Ein Interview mit dem Aachener Politikwissenschaftler Richard Gebhardt über den Aachener Friedenspreis und die Kölner „Klagemauer", über die blinden Flecke der deutschen „Friedensfreunde" und die Dimensionen des Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft...
Interview: Uri Degania Uri Degania: Ende 2010 haben nahezu alle demokratischen Parteien Kölns und zahlreiche Kölner Initiativen in einer parteiübergreifenden Resolution gegen die als antisemitisch empfundenen Darstellungen an der „Kölner Klagemauer" protestiert. Solche parteiübergreifenden Resolutionen kommen unter konkurrierenden Parteien nur höchst selten vor. Wie beurteilen Sie als Politikwissenschaftler den Inhalt und die Wirkung dieser Resolution?Gebhardt: Resolutionen dieser Art sind immer symbolpolitische Rituale - und haben dennoch eine reale politische Wirkung. Wie Ortsschilder mit dem Zusatz „Düren gegen Rassismus", wie Stolpersteine oder die antifaschistische Umbenennung einer Straße. Diese Rituale bieten Orientierungspunkte dafür, wie die politische Kultur einer Stadt ausgerichtet werden soll. In ihnen zeigt sich das Selbstbild der Stadt, nicht die politische Realität. Das Signal ist aber klar: Den Aktivisten der Klagemauer werden die Grenzen der Kritik aufgezeigt.
Herr Herrmann stellt seit vielen Jahren vor dem Kölner Dom Papptafeln mit umstrittenen Aussagen auf. Er macht dies bis heute. Durch diese Tafeln wird das geistige Klima einer Stadt mit geprägt. Wie beurteilen Sie die Aktivitäten Herrmanns? Wie wirkt es auf Sie, wenn gerade Deutsche in der von ihm gewählten Weise Israel und Juden auf das Schärfste verurteilen?Ihre Frage berührt einen sehr grundsätzlichen Punkt: Wann schlägt die Kritik an der israelischen Regierung in Ressentiment um, ab wann werden die Grenzen der Kritik überschritten, ab wann werden antisemitische Stereotype eingesetzt, um die israelische Politik zu denunzieren? Prinzipiell ist das Recht auf freie Meinungsäußerung ein hohes Gut. Als politischer Aktivist wäre ich immer dafür, das Maximum auszuloten. Was aber als Maximum gilt, ist Resultat der Kräfteverhältnisse in der Öffentlichkeit. Und über die Frage, ab wann eine öffentliche Äußerung antisemitisch ist, herrscht kein Konsens - weder in der Wissenschaft, noch in der politischen Debatte. Die Diskussionen um die Walser-Rede, um Möllemann, Karsli, Hohmann oder eben die „Klagemauer" erinnern mich aufgrund der begrifflichen Konfusion, die in diesen Fällen herrschte, an das Wort des amerikanischen Verfassungsrichters Potter Stewart, der in einem konkreten Fall über die gesetzliche Ahndung von Pornographie zu befinden hatte, vor der konkreten Definition, was Pornographie denn sei, aber zurückschreckte. Sein Motto lautete schlicht: "But I know it when I see it..." Politologen sollten sich also nicht einbilden, dass sie die Grenzen der Kritik bestimmen oder Definitionen aufstellen können. Sie sollten schlicht den ideologischen Rahmen der Debatte aufzeigen.
Es verwundert mich immer, wenn eine Kritik der israelischen Politik mit dem Zusatz „gerade ich als Deutscher" versehen wird. Soll das bedeuten, dass wir „als Deutsche" so gut aus Auschwitz gelernt haben, dass wir nun den Israelis Ratschläge erteilen können, unsere Verantwortung also gerade in der Erteilung von Zensuren in Sachen Menschenrechte besteht?
Sie fragen, wie die „Klagemauer", von der ich mich als Pendler lange Jahre vor Ort überzeugen konnte, auf mich wirkt? Nun, prinzipiell habe ich kein Problem mit scharfer Kritik. Avigdor Lieberman wird in der israelischen Presse häufig als „Rassist" bezeichnet - warum sollte dies prinzipiell nicht auch an einer Kölner „Klagemauer" möglich sein? Warum sollten Herrmann und seine Mitstreiter nicht den Einsatz von Streubomben ein „Verbrechen" nennen können?
Wer wirklich die freie Rede und eine offene Gesellschaft verteidigen will, in der auch der Prophet Mohammed nach allen Regeln der blasphemischen Kunst verspottet werden darf, müsste auch diese Polemik aushalten können.
Der Aufschrei über die Situation in Gaza wäre also völlig legitim. Dies als subjektiver Eindruck vorweg. Wenn wir aber auf die konkrete Kölner „Klagemauer" schauen, erkennen wir in der Agitation gegen Israel folgendes Muster: Dämonisierung, Delegitimierung, Doppelstandards. Israel gilt als alleiniger Kriegstreiber und wird als „kollektiver Jude" symbolisiert, während die andere Konfliktseite - etwa die Hamas und deren antisemitische Charta - vornehm ignoriert wird. Schon Möllemann konnte trefflich gegen Ariel Scharon schimpfen und zugleich als Vorsitzender der Deutsch-Arabischen Gesellschaft einen Kotau vor dem damaligen syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad machen, ohne dass diesem „Menschenrechtler" irgendein Widerspruch aufgefallen wäre. Es ist gerade diese Einseitigkeit, die verdächtig ist. Und sobald das Recht auf freie Meinungsäußerung genutzt wird, um - wie im Kölner Fall - Ritualmordlegenden und mehr in den Umlauf zu bringen, ändert sich der Rahmen der Debatte. Denn dann steht nicht mehr das Recht auf Kritik, sondern die tatsächliche Volksverhetzung im Zentrum der Diskussion. Einen Beitrag zu Völkerverständigung leistet die „Klagemauer" also nicht. Für Walter Herrmann und seine Mitstreiter ist Israel der Schurkenstaat, die anderen Staaten und Konfliktparteien sind die Opfer. Und in seiner Agitation schreckt Herrmann auch nicht vor antisemitischen Stereotypen zurück. Sie haben das ja auf haGalil häufig dokumentiert. Die Grenzen der Kritik werden also im politischen Prozess ausgehandelt - und der verläuft nun einmal nicht unter aseptischen Laborbedingungen.
Von einigen Unterstützern wird Herrmann als ein „Opfer" wahrgenommen. Unterstützer von Herrn Herrmann haben eine repräsentative Auswahl seiner Plakate und Anklagen nun ins Internet gestellt.[] Dort finden wir Papptafeln mit folgenden Aussagen: „Zionismus = Rassismus"; „Wie zur Zeit der Apartheid in Südafrika - jetzt Boykott gegen israelische Produkte"; „Hitler ist Vergangenheit. Aber Israel ist Gegenwart! Nicht noch Einmal."; „gestern das Warschauer Ghetto, heute: das GAZA-Ghetto. Wie sich die Bilder gleichen!"; „Unterschriften gegen bedingungslose Kooperation mit Israel"; „Die Zionisten versuchen durch Medienpolitik den Islam in der ganzen Welt schlecht aussehen zu lassen"; „Gerade wir Deutschen dürfen nicht wieder wegsehen wie seit 1933"; „Boykottiert Israelische Waren!!!!"; „Israel zündelt am Pulverfass Naher Osten"; „Den Zionisten geht es nicht um Frieden sondern um UNTERWERFUNG unter ihr Diktat". Welche Funktionsweise haben solche Nazivergleiche?Nun, Nazivergleiche gehören zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland wie der Dom zu Köln. Ob links oder rechts, es geht wohl nicht ohne, das ist fast schon Teil unserer Nationalfolklore. Da wird sogar die Auseinandersetzung um einen schwäbischen Bahnhof zum „totalen Krieg" oder die Genugtuung eines Fußballers über ein Tor zum „inneren Reichsparteitag". Unvergesslich ist auch der ehemalige Trainer des VfB Stuttgart, der irgendwann zu Beginn der 1980er Jahre nach heftiger Kritik an seinem Stil sagte, er könne nun „nachempfinden, was die von der Kristallnacht Betroffenen mitmachen mussten." Dies ist ein schillerndes Beispiel für die Möglichkeit, durch eine vergleichende Verharmlosung auch noch selbst die Opferpose einzunehmen. Dieses Phänomen sitzt tief. Fällt Ihnen nicht auch auf, wie sehr gerade die bürgerliche Rechte selber einen Opfermythos schafft, indem sich Leute wie der Philosoph Norbert Bolz als Dissidenten in einer Diktatur der Gutmenschen gerieren? Und das, obwohl er in jeder Talkshow seinen einfältigen Snobismus ausleben darf?
Wie auch immer, Sie könnten über die Vielzahl der selbstgewählten Opferposen und Vergleiche eine kleine Satire schreiben. Denn nicht selten ist auch die öffentliche Aufregung sehr albern. Denken Sie nur an die unsinnigen Versuche, aus dem Sozialdemokraten Sarrazin einen Nazi zu basteln. Oder an den ulkigen Streit zwischen Johannes B. Kerner und Eva Herman: „Autobahn geht gar nicht..."
Idealtypisch können wir folgende Linie erkennen: Die Linke zielt mit solchen Vergleichen meist auf die maximale Denunziation des politischen Gegners. So spottete die antiimperialistische Linke über „Naziisrael" oder skandierte „USA-SA-SS". Die bürgerliche Rechte zielt meist auf die Entlastung des Dritten Reiches. Die objektive Folge der inflationär gebrauchten Vergleiche ist die Verharmlosung des Nationalsozialismus. Natürlich vermischen sich die Formen und Motive in der empirischen Realität. Im konkreten Fall der „Klagemauer" wird der Vergleich aber so häufig eingesetzt - Sie haben einige Beispiele ja gerade genannt -, dass sich wirklich die Verdachtsmomente verdichten, dass hier jemand nicht die Menschenrechte, sondern die Schuldabwehr, vor allem aber eine Dämonisierung Israels im Sinn hat. Dies ist dann Gegenstand der Kritik.
Und die Aachener Auseinandersetzung über die „Klagemauer" illustriert ja gerade, mit welch merkwürdiger Toleranz Nazivergleiche noch zum Kunstwerk geadelt werden. So erhob das ehemalige Vorstandsmitglied des Aachener Friedenspreises (AFP), Matthias Fischer, den Vorwurf, auf einem der Plakate der „Klagemauer" stünde „Gaza-Ghetto = Warschauer Ghetto". Dieser Wortlaut wurde von der stellvertretenden Vorsitzenden Vera Thomas-Ohst laut Aachener Zeitung bestritten. Das Original laute nämlich: „Gestern Warschauer Ghetto - heute Ghetto Gaza. Wie sich die Bilder gleichen". Dieser Vergleich sei zwar abzulehnen, er ist für Frau Thomas-Ohst jedoch nicht antisemitisch.
Eine Zusatzfrage: Sie haben viel über Rechtsextremismus geforscht und geschrieben. Würde man solche Aussagen nicht eher von Rechtsradikalen erwarten? Existieren Schnittmengen zur extremen Rechten?Würde die NPD mit der fraglichen Bildersprache und den von Ihnen oben genannten Parolen arbeiten, hätte die Antifa die „Klagemauer" längst über die Deutzer Brücke geschmissen. Vielleicht hätten sogar die Höhner oder Klaus der Geiger dazu aufgespielt, während Demonstranten die „Klagemauer"-Aktivisten von der Domplatte schunkeln. Warum also hier nicht? Nun, politische Agitation wird immer in einem bestimmten Kontext rezipiert. Das Publikum berücksichtigt Motive, Person und den politischen Rahmen. Und weil das Unikum Walter Herrmann nun einmal vielen Leuten als Gesamtkunstwerk, als linker „Friedensfreund" und Anwalt der kleinen Leute gilt, räumt man ihm bislang einen Kredit ein, den er längst überzogen hat. Ich könnte ihm jedoch noch so edle Motive zubilligen - in der Sache bemüht er Vergleiche und Forderungen, die sonst bei der extremen Rechten populär sind.
In unserem Beitrag „Wofür der Mossad noch verantwortlich ist" haben wir kürzlich ein neues Plakat dokumentiert, in dem die Ermordung eines italienischen ISM-Aktivisten durch islamische Salafisten so kommentiert wird: „Die Täter: Kollaborateure von MOSSAD (=israel. Terrororganisation)". Würden Sie solche öffentlichen Darstellungen noch als vereinbar mit einer demokratischen Streitkultur sehen?Ja, auf jeden Fall. Wenn dies das einzige skandalisierbare Beispiel wäre, so würden wir wohl weder in Aachen noch in Köln eine leidenschaftliche Debatte über die „Klagemauer" des Walter Herrmann führen. Übertreibungen, Polemik und Irrtümer gehören zum politischen Tagesgeschäft. Und dass der Mossad eine zivilgesellschaftliche Organisation ist, würden wohl noch nicht einmal dessen Mitarbeiter behaupten. Geheimdienste sind traditionell Zielscheibe schärfster Kritik. Nein, diese Polemik ist wohl eher skurril denn skandalös. Das könnten die Kölner locker aushalten.
