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Das Berghain feiert "kommunistischen Forrest Gump"

Gruff Rhys (l.) und Boom Bip alias Neon Neon auf der Bühne

Man hatte uns gewarnt: Die Musik wird laut, auf der Bühne werden nackte Menschen zu sehen sein. Und sogar Pistolenschüsse sollen fallen. Was heute im Berliner Berghain aufgeführt wird, ist nichts für Zartbesaitete.


Trotzdem ist die Vorstellung ausverkauft. An zwei Abenden der Berliner Festspiele gastiert hier im Klub das Elektropop-Duo Neon Neon, das aus Gruff Rhys besteht, dem Anführer der Super Furry Animals, und dem amerikanischen HipHop-Produzenten Boom Bip. Mithilfe des Autors Tim Price und des National Theatre Wales haben die Musiker ihre Platte "Praxis Makes Perfect" in eine Art Musical verwandelt.


Es erzählt die Geschichte eines Lebens zwischen Büchern und Bomben, die Geschichte von Giangiacomo Feltrinelli. Rhys nennt ihn "den kommunistischen Forrest Gump". Als Verleger politisch heikler Romane schrieb Feltrinelli Geschichte. Der Revolutionär war ein enger Freund von Rudi Dutschke. Ihm ist es auch zu verdanken, dass das Bild von Che Guevara durch die Studenten-WGs zur Ikone wurde.


Eine rote Karte für die deutsche Asylpolitik


Eine außergewöhnliche Lebensgeschichte verlangt eine außergewöhnliche Inszenierung. Für die hat die Regisseurin Wils Wilson gesorgt. "Praxis Makes Perfect" soll das Publikum integrieren, als wäre es selbst Teil der Szenerie. Es beginnt mit einer E-Mail, die die Besucher vorab bekommen haben: Darin werden sie aufgefordert, ein rotes Kleidungsstück anzuziehen. Außerdem möge man sein Lieblingsbuch mitnehmen, um es am Ende der Vorstellung mit anderen Besuchern zu tauschen.


Am Eingang zum Klub warten als Soldaten verkleidete Schauspieler. Sie tragen DDR-Uniformen, wie man sie am Checkpoint Charlie kaufen kann. Eine Beamtin überprüft, ob jeder etwas Rotes anhat - wobei sie nachsichtig auch jene Gäste durchwinkt, die die E-Mail scheinbar nicht gelesen haben -, und verteilt rote Kärtchen. Was damit zu tun ist, erklärt eine Frau, die sich über den Notausgängen aufbaut. Sie spricht in ein Megafon.

Es ist schwer, sie durch die Rückkopplungen zu verstehen, doch es geht um den Oranienplatz und die Gerhart-Hauptmann-Schule. Die Flüchtlingspolitik Deutschlands sei eine Schande, sagt sie. Ihr Vorschlag: Sie will den früheren Palast der Republik in einen "Palast der Flüchtlinge" umwandeln. Dort könnte dann jeder bleiben, der Asyl in Deutschland sucht. Mit dem zuvor erhaltenen roten Kärtchen können die Zuschauer dafür oder dagegen stimmen.


Borat steckt wieder in Schwierigkeiten

Nach dieser Brandrede verschwindet die Frau mit dem Megafon. Die Besucher trappeln einen Stock höher, wo das eigentliche Stück gleich losgeht. Das Bühnenbild sieht aus, als hätten Daft Punk eine ostdeutsche Beamtenstube neu eingerichtet: Hinter einer überdimensionalen Schreibtischlampe blinken Aktenschränke wie das Display einer Stereoanlage. Ein funky Beat, gespielt vom Bassisten Meilyr Jones und Schlagzeugerin Valentina Magaletti, eröffnet die Vorstellung. Gruff Rhys und Boom Bip betreten die Bühne in Uniform und Tigermasken. Sie nehmen hinter Pulten Platz und spielen von dort aus ihre Instrumente.


Boom Bip wird sich während des Abends nicht viel bewegen. Ansonsten bleibt in den nächsten 75 Minuten niemand und nichts an einem Ort: Zwei riesige Schreibtische dienen als bewegliche Bühnenversatzstücke, die sich von der Hauptbühne lösen und durchs Publikum rollen. Technische Mitarbeiter schleppen die Blöcke schwitzend durch den Saal. Man wird zur Seite gezerrt, um Platz zu schaffen. Die Besucher reagieren interessiert bis verängstigt. Selbst Rhys sieht etwas verwirrt aus. Aber das heißt nichts. So sieht er meistens aus.


Ein Mann im Leinenanzug betritt die Hauptbühne: Halbglatze, Hornbrille, Borat-Schnauzer. Das ist Giangiacomo Feltrinelli. Er steckt in Schwierigkeiten: Wir schreiben das Jahr 1967. Feltrinelli wird von der CIA verhört. "Wo ist Che Guevara?", fragt ihn ein amerikanischer Agent immer wieder. Feltrinelli behauptet, es nicht zu wissen. Wie ist er nur in diesen Schlamassel geraten?


