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Die Kämpferin gegen Wall Street

Elizabeth Warren gilt als der grösste Alptraum der Wall Street. Wer ist diese Politikerin, die sich als führende Kritikerin der Geschäftspraktiken der grossen Banken etabliert hat?


Elizabeth Warren kann sich noch genau an den Tag erinnern, an dem ihre Kindheit ein abruptes Ende fand. Frühling 1962: "Ich stand im Schlafzimmer meiner Mutter. Sie hatte ein schwarzes Kleid aus dem Schrank gezogen und es auf das Bett gelegt. Sie weinte." Pauline Herring, so hiess Warrens Mutter, war eine typische Hausfrau der Nachkriegszeit. Sie besorgte in einem Vorort von Oklahoma City den Haushalt und zog vier Kinder gross. Elizabeth, oder "Betsy", wie sie damals noch genannt wurde, war das Nesthäkchen. Donald Herring, Betsys Vater, war für den Broterwerb zuständig, und arbeitete als Autohändler und Teppichverkäufer. Die Wirtschaft prosperierte, und wer einer geregelten Arbeit nachging, der konnte sich und seiner Familie ein anständiges Leben mit einem kleinen Haus und zwei Autos ermöglichen.


Doch die Idylle trog; ein Fehltritt reichte aus, und ein typischer Mittelklasse-Haushalt sah sich mit einer existenziellen Krise konfrontiert. Als Donald einen Herzinfarkt erlitt und seinen Job als Verkäufer verlor, wurde das Geld knapp und die kleine, heile Welt der Familie Herring geriet aus den Fugen. Da entschied sich Pauline, die Dinge in ihre Hand zu nehmen. Sie bewarb sich um eine Stelle als Telefonistin in einem lokalen Warenhaus. Das schwarze Kleid legte sie bereit, um am Vorstellungsgespräch einen möglichst guten Eindruck zu machen. Es war angejahrt und zu eng, wie die 12-jährige Betsy schnell erfasste. Und doch antwortete sie auf die entsprechende Frage ihrer Mutter: "Du siehst fabelhaft aus. Wirklich."


Wer Elizabeth Warren verstehen will, wer wissen will, was diese zierliche Frau antreibt, Bild: bloomberg der muss diese Episode verstehen. An diesem Frühlingstag im Jahr 1962 habe sie gelernt, dass sie kämpfen müsse, sagt sie heute. Denn ohne Kampf komme die amerikanische Mittelklasse nicht vom Fleck - wie ihre Lebensgeschichte, die Warren jüngst unter dem Titel "A fighting chance" publiziert hat, bestens zeigt. Warren beschreibt in diesem Buch den Aufstieg der jungen Betsy zur wohlhabenden US-Senatorin und die vielen Zwischenstationen auf dem Weg von Oklahoma nach Washington.


National bekannt wurde Warren in den turbulenten Monaten der Finanzkrise, als sie im November 2008 auf Zuruf des mächtigen Demokraten Harry Reid zur Chefin eines parlamentarischen Aufsichtsgremiums über den Wall-Street-Rettungsfonds TARP (Troubled Asset Relief Program) ernannt wurde. Diese Rolle war der unprätentiös auftretenden Harvard-Professorin auf den Leib geschrieben, auch weil sie der breiten Bevölkerung in einfachen Worten komplexe Zusammenhänge erklären konnte.


Rasch stieg Warren in Washington zur führenden Kritikerin des Rettungsfonds auf. Sie sagte, mit der staatlichen Milliardenspritze werde letztlich das Fehlverhalten der Banken belohnt - während Amerikas Mitteklasse ums Überleben kämpfe. "Wir haben den Falschen aus der Patsche geholfen", lautet das bittere Fazit Warrens.


Heute ist Warren eines von 100 Mitgliedern des US-Senats und Sprachrohr der progressiven Fraktion ihrer Partei - scherzhaft auch der "Elizabeth-Warren-Flügel der Demokratischen Partei" genannt. Noch immer kommt die Populistin richtiggehend in Fahrt, wenn sie in den Medien über die Vorzugsbehandlung spricht, die den Grossbanken in Washington zukomme. Die grossen Finanzinstitute hielten das ganze Land unter der Knute, behauptet Warren. Dies habe sich mit aller Deutlichkeit in der Finanzkrise gezeigt. Die logische Folge des Kollapses der Wall Street wären Strafverfahren gewesen. Doch sie habe vergeblich darauf gewartet, dass führende Banker und ihre Unternehmen unter Anklage gestellt würden. "Denn in den Augen der Behörden war die Finanzkrise eine Naturkatastrophe, ein unvermeidbares Ereignis."


