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Netflix-Serie "Sex Education": Die kastrierte Frau - SPEX

Sex Education feiert Diversität, bricht Tabus und schafft damit neue Freiheiten. Toll, oder? Wäre es sicherlich. Wenn die Netflix-Serie nur nicht antifeministische Klischees bedienen würde.

Unerfahren, unauffällig, blass: Otis (Asa Butterfield), der zentrale Protagonist von Sex Education , ist die Steppjacke tragende Antithese eines Sexgurus. Aber das macht nichts. Seine Mitschüler_innen irren auch in der zweiten Staffel der Netflix-Produktion noch immer so orientierungslos durch die Pubertät, dass sie schließlich wieder in das asbestverseuchte Toilettengebäude der Schule strömen. Denn hier offenbart ihnen Otis unter dem Alias „Sex Kid", wie sie sich akzeptieren und sexuell befreien können.


Zwischen verwunschenen Villen, endlosen Radwegen durch die englische Provinz und immergrünen Wäldern erzählt Laurie Nunns Serie von der Freiheit. Dabei erscheinen die Charaktere in den ersten Folgen der Serie noch als stereotype Wiedergänger_innen des altbekannten Personals der Comig-of-Age-Geschichten: Hier die Nerds, dort die Tussis und die umschwärmten Sportler. Doch das ändert sich.


Ohne dass die Serie dies groß thematisiert, beginnen die Figuren ihre eigenen Klischees zu überwinden. Sie diversifizieren sich, werden ambivalenter. Vollkommen selbstverständlich treten in der Mainstream-Produktion Queers, People of Colour, asexuelle Personen und Menschen mit Behinderung auf. Der Schwimmstar der Schule stellt unaufgeregt seine beiden Mütter vor. Für solche Szenen wurde Sex Education sowohl von Kritiker_innen als auch auf Social Media als game changer gefeiert. Trotzdem offenbart auch die aktuell wohl vorbildlichste, Adoleszenz-Serie bei näherer Betrachtung ungeahnte Schwächen - obwohl man die im schönen Bilderrausch leicht übersehen kann.


Denn die komplexen Charakterentwicklungen der Figuren spiegeln sich auch im Kostümbild der Designerin Rosa Dias. Für Sex Education hat sie sich sowohl von der künstlerischen Übertreibung des Camp als auch ganz allgemein von der Mode der Achtzigerjahre inspirieren lassen. Otis' Mutter, die Sexualtherapeutin Jean, behandelt ungefragt ihren Sohn in einer Mischung aus emanzipierter Eleganz und divenhafter Souveränität, während sie einen gelben Morgenmantel oder einen langen Jumpsuit trägt. Als sie sich von ihrem Freund trennt und anschließend daran zweifelt, erscheint sie plötzlich in einem biederen, steifen Samtkleid mit Schleifen über der Brust.


Die Ästhetik der Serie reduziert die ambivalenten und vielerorts marginalisierten Charaktere weder auf ihr „Anderssein", noch raubt sie ihnen ihre Schönheit. Stoisch scheinen die harmonischen, an Wes Anderson erinnernden Bilder der Serie ihren Protagonist_innen zu vermitteln: Egal, ob dein Vater dich entsetzt dabei erwischt, wie du als schwarzer Junge in High Heels schlüpfst, oder ob du scheinbar als einzige Jugendliche kein Interesse an Sex hast, im Schultheaterstück aber eine in ihrer Lust getränkte Julia spielen sollst - du schaffst es, und es ist nicht das Ende der Welt.


Gleichzeitig unterminieren Otis und seine Mutter auch auf der Textebene das Narrativ der Normalität. Sie entdramatisieren die scheinbare Katastrophe, vom konstruierten Normalfall abzuweichen. In den Therapiesitzungen begreifen sie jeden Fetisch, jede Angst und jede Sexualität so lange als „normal", bis der Begriff sich auflöst.



Leerstellen statt Lust

Die große These „Sprache konstruiert Realität" hängt in Sex Education über jeder einzelnen Folge. Denn egal, wie physisch die Probleme sind, ob eine Chlamydien-Epidemie die Schule befällt oder eine Klientin sich beim Sex im Sari für ihr verzerrtes Orgasmusgesicht schämt: Der praxisferne Quereinsteiger Otis hilft durch einfühlsame Unterhaltungen.