Doktor Schiwagos Rache am Kapitalismus

Projektionen an der Wand führen uns zurück zum Anfang der Geschichte. 1926: Feltrinelli wird als Sohn einer reichen Familie in Mailand geboren. 1937: Ein Gärtner bekehrt ihn zum Kommunismus. Später gründet Feltrinelli einen Verlag und wird zum reichsten Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens. Die Geschichtsstunde peppen Neon Neon mit anachronistischem Synthpop auf, der eher an die Italodisco der Achtzigerjahre erinnert als an das frühe 20. Jahrhundert.


Die nächste Szene zeigt Feltrinelli kurz vor der Veröffentlichung eines Manuskripts, das er aus der Sowjetunion geschmuggelt hat. "Doktor Schiwago" heißt der Roman von Boris Pasternak, der alle im Verlag nervös macht. Denn das Buch gilt als antisowjetisch. Feltrinellis Mitarbeiter beknien ihn, es nicht zu veröffentlichen. Doch der besteht darauf: "Es nicht zu veröffentlichen wäre antikulturell", sagt er.


Nun sind die Zuseher aufgefordert, dem Verleger zu helfen. Das Manuskript von "Doktor Schiwago" wird durchs Publikum gereicht. Soldaten, die es beschlagnahmen wollen, laufen ihm hinterher. Wer nach dem Buch gefragt wird, muss bestreiten, es gesehen zu haben. Die Mission hat Erfolg: "Doktor Schiwago" erscheint. Es wird ein Bestseller und Feltrinelli, der weltweit die alleinigen Rechte daran hat, noch reicher.


Der Geheimdienst tanzt seine Verhöre


In den Sechzigerjahren veröffentlicht er weitere Werke kontroverser Autoren: Henry Miller, Gabriel García Márquez, Che Guevara. Alles ist Revolution. "Listen to the rainbow", singen Neon Neon. Tänzer springen durchs Publikum. Eine warholeske Gestalt mit blonder Perücke und Sonnenbrille filmt das Treiben. Auf der Bühne räkelt sich ein nackter Jüngling, der sich von einer Frau bunte Farben auf den Leib pinseln lässt. Wäre heute nicht Mittwoch, man könnte es für einen normalen Abend im Berghain halten.


Dann nimmt die Kirmes ein Ende. Als in Griechenland die Faschisten an die Macht kommen, fürchtet Feltrinelli, dass westliche Geheimdienste die Kommunisten in Italien stürzen könnten. Er reist nach Kuba und sucht Rat bei Fidel Castro, doch der will lieber Basketball mit ihm spielen. "Communism on the beach/ If we could just bottle it/ And send it 'round the world", denkt Feltrinelli.


In Bolivien gerät er schließlich in die Fänge des amerikanischen Geheimdienstes. Die anfängliche Leichtigkeit des Stückes ist nun verflogen. Das Bühnenbild wird statischer. Erst jetzt, wo man als Zuseher nicht ständig umherfahrenden Bühnenteilen ausweichen muss, erkennt man die Präzision der Inszenierung. Das Verhör bei der CIA ist streng durchchoreografiert wie ein Ballett.


Rufen wir die Bundesrepublik Neon Neon aus!


Feltrinelli kommt wieder nach Hause und steigert sich in einen politischen Wahn: Er lässt sich mit radikalen Gruppen ein und gründet eine eigene militante Gruppe namens GAP. Von seiner Familie hat er sich längst entfremdet, als er 1972 unter mysteriösen Umständen stirbt, angeblich beim Versuch, einen Strommast in die Luft zu sprengen. Auf Händen wird der tote Revolutionär über die Zuschauerköpfe getragen. Neon Neon singen ihm ein Requiem: "Ciao Feltrinelli".


Was dann folgt, hätte dem Verleger wahrscheinlich gefallen. "Finde einen Fremden, gib ihm dein Buch, und erklär ihm, warum es wichtig ist", wird an die Wand gestrahlt. "Reading is resisting" - "Lesen heißt Widerstand leisten". In diesen Worten lebt der Geist Feltrinellis weiter. Eines fehlt noch: Das Ergebnis der Abstimmung über den Palast der Republik. Eine Dame in Grün verkündet es: 193 Besucher wollen, dass die Flüchtlinge bleiben, nur 61 sind dagegen. Der Wille des Volkes ist eindeutig. Deutschland wird zur Republic of Neon Neon erklärt. Applaus.


Am Ende spielen Neon Neon noch zwei Zugaben aus ihrem ersten Album "Stainless Style": "Raquel", das mit Bildern von Raquel Welch illustriert wird, und das wunderschöne "I Lust U". Nun tanzen alle: Ensemblemitglieder, Band und Publikum. Wann hat man so einen Abend schon einmal erlebt? Gruff Rhys hält ein Schild über die Köpfe: "Ape Shit!" Recht hat er.


Foto: toby farrow / farrows creative

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