Der Vorsitzende des „Aachener Friedenspreises" und zwei Kollegen haben kürzlich in einer Presseerklärung „Solidarität" mit Herrmann gefordert. Herr Otten sieht Herrmann als einen systematisch Verfolgten, dem großes Unrecht geschehe. „Wir erwarten und fordern von den Repräsentanten der Stadt, dem Oberbürgermeister und den Vertretern des Rates diesem unwürdigen Spiel ein Ende zu setzen" heißt es hier.[] Antisemitismus vermag er bei der „Klagemauer" nicht zu erkennen. Ist Herrmann das Opfer einer Verschwörung?Walter Herrmann ist inzwischen Opfer seiner Einseitigkeit und der Tatsache, dass sich die öffentliche Meinung teilweise gegen ihn wendet - und das nicht nur in Köln, wo er ja bislang als Original galt. Es war aber nicht klug vom Vorstand des AFP, in einem solch heiklen Fall nur die eine Seite, nämlich Herrn Herrmann, zu hören. Eine einfache Anfrage bei der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit hätte dem Vorstand des AFP sicher nicht geschadet. Auch ein Blick auf hagalil.de oder die Seite von Gerd Buurmann hätte gereicht, um zu sehen, dass jene Karikatur, von der sich auch der AFP distanziert hat, keineswegs ein Einzelfall war.
In besagter Aachener Presseerklärung finden wir eine erstaunlich anmutende Forderung. Dort heißt es: „Deshalb wenden wir uns zunächst an die Öffentlichkeit, um Hilfe für Walter Herrmann zu mobilisieren und über das ungerechte Hausverbot in der Alten Feuerwache und die rechtswidrige Kündigung des alten Pförtnerhäuschens an der Feuerwache zu informieren." Wie mutet es für Sie als Wissenschaftler an, wenn eine Aachener Initiative, die sich für den Weltfrieden einsetzt, sich sogar Urteile über komplexe interne Prozesse innerhalb eines pluralistischen Bürgerzentrums einer anderen Stadt erlaubt? Spricht dies für ein Bemühen, einen politischen Prozess zu verstehen?„Friedensfreunde" erlauben sich doch stets, die komplexen Zusammenhänge im Nahen Osten zu verstehen, um dann vom Kölner oder Aachener Schreibtisch aus Vorschläge für einen weltweit gerechten Frieden zu unterbreiten. Und wusste die deutsche Linke nicht über das noch weiter entfernte Lateinamerika immer ganz genau Bescheid, erteilten die deutschen Aktivisten den Befreiungsbewegungen nicht vollmundige Ratschläge, um sich dann Anfang der 1990er Jahre umso enttäuschter zu verkrümeln? Dagegen ist, mit Verlaub, die adäquate Beurteilung der Auseinandersetzung in der Alten Feuerwache doch wohl eine Fingerübung.
Aber Ironie beiseite: Es scheint im Fall des AFP, als ob der Wille, den Preisträger von 1998 zu unterstützen, jeden anderen vernünftigen politischen Schritt überlagert. Dabei war dieser Vorstand keineswegs immer so ignorant wie jetzt, wo die systematische Propaganda des Herrn Herrmann auf Einzelfälle reduziert wird. Erst vor rund einem Jahr hat der AFP unter Herrn Otten noch die öffentliche Präsentation von Claude Lanzmanns „Warum Israel" unterstützt. Dies hätten andere nicht getan. Anderntags referierte der Hamburger Historiker Volker Weiß sogar über „linken Antisemitismus", ohne dass Widerspruch geübt wurde. Hätte der Vorstand des AFP nicht eine solche Wagenburgmentalität und Ignoranz gegenüber der gegenwärtigen Kritik an den Tag gelegt, hätte es vermutlich die ganze Debatte nicht gegeben. Walter Herrmann ist als Person wohl sakrosant. Dafür zahlt man nun den Preis.
Die Auseinandersetzungen um die „Klagemauer" führen zu immer neuen Spaltungen. In Köln hingegen haben diese zur eingangs erwähnten Resolution geführt. In Aachen sind zwei renommierte Vorstandsmitglieder des Aachener Friedenspreises - Hilde Scheidt, für die Grünen Bürgermeisterin der Stadt Aachen, und Matthias Fischer, der der Partei Die Linke nahe steht - aus Protest gegen die Presseerklärung von ihren Ämtern zurück getreten. Sie haben mitgeteilt, dass sie über diese Presseerklärung nicht informiert wurden und haben die Aussagen der „Klagemauer" als antisemitisch geprägt verurteilt. In der Aachener Tagespresse wird über diese Auseinandersetzungen detailliert berichtet. Die Positionen zwischen den Protagonisten erscheinen als unvereinbar, es hagelt an gegenseitigen Vorwürfen. Dort heißt es u.a.: „Derweil hält Otten die Antisemtismus-Vorwürfe gegen den Friedenspreis-Verein für ungerechtfertigt und konstruiert. Zu Scheidts und Fischers Rückzug aus dem Vorstand sagt er: "Das ist logisch und konsequent." Darüber hinaus will er keine weiteren Erklärungen abgeben, "damit endlich Ruhe einkehrt"." Wie beurteilen Sie die jüngste Entwicklung innerhalb des Aachener Friedenspreises? Ist dieser Vorgang vielleicht repräsentativ für den Umgang mit Antisemitismus hierzulande? Gibt es blinde Flecken innerhalb der Linken, wenn es um Israel geht?Um mit Ihrer letzten Frage zu beginnen: Klar gibt es die - wie auch im bürgerlich-konservativen Lager. Sie wurden vor Jahren aber schon von Leuten wie Martin Kloke oder Thomas Haury so gründlich erforscht, dass es verwundert, warum so wenig zur Kenntnis genommen wird.[ 03] Um ehrlich zu sein sind jüngere Politikwissenschaftler wie ich deshalb auch wenig originell, da die eigentliche Grundlagenarbeit schon längst geleistet wurde. Und im Gegensatz zu Wolfgang Pohrt, der seine bemerkenswerten Essays zum Thema in den frühen 1980er Jahren schrieb, als die überwältigende Mehrheit der Linken mit „Pro PLO"-Buttons hausieren ging, müssen wir auch viel weniger Widerspruch riskieren. Die antizionistische Linke ist doch viel häufiger der Kritik ausgesetzt als damals. Und mitunter erleben wir auch das Phänomen, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Israel zum innerlinken Distinktionskampf verkommt, in dem aber in Wirklichkeit nur milieuspezifische Befindlichkeiten verhandelt werden.
Die von Ihnen erwähnten internen Zerwürfnisse des AFP kenne ich nur aus der Presse. Die Auseinandersetzungen laufen dort vermutlich so ab, wie es im politischen Geschäft wohl üblich ist: Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht... Aber natürlich wurden Scheidt und Fischer durch das Vorgehen des Restvorstands brüskiert. Es ist bedauerlich, dass die nicht geringen Verdienste des AFP von dieser Debatte überlagert werden. Die diesjährigen Preisträger wurden beispielsweise nach meiner persönlichen Überzeugung gut ausgewählt und vertreten honorige Ziele. Und für die Rechte von Flüchtlingen ist der AFP eine wichtige Stimme.
Als externer Beobachter betrachte ich den AFP aber nüchtern und stelle fest: Hier sehen wir die blinden Flecken von Teilen der Friedensbewegung und von Teilen des AFP im Besonderen. Die falsche Toleranz gegenüber Herrn Herrmann dokumentiert die fehlenden Kriterien darüber, ab wann eine Symbolsprache oder Position als antisemitisch zu bewerten ist. Das Thema gilt als lästig, man hat sich ja vom Einzelfall distanziert. Zudem fällt auf: Die Preisträger der letzten Jahre waren oft Repräsentanten der israelischen Friedensbewegung. Zu ihnen zählen Reuven Moskovitz, Uri Avnery, Gush Shalom oder die Frauen in Schwarz. Palästinensische Kritiker der Hamas sind mir ad hoc nicht bekannt. Was bedeutet diese Vergabepraxis aber in der Konsequenz? Unterschwellig doch wohl, dass vor allem Israel dem Frieden im Nahen Osten im Weg steht und zum Weltfrieden nur noch ein Palästinenserstaat fehlt. Dabei ist Israel der Staat in der Region, in der diese Opposition immerhin möglich ist, in dem die Siedlungspolitik scharf kritisiert wird. Wäre denn eine Zeitung wie Haaretz andernorts möglich?
Wenn ich das richtig erinnere, hat die Aachener Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit wegen der Preisverleihung an die „Frauen in Schwarz" den AFP schon früh verlassen. Auch der Antisemitismus war bereits vor Jahren ein Thema. Die Aachener VVN-BdA kritisierte beispielsweise entsprechende Äußerungen des damaligen Vorsitzenden Albrecht Bausch. Was nun ans Tageslicht kommt, sind Konfliktlinien, die vermutlich jahrelang vom guten gemeinsamen Ziel überlagert wurden. Teile der „Friedensbewegung" können berechtigte Kritik von antisemitischen Stereotypen nicht unterscheiden und beschweren sich dann, wenn es wiederum Kritik an den eigenen Fehleinschätzungen gibt, über angebliche Tabus. Das Muster des „Man wird doch wohl noch..." wird dann zur self-fullfilling prophecy.
