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Keine Angst vor internationaler Verantwortung

So unterschiedlich Frank-Walter Steinmeier, Ursula von der Leyen und Joachim Gauck in Politik-Stil und Partei-Couleur auch sein mögen: Sie nutzten alle die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz, um ein stärkeres deutsches Engagement in der Außenpolitik einzufordern.

Damit haben sie mehr als zwei Dekaden nach der Wiedervereinigung ein Mantra der deutschen Politik auf den Kopf gestellt: Über Außenpolitik redet man nicht öffentlich. Und wenn doch, dann nur im Kreis ausgewählter Experten. Um den reflexhaft aufkommenden Befürchtungen entgegenzutreten, es handele sich hier um eine Militarisierung der deutschen Außenbeziehungen, schickte Außenminister Steinmeier hinterher, dass der Einsatz von Gewalt nur das letzte Mittel außenpolitischen Handelns sein dürfe.

Nicht jeder Kritiker gab sich hiermit zufrieden. Die Wahrheit ist: Viele Deutsche wollen sich nicht damit anfreunden, dass die Bundesrepublik internationale Verantwortung übernimmt. Hierbei gibt es eine verwirrende Kluft zwischen grundsätzlichen und konkreten Bewertungen. So befürworteten 82 % der Deutschen den Vor- schlag einer gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Werden hingegen die konