeln huscht über das schmale Gesicht des sonst eher bedächtigen 34-Jährigen. Auf das Dach ihrer neuen Logistikhalle baut die Genossenschaft gerade eine Solarstromanlage. Diese lädt am Tag die Autos auf, mit denen nachts das Essen ausgefahren wird: Täglich außer sonntags liefern die Fahrerinnen und Fahrer in Bielefeld und Umgebung rund 800 Haushalten Lebensmittelpakete im Wert von durchschnittlich 40 Euro. Der Laden brummt, seit Beginn der Corona-Pandemie geht es richtig rund.
2018 haben sich in Ostwestfalen Bauern, Restaurantbetreiber und einige kleine Verarbeiter zur Genossenschaft Wochenmarkt24 zusammengeschlossen. Diese bietet ihre Produkte gemeinsam im Internet direkt den Endverbrauchern an - tagesfrisch. Ein Logistik-Unternehmen holt die Waren auf den Höfen ab und bringt sie in eine Halle. Dort stellen Mitarbeiter die Warenpakete für die Kundschaft zusammen. Wer werktags bis 18 und samstags bis 14 Uhr online bestellt hat, bekommt seine gefüllte Thermobox in der folgenden Nacht vor die Tür gestellt. Schwierig ist es noch für die Bewohner der Innenstadt. Nachts klingeln die Lieferfahrer nicht und auf dem Bürgersteig stellen sie die Ware auch nicht ab. Hier könnten die Pakete geklaut oder beschädigt werden. „Wir arbeiten an einer Lösung", verspricht Eike-Claudius Kramer. Bald sollen die Kunden in der Stadt ihre Pakete in benachbarten Geschäften abholen können. Die Auswahl: frisches Obst, Gemüse, Fleisch, Milch, Eier, Käse, Backwaren, Fisch, Aufstriche, Marmeladen und sogar fertige Gerichte örtlicher Restaurants, von Spaghetti über äthiopischen Kichererbsen-Wot bis zu ausgefallenen Nachspeisen. Stephan Graute züchtet Schafe und alte Schweinerassen. Im Handel findet er dafür keine Abnehmer. Die Mengen sind zu gering und das Fleisch entspricht nicht den Normen. Zu seinem mageren Wildfleisch brauche man „vernünftigen Speck". Den bekommt er nur von den Schweinen der alten Rassen. Doch diese Tiere wachsen langsamer. Das macht das Fleisch teurer.
Dafür bietet Graute seinen Schafen und Schweinen ein artgerechtes Leben. Der Landwirt mit der ruhigen, leisen Stimme sieht sich als Idealist. Seine Tiere begleite er „mit Herzblut von der Geburt bis dass ihr Weg bei uns vorbei ist". Er wird nachdenklich. „Wenn wir Fleisch essen wollen, müssen wir uns auch damit auseinandersetzen, dass alles einen Anfang hat und auch alles ein Ende." Graute bringt seine Tiere selbst zum Schlachter in der Nähe.
Der Milchhof Strothlüke hat für Passanten eine „Milchtankstelle" eingerichtet - Foto: Robert B. FishmanDavon ahnen seine Walliser Schwarznasenschafe noch nichts. Sie lassen sich gerne über ihre schwarzen Köpfe streicheln. Tagsüber grasen sie draußen auf den Weiden der flachen Sennelandschaft. Graute hat sich einen ausrangierten Golf-Caddy umgebaut, mit dem er ihnen Wasser und Futter bringt. Arbeiten kann der Landwirt nur so tierwohl-freundlich, weil er direkt vermarktet. 500 Euro zahlen die Betriebe für einen Genossenschaftsanteil. Das Prinzip: Jedes Mitglied hat eine Stimme, unabhängig von der Höhe der Einlage. Gestartet war Wochenmarkt24 mit einer sechsstelligen Investition von Robert Tönnies, dem Neffen des Großschlachters Clemens Tönnies im nahen Rheda-Wiedenbrück. Seit Jahren streiten die beiden über die Zukunft des Fleisch-Imperiums. Deshalb möchte sich Robert Tönnies nicht mehr öffentlich äußern. Eike Claudius Kramer, geschäftsführendes Vorstandsmitglied, ist selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen. Sein Vater hatte eine kleine Landwirtschaft mit angeschlossenem Hofladen. Doch Berufstätige haben kaum noch die Zeit, auf einem Bauernhof einzukaufen. Im Internet geht es schneller und einfacher. 20 Prozent des Umsatzes führen die Lieferanten an Wochenmarkt24 ab - für die Logistik, die Technik und die Verwaltung. Im Online-Shop zahlen die Kundinnen und Kunden etwa genau so viel wie im Laden - inklusive Lieferung frei Haus. Mindestbestellwert: 20 Euro. Für die Bäuerinnen und Bauern lohnt es sich ab etwa 10 bis 20 Bestellungen am Tag. Wochenmarkt24 könnte mit anderen Direktvermarktungsangeboten helfen, die Landwirtschaft nachhaltiger, umwelt- und klimafreundlicher zu gestalten. Viele kleine Höfe überleben nur, weil sie hier höhere Preise für ihre Produkte bekommen. Im Netz finden auch kleine Mengen und ausgefallene Lebensmittel Abnehmer. So können die Landwirtinnen und Landwirte ihre Betriebe diversifizieren und auf kleineren Flächen mehr unterschiedliche Pflanzen anbauen. Damit bringen sie Abwechslung auf die Äcker, stärken so Bodenfruchtbarkeit und Artenvielfalt. An blühenden Pflanzen, die zwischen kleineren, vielfältigeren Feldern wachsen, finden Insekten Nahrung. Die meisten Kunden der Direktvermarkter sind eher bereit, etwas mehr für Lebensmittel zu bezahlen, als der durchschnittliche Einkäufer beim Discounter. Rund 13 Prozent der bei Wochenmarkt24 bestellten Waren sind Bio-Produkte, gut doppelt so viele wie im deutschen Einzelhandel. Vermarktet wird nur in der jeweiligen Region. Die Transportwege bleiben kurz. Die Landwirte produzieren, was die Kunden bestellt haben. So entstehen deutlich weniger Lebensmittelabfälle. „Ich schlachte die Kuh erst, wenn alle Teile verkauft sind", erklärt Heike Zeller, die an der Fachhochschule Weihenstephan zu landwirtschaftlicher Direktvermarktung forscht.
Nicht zu unterschätzen sei auch der psychologische Effekt: Die meisten Direktvermarkter bieten Hofführungen an, auf denen Bauern und Verbraucher einander kennenlernen. „Die Landwirte erfahren, was die Konsumentinnen und Konsumenten wünschen und umgekehrt." Immer wieder hat Zeller auch von Direktvermarktern gehört, dass sie sich und ihre Arbeit in den Begegnungen mit den Kunden wertgeschätzt fühlten. In Zeiten, in denen Bauern unter dem schlechten Image als Klima- und Umweltzerstörer leiden, ist dies ein wichtiger Faktor. Auch Klima, Lebensmittelproduktion und deren Umweltfolgen würden auf den Höfen für die Städterinnen und Städter „direkt erlebbar". So verstünden die Menschen die Zusammenhänge besser.
Gabriele Mörixmann achtet auf Tierwohl. Die teurere Haltung fängt sie auf, indem sie den Zwischenhandel umgeht - Foto: Robert B. FishmanNoch sei der Effekt aber gering, weil nur etwa sechs bis acht Prozent der Betriebe ihre Produkte direkt vermarkten. Viele vor allem kleinere Höfe hätten für einen eigenen Hofladen oder Online-shop zu wenig verschiedene Produkte im Angebot, gibt etwa Jürgen Braun zu bedenken. Er lehrt Nachhaltige Agrar- und Ernährungswirtschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen. Direktvermarkter fassen die verschiedenen Nischenangebote einzelner Erzeuger auf einer Internetseite zusammen. So bekommen die Kunden Produkte zahlreicher Anbieter mit nur einer Lieferung, die sie online komplett bezahlen. Die Verteilung der Umsätze an die beteiligten Lieferanten übernimmt die Plattform. Für Jürgen Braun und Heike Zeller treffen die Direktvermarktungsplattformen den Nerv der Zeit: Immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher wollen wissen, wie ihre Lebensmittel hergestellt werden und woher sie kommen. Regional ist den meisten noch wichtiger als Bio. Die meisten Mitglieder von Wochenmarkt24 haben auch schon vorher direkt vermarktet - zum Beispiel mit einem eigenen Hofladen. Für alle anderen ist der Aufwand zunächst groß. Sie müssen ihre Produkte verpacken, fotografieren und präsentieren. Statt einmal täglich ein Molkereiwagen, der die Milch abholt, kommen den ganzen Tag über viele kleine Bestellungen, Anfragen von Verbraucherinnen und Verbrauchern, Mails und Anrufe. All das zu bearbeiten kostet Zeit und Energie. Doch wer sich darauf einlässt, wird in der Regel belohnt. In Osnabrück ist Wochenmarkt24 zum Jahreswechsel gestartet. Hier betreibt Gabriele Mörixmann ihren „Aktivstall für Schweine". Wenn die fröhliche Frau ruft und pfeift, kommen in einer mit frischem Stroh ausgestreuten Halle hunderte rosa Ferkel angelaufen. Die Tiere drängen zu ihr und knabbern an ihren Schuhen und ihrem leuchtend roten Overall. Alle wollen ein paar Streicheleinheiten abbekommen.
Begeisterte Kommentare auf FacebookBegeistert führt die Landwirtin durch ihr Schweineparadies: eine Landschaft, hell, überdacht und größer als zwei Schulturnhallen mit Fressbereich, Dusche, Badewanne, Heu-Ecke, Raufutter-Stationen, Leckerli-Eimern, quietschgelben Plastikbällen und weiterem Spielzeug. An einer Beckentränke trinken die Tiere wie aus dem Fluss. Dahinter geht es raus auf die „Terrasse", wo die Säue im Stroh aneinandergekuschelt in der Sonne dösen. Mörixmann ist es wichtig, dass sie alle ihre unversehrten Ringelschwänze behalten: „ein Zeichen, dass es den Tieren gut geht". 2020 hat die Bundeslandwirtschaftsministerin Mörixmann für ihr Konzept „als wichtige Impulsgeberin für die Landwirtschaft" mit einer Medaille ausgezeichnet.Das Fleisch vermarktet der Betrieb über eine Metzgerei. Diese verkauft es auch übe das Internet. Mörixmann freut sich über die vielen Anrufer, die sich den Aktivstall gerne ansehen möchten. Nach Verabredung bietet sie auch Besichtigungen unter Corona-Bedingungen an. Öffentlichkeitsarbeit macht ihr Spaß. Rund 5.000 Follower auf Instagram versorgt die Landwirtin laufend mit neuen Bildern von ihren Tieren. Dort, auf Facebook und Youtube erntet sie begeisterte Kommentare.
Die Molkerei zahlt weniger als die Hälfte
Doch Tierwohl kostet Geld. 30 bis 50 Prozent teurer sei ihr Fleisch im Vergleich zu konventioneller Ware aus der Massenproduktion. Einen Teil der Mehrkosten fängt Mörixmann auf, indem sie den Zwischenhandel umgeht. Und Menschen, die den Hof kennen, sind eher bereit, mehr fürs Fleisch zu bezahlen. Ähnliche Erfahrungen macht Milchbauer Dennis Strothlüke in Bielefeld. Der 36-jährige hätte ohne seine Direktvermarktung „wahrscheinlich schon längst die Türen für immer abgeschlossen". Umgerechnet etwa 60 Cent bringt ihm ein Liter Milch, den er über Direktvermarkter verkauft. Die Molkerei zahlt weniger als die Hälfte: 29,7 Cent. Eine „traurige, jämmerliche Verarschung am Erzeuger" nennt der gelernte Elektriker und Landwirt diesen Preis. Dafür hat er aber auch eine Menge mehr an Kosten und Arbeit. Milch pasteurisieren, abfüllen, etikettieren und so weiter. Aus einem reinen Familienbetrieb mit einem Azubi wurde ein Unternehmen mit zusätzlich drei Festangestellten und zwei 450 Euro-Kräften. „Und die ganze Familie buckelt dann auch noch zur Not mit." Hinzu kommen die Kosten: die eigene Molkerei, Pasteurisierung, Abfüllung, Flaschen, Deckel, Etiketten und mehr. Der Bauer wird zum Unternehmer. Was er einnimmt, muss er wieder investieren. „Und wir tragen das Risiko", ergänzt Strothmann, der vor Jahren in den Betrieb eingeheiratet hat. „Das muss man auch alles kalkulieren und das Risiko muss man eingehen." Auch wenn ihm angesichts der Kosten und des Risikos „manchmal schummerig" wird, sagt er heute: „Das war der richtige Schritt für uns."
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