Diese Sichtweise ist in den Augen von Elizabeth Warren aber grundfalsch. Die Krise habe sich ereignet, weil die Finanzindustrie wissentlich falsche Entscheide getroffen habe. "Das Geschäftsmodell der Finanzindustrie basierte auf Betrügereien." Und deshalb wäre es "moralisch" gerechtfertigt gewesen, die führenden Manager zur Verantwortung zu ziehen, sagt die Senatorin.


Warren wettert aber nicht bloss in den Medien gegen die Wall Street, sie tut dies auch im Parlament. Zugute kommt ihr dabei der Einfluss, den sie als eines von 22 Mitgliedern des Bankenausschusses besitzt. Und obwohl sich die Demokratin in Washington als Aussenseiusterin aufführt, kann sie bereits Resultate vorweisen. Zum Beispiel in der Debatte um den Umgang der Aufsichtsbehörden mit systemrelevanten Banken, die gegen Gesetze verstossen haben (Stichwort: "too big to jail"). Bereits an ihrer ersten Ausschusssitzung im Februar 2013 fragte Warren die damalige Chefin der Börsenaufsicht, Elisse Walter, wann die SEC letztmals eine Wall-Street-Bank vor Gericht gezogen habe. Leicht verdutzt gab Walter zurück, sie habe auf diese Frage gerade keine Antwort parat.


Einen Monat später goss Justizminister Eric Holder mit einem verblüffenden Eingeständnis Öl ins Feuer. Während eines Auftritts im Justizausschuss des Senats sagte der Parteikollege Warrens in einer Randbemerkung: "Ich bin besorgt darüber, dass einige dieser Finanzinstitutionen derart gross geworden sind, dass es für uns schwierig wird, sie zu belangen." Holders Eingeständnis machte Warren derart wütend, dass sie tags darauf im Bankenausschuss die Vertreter der Aufsichtsbehörden in den Schwitzkasten nahm. Sie wies darauf hin, dass die britische Grossbank HSBC zugegeben habe, Drogengelder gewaschen zu haben - und dennoch sei das systemrelevante Institut und das HSBC-Management strafrechtlich nicht belangt worden. "Wie viele Milliarden von Drogengeldern muss man waschen, bis jemand die Schliessung einer Bank in Erwägung zieht?" fragte die Senatorin in einem scharfen Tonfall.


Die indirekte Antwort auf diese Frage lieferte Justizminister Holder mit etwas Verspätung im Frühling 2014. Anfang Mai publizierte sein Ministerium eine Videobotschaft, in der Holder mit aller Deutlichkeit versicherte: "Keine Bank steht über dem Gesetz." Dieses Prinzip gelte auch für systemrelevante Institute und deren Angestellte. Nicht alle Beobachter sind allerdings der Meinung, dass diese rhetorische Kurskorrektur Holders dem Einfluss von Elizabeth Warren geschuldet ist.


Der renommierte Rechtsprofessor John Coffee, der an der Columbia Law School in New York lehrt, macht dafür vielmehr den Wirtschaftsaufschwung verantwortlich. Vor fünf Jahren, im Nachgang zur Finanzkrise, habe das Weisse Haus strafrechtliche Verfahren gegen Banken als wirtschaftspolitisch inopportun bezeichnet - weil das Bankensystem äusserst sensibel auf eine Destabilisierung reagiert hätte. Deshalb verhallte Warrens Kritik an TARP und "too big to jail" ungehört. Nun aber "geht diese Angst nicht mehr um", sagt Coffee im Gespräch. "Das Finanzsystem ist wieder stabil", und Holder könne Grossbanken härter anpacken.


Aber selbst Kritiker von Warren räumen ein, dass die Senatorin geschickt den Finger auf wunde Punkte der amerikanischen Wirtschaftsordnung lege. So schlug sie im Sommer 2013 - Seite an Seite mit dem Republikaner John McCain - die Wiedereinführung des Trennbankensystems vor. "Wir wollen das Bankgeschäft wieder langweilig machen", begründete Warren den Vorstoss. Die Neuauflage des Glass-Steagall-Gesetzes lief allerdings in der vorberatenden Kommission auf Grund.


Bereits wird die Senatorin als Präsidentschaftskandidatin gehandelt - obwohl Warren gemäss eigenen Aussagen keine Aspirationen auf das Weisse Haus besitzt. "Ich bewerbe mich nicht für die Präsidentschaft", sagt sie immer wieder, weil sie immer und immer wieder auf dieses Thema angesprochen wird. "Ich liebe den Senat." Denn dort könne sie für Amerikas Mittelstand kämpfen.