Von Herrn Otten wird die Kritik an der „Klagemauer" als ein „Angriff auf die Freiheit der Kunst" interpretiert. Ist W. Herrmann ein verkannter Künstler in der Tradition von Picassos Gemälde Guernica?Auch mir war bislang nicht bekannt, dass es sich bei der „Klagemauer" um ein Kunstwerk handelt. Aber nach den Worten von Joseph Beuys und dessen erweitertem Kunstbegriff ist ja jeder Mensch ein Künstler. Warum also nicht auch Walter Herrmann und seine Mitstreiter? Doch schon das Material und der Ausstellungsort scheinen mir ungewöhnlich: Foto und Edding auf Pappe und Kordel in freier Luft vor historischer Kulisse. Signiert Herr Herrmann seine Exponate nun auch?
Aber im Ernst: Hier soll eine Verlagerung der Debatte vollzogen werden. Es gibt übrigens ein großartiges Bild von Martin Kippenberger, das ich gerne in Seminaren zeige. Auf dem Bild sind verfremdete Hakenkreuze sichtbar, der Titel lautet: „Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen". Dabei kann jeder, der sich mit der Geschichte seiner deutschen Heimatstadt auskennt, in den öffentlichen Gebäuden die Spuren der Vergangenheit sehen; dabei kann jeder, der oder die mit wachen Ohren Sozialforscher spielt und den Leuten zuhört, mitunter „ein Hakenkreuz erkennen". Laut der Leipziger Studie „Die Mitte in der Krise" haben über 8 Prozent der Bevölkerung ein geschlossen rechtsextremes Weltbild. Und nun gibt es Friedensfreunde, die können in Losungen wie „Gestern Warschauer Ghetto - heute Ghetto Gaza" beim besten Willen keine vergleichende Verharmlosung, keinen Antisemitismus entdecken.
Es wird immer wieder angeführt, „dass man doch wohl endlich Israel kritisieren" dürfen wolle. Jeder, der die innerisraelischen Diskussionsprozesse verfolgt, weiß hingegen von der Schärfe, mit der in Israel selbst um die Nahostpolitik gerungen und gestritten wird. Existiert in Deutschland ein Tabu, über die israelische Politik zu streiten? Die letzten Überlebenden der Shoah werden nicht mehr lange unter uns leben. Hat der Wunsch hierzulande, einen „Schlussstrich" zu ziehen, zugenommen?Wie gesagt: Kritik an der israelischen Regierung findet auch in Deutschland täglich statt, ohne das eine Zensur stattfindet. Gab es in den letzten Jahren einen Politiker, der schlechtere Kommentare erhalten hätte als Ariel Scharon? Wohl kaum. Selbst George W. Bush hatte bessere Presse. Und auch die Springer-Blätter Welt und Bild berichten nicht so schablonenhaft, wie es die pro-amerikanischen und pro-israelischen Redaktionsrichtlinien nahe legen. Ich wiederhole noch einmal: Objektiv betrachtet ist der Satz „Man wird doch wohl noch Israel kritisieren dürfen..." nicht nur ressentimentgeladen, sondern auch furchtbar feige. Der Klartext lautet ja „Ich würde ja gerne, darf aber nicht..." - weil eben irgendwelche bösen Mächte vermutet werden.
Es gibt in Deutschland das merkwürdige Gefühl, die israelische Politik nicht kritisieren zu dürfen. Merkwürdig deshalb, weil uns ein Blick in die Presse von FAZ bis taz eines besseren belehrt. Dieses „Gefühl" reagiert auf den offiziellen Sprachgebrauch der Bundesregierung, in der immer von der „besonderen Verantwortung" die Rede ist. In der Tat sind die Beziehung zwischen Deutschland und Israel besondere, nicht nur auf diplomatischer und symbolpolitischer Ebene. Aber ein aufwühlender Streit wie früher zwischen dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin und Helmut Schmidt wäre heute doch schon aufgrund der völlig anderen Biografien nicht mehr denkbar. Übrigens fragte schon damals, im Jahre 1981, als Begin die Kritik des deutschen Bundeskanzlers an der israelischen Regierung wegen Palästina sehr schroff mit dem Hinweis auf dessen Position als Oberleutnant in der Wehrmacht zurückwies, der Spiegel auf seinem Titelbild in Frakturschrift: „Sind wir alle Nazis?" Das hatte Begin zwar in dieser Absolutheit gar nicht behauptet, aber diese Frage funktionierte nicht nur als journalistischer Reißer. Sie war und ist bis heute wohl Grundnahrungsmittel für dieses deutsche Gefühl, zwar Exportweltmeister zu sein, als Nation aber immer noch auf der moralischen Anklagebank zu sitzen. Klagen dieser Art, mal geraunt und angedeutet, mal offensiv vorgetragen, sind nach Vorträgen nicht selten. Schauen Sie, meine sozialpsychologischen Fähigkeiten sind sehr bescheiden, aber ich werde den Eindruck nicht los, dass ein Teil des deutschen Publikums ernsthaft glaubt, seit Jahrzehnten ein „Opfer der Opfer" zu sein - und deshalb einen „Schlussstrich" fordert. Für einen Ideologietheoretiker ist diese Verkehrung eine schöne Herausforderung.