Was bedeutet es unter dieser Prämisse, dass alle Figuren der Serie die Vulva konsequent Vagina nennen - selbst Jean, die es als Sexualtherapeutin doch wirklich besser wissen müsste? Offenbar haben die Macher_innen der Serie keine Ahnung, wie politisch und problematisch es ist, wenn statt der Vulvalippen, dem Scheidenvorhof, der Klitoris und der Öffnung der Harnröhre plötzlich nur noch der Schlauch übrig bleibt, der all das mit der Gebärmutter verbindet.


Die Vulva ist dann sprachlich gelöscht, und mit ihr ein zentraler Bestandteil weiblicher Identität und Lust. Nicht zufällig bleibt in dieser repressiven Sprache nur ein Loch zurück, ein indexikalisches Zeichen, weil - wie Jacques Lacan völlig frei von Ironie über die weiblichen Genitalien schreibt - „das Imaginäre nur eine Abwesenheit liefert". Die Abwesenheit sei also das einzige und eigentliche Wesen der Frau. Traurige Wahrheiten, ach nein, traurige Lügen.


Vagina statt Vulva zu sagen, ist ein performativer Akt. Er kastriert Frauen sprachlich, um sie zu Mangelwesen zu erklären - wobei der Mangel dann wiederum der Grund ist, Frauen als kastriert zu betrachten. So sahen es zumindest Theoretiker von Aristoteles bis Sigmund Freud. Diese Art zu sprechen, entstammt einer totalitären Penetrationslogik - und bringt diese gleichzeitig hervor. Organe, die dieser Logik nicht dienen, macht sie unbenennbar. In der Überzeugung, Beziehungen und Sexualität durch Sprache gestalten zu können, bedeuten die Grenzen von Otis' und Jeans Sprache die Grenzen ihrer Welt. Viele Grüße, Ludwig Wittgenstein. Weibliche Sexualität und Existenz diesseits und jenseits der funktionalen Vagina können sie demnach nur verschwommen sehen und denken.


Wie sehr die Autor_innen dem System erliegen und sogar mit ihm kollaborieren, offenbart eine Sammlung schnell hintereinander geschnittener, vermeintlicher happy endings im Staffelfinale. Eine der Einstellungen zeigt Otis' Mitschülerin Lilly (Tanya Reynolds). Sie zeichnet erotische Weltraum-Comics, trägt ausschließlich pastellfarbene und metallisch glänzende Stoffe und leidet unter Vaginismus, also eine angespannte Beckenbodenmuskulatur.


Bei ihrem letzten Auftritt führt sie sich zu erhebender Musik einen Plastikpenis ein - während sich die Zuschauerin fragt: Warum sollte eine Frau, die noch vor wenigen Minuten in sexueller Leichtigkeit und Kreativität schwebte, als sie mit ihrer neuen Freundin und einer Oktopusarm-Attrape simultanmastubierte, sich dazu trainieren, auf Biegen und Brechen einen Fremdkörper in sich spüren zu wollen? Und warum sollten wir das feiern? Immerhin geht es hier tatsächlich mal um die Vagina, die bei Vaginismus in vielen Fällen übrigens immer noch mit Betäubungscreme zum „Funktionieren" gebracht wird.


Feministische Freiheiten, antifeministische Sprache
Sex Education zu gucken, fühlt sich in diesen Momenten an, wie im Jahr 1998 eine Aufführung der Vagina Monologe von Eva Ensler zu besuchen:  Mit jedem Tabu, das die Akteur_innen auf der Bühne endlich brechen, schaffen sie Freiheit. Doch während sie sich als feministische Heilsbringerinnen inszenieren, verwenden sie - wie die Sex Education zu gucken, fühlt sich in diesen Momenten an, wie im Jahr 1998 eine Aufführung der Vagina Monologe feministische Psychotherapeutin Harriet Lerner damals schon bemerkt - unreflektiert eine antifeministische Sprache.


Die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal beschreibt, wie die Traditionen „westlicher Kulturen" die Sexualität der Frau ausdrücklich ablehnen, die Vulva aber dennoch in ihre Ikonografie integrieren. Währen d Homer in seinem Hymnus an die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter die subversive Kraft der Vulva als heilsam anerkennt, inszenierte das Christentum sie gerne als sündig - aber zumindest existent. Mal heben Frauenfiguren an Kirchenfassaden aus dem Hochmittelalters ihren Rock und blecken provokant ihre Vulven, um den Teufel abzuschrecken, mal tritt die Vulva diskret als Mandel oder Fisch auf. In Sanyals Analyse geht die Fischsymbolik im Christentum sogar auf die vorhellenistischen Fischgöttin Themis zurück.


Am kunstvollsten aber leben Vulven in der Ikonografie der Schutzmantelmadonna mit hell scheinender Aura fort, der sogenannten Mandorla. In dieser Analogie entspricht der Kopf der Gottesmutter der Klitorisspitze. Die Kirche liest die Vulva zwar als mächtig und bedrohlich, repräsentiert und verehrt sie aber trotzdem in ihren kulturellen Codes.


Die moderne Gesellschaft und Medizin hingegen ignorieren die Vulva. Obwohl es in den modernen Disziplinen explizit darum geht, Körperteile zu benennen, wird in ihren Diskurse verhindert, dass wir die Vulva abbilden und erkennen - selbst im emanzipatorischen Gestus von Sex Education . Ironischerweise kopiert die Serie den Umgang der christlichen Ikonografie mit der weiblichen Sexualität damit spiegelverkehrt: Man wähnt sich frei von Tabus, macht weibliche Lust aber unsichtbar.


Leider bleibt der Vagina-Irrtum nicht der einzige politisch-anatomische Fehler der zweiten Staffel der Serie. Bei einem Vagina-Workshop zeigt Jean eine erbsengroße Klitoris (die nicht zur Vagina gehört, aber das hatten wir ja schon). Die Klitorisschenkel, zwei circa sieben Zentimeter lange, wichtige Verbündete der weiblichen Lust, und auch der Klitorisschaft fehlen. Übrigens nicht nur hier, sondern auch in vielen Aufklärungs- und Fachbüchern. Sprache konstruiert also nicht nur Realität, sondern auch ihre anschaulichen Plastikmodelle.

Obwohl Sex Education vorgibt, Diversität zu zelebrieren, bleibt ihr Protagonist ein schmächtiger, junger Mann. Wie eine Rückenfigur in der romantischen Landschaftsmalerei ist er gleichzeitig unsere Identifikationsfigur und schreibt die Position der Zuschauenden ins Bild ein. Natürlich ist Otis heterosexuell. Natürlich weiß. Natürlich bürgerlich. Natürlich ist er mit der kleinen Ola mit Afro und Latzhosen zusammen, liebt aber eigentlich die (anfangs noch blonde) Maeve mit Sanduhrfigur, kurzen Röcken, und - damit sie trotz aller Coolness schwach und komplex ist - fragmentierter Familie. Die Macher_innen der Serie scheinen das Problem schon in der ersten Staffel zu erahnen, wie der Kommentar einer Teilnehmerin der lesbischen Sexübung im Schwimmbad verrät: „Ich glaube nicht, dass uns der Rat von 'ner 16-jährigen, weißen Hete irgendwie weiterhelfen wird."


Das wirklich traurige Ende der Serie ist nicht, dass ein Rivale Otis' Liebeserklärung an Maeve von ihrer Mailbox löscht. Traurig ist, dass trotz aller Virginia-Woolf-Bücher auf Maeves Nachtkästchen wieder eine stereotype Traumfrau konstruiert wurde, die im symbolischen Handel der Liebenden aufgefordert ist, ihre Zerrissenheit, Unabhängigkeit und grungige Netzstumpferotik gegen die Stabilität des liebenswerten Jungen zu tauschen. Otis hätte es (wegen seines guten Charakters!) schließlich wirklich „verdient", sie am Ende doch zu kriegen.


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