Sie fragen noch nach dem Tabu. Das Phänomen, den Antisemitismusvorwurf inflationär gegen politische Gegner einzusetzen gibt es sicher bei Teilen der israelischen Rechten. In Deutschland gilt dies für eine Subzene, in der „Israel" längst zum Fetisch geworden ist, weshalb die Debatte starke ideologische Züge trägt. Der Vorwurf trifft aber nicht den Zentralrat der Juden oder die israelische Botschaft. Schauen wir uns die Fälle der letzten Jahre doch an: Skandalisiert wurde die „Kritik" immer dann, wenn durch Nazivergleiche der NS-Staat verharmlost wird, Israel das Existenzrecht in sicheren Grenzen abgesprochen und der Protest etwa gegen die Siedlungspolitik von antisemitischen Bildern begleitet wird. Und das war an der Kölner „Klagemauer" eben kein Einzelfall, wir haben ja ausführlich darüber gesprochen.
Sie haben kürzlich in Köln die sehr gut besuchte Konferenz „Dimensionen des Antisemitismus in der Einwanderergesellschaft" mit organisiert. Ist der Antisemitismus unter Teilen der muslimischen Einwanderer stärker als der unter Deutschen? Was halten Sie von Projekten wie denen Dogan Akhanlis[], der regelmäßig Führungen mit türkischen und kurdischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kölner EL De Haus anbietet?Dass die Tagung überraschend gut besucht war, lag an der guten Vorarbeit der Kölner Kollegen, allen voran Marcus Meier von der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und Anne Klein von der Universität zu Köln sowie vielen anderen Projekten vor Ort. Der primäre Grund für die große Resonanz ist aber die Tatsache, dass viele Praktiker in der politischen Bildungsarbeit mit neuen Situationen konfrontiert werden.
Deshalb erzähle ich zum Schluss eine Anekdote: In einem meiner Seminare verteidigten zwei unserer Studenten, die in Marokko geboren wurden und im Alter von zirka zwölf nach Deutschland gekommen sind, die Protokolle der Weisen von Zion. Außerdem lobten sie den zum Islam konvertierten Ex-Kommunisten und antisemitischen Revisionisten Roger Garaudy als großen Intellektuellen. Meinen Widerspruch kommentierten sie trocken wie folgt: Als Deutscher müsse ich ja so politisch korrekt reden, wie ich rede. Und natürlich hätten sie nichts gegen Juden, aber... Von den autochthonen Studenten kam kein Einwand, einen ordinären biodeutschen Auschwitzleugner hätte man wohl gleich rausgeworfen. Diese Situation war sehr interessant - Studenten mit Migrationshintergrund legitimieren völlig unbefangen antisemitische Klassiker, und der Rest reagiert hilflos.
Dieser ideologische Re-Import steht im Zentrum unserer aktuellen Untersuchungen. Auffällig ist, dass zu diesem Thema zahlreiche Anekdoten und Fallbeispiele bekannt sind, bislang aber kaum belastbare empirische Studien erhoben wurden. Natürlich ist diese Debatte ideologisch aufgeladen, aber deshalb interessiert sie mich ja auch so sehr. Wenn wir von „Einwanderern" reden, sind hier doch meist muslimische Jugendliche gemeint. Dies trägt mitunter projektive Züge, weil hier mit Generalisierungen und Unterstellungen gearbeitet wird - und zwar nicht nur bei den rassistischen „Israelfreunden" von Politically Incorrect. Antisemitismus gibt es nun aber auch bei Deutschen, die einen polnischen Hintergrund haben. Der Terminus „Katholofaschismus" ist mir jedoch noch nirgends begegnet. Auch Juliane Wetzel, die 2002 die zunächst unter Verschluss gehaltene EU-Studie zum Thema mit verfasst hat, kritisiert einseitigen Zuschreibungen, die sich per se gegen Muslime richten. Dem stimme ich zu.
Das Projekt von Dogan Akhanli kenne ich nur oberflächlich, der Ansatz scheint mir aber produktiv. In einer Einwanderungsgesellschaft werden wir in der politischen Bildung vielfach mit Leuten konfrontiert, die beim Thema „Krieg" nicht zunächst an Düren, Dresden oder Stalingrad denken, bei „Diktatur" nicht direkt an Adolf Hitler und bei „Genozid" nicht an die Shoa. Die Gedenkpolitik und die Erinnerungskultur werden sich ändern, das ist keine Frage mehr.
Mein Eindruck ist bislang folgender: Die spezifische Qualität eines „neuen" Antisemitismus kann ich als Sozialwissenschaftler nicht ignorieren. Doch der anekdotische, über Erfahrungsberichte und Pressemeldungen vermittelte Zugang zum Thema hat enge erkenntnistheoretische Grenzen. Wenn ich aber nur beschreibe was ich sehe - ja nun, dann ist der Mond halt bloß eine beleuchtete Scheibe. Ich muss also die Triebkräfte und Kausalzusammenhänge sozialer Phänomene analysieren. Das bedeutet: Die tatsächliche Dimension des Antisemitismus in migrantischen Milieus muss noch genauer erforscht werden. Bislang habe ich dazu mehr Fragen als Antworten. Es scheint es mir aber in der Tat, dass männliche muslimische Jugendliche in dieser Debatte nicht selten als Projektionsfläche fungieren, damit vom Antisemitismus der Hoh- und Möllemänner geschwiegen werden kann. Auch die derzeitige Debatte über „linken Antisemitismus" ist nicht frei von solchen Zügen. Wenn ich sehe, wer da gerade alles über Gysis bunte Truppe richtet, frage ich mich, ob die Christdemokraten wirklich glauben, dass es in ihren Reihen keinen Antisemitismus gibt, der sich hinter der Maske einer unverfänglichen Kritik verbirgt.
„Klagemauer" und AFP sind Symptome der Gesamtgesellschaft, und es wäre verlogen, nur mit dem Finger auf jene Teile des AFP zu zeigen, die objektiv falsche Toleranz üben und im Nahostkonflikt sehr einseitig Partei ergreifen. Aus meinen zahlreichen Vorträgen in der Erwachsenenbildung weiß ich, dass in der berühmten deutschen „Mitte der Gesellschaft" immer noch derart viel Unsinn über „die Juden" im Umlauf ist, dass man doch insgesamt die Grenzen der Aufklärung zur Kenntnis nehmen muss. Poliakovs Wort, dass man, bevor man einem Antisemiten vom Gegenteil seiner Auffassung überzeugt, eher einem Affen das Sprechen beibringen kann, bewahrheitet sich leider allzu oft.
Das ist nun ein ernüchterndes Statement am Ende unseres sehr grundsätzlichen Interviews, aber solange ich als Politikwissenschaftler öffentlich tätig sein kann, werde ich keine rosaroten Szenarien entwerfen. Judenfeindschaft wird es langfristig in einem signifikanten Maße geben und es wäre eine Selbstüberschätzung zu glauben, man könne dem mit politischer Bildung beikommen. Wenn wir unsere Aufgabe gut machen, dann können wir helfen, das antisemitische Potenzial einzudämmen. Und wenn wir unsere Aufgabe besonders gut machen, dann können Sie auf haGalil und ich in der politischen Bildung an der Universität dem Publikum vermitteln, warum die „Klagemauer" die Grenzen der Kritik längst überschritten hat.
Richard Gebhardt ist Dozent am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen und forscht zur extremen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland sowie zur politischen Kultur der USA. Als langjähriger Referent in der Erwachsenenbildung bietet er Workshops und Vorträge zum „neuen" Antisemitismus an. Er war Mitorganisator der Tagung „Dimensionen des Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft", die im Mai 2011 in der Kölner VHS stattfand. Zuletzt hat er mit Dominik Clemens den Sammelband „Volksgemeinschaft statt Kapitalismus? Zur sozialen Demagogie der Neonazis" (Köln 2009) herausgegeben. Darüber hinaus schreibt Gebhardt regelmäßig für die Berliner Wochenzeitung jungle world. Zum Thema des Interviews erschien: „"Demokratische Grundhaltung verloren". Der Politikwissenschaftler Richard Gebhardt wirft dem Friedenspreisträger Walter Herrmann „Propaganda auf Pappe" vor", in: Aachener Zeitung, Fr. 5. August 2011 (Nummer 180), S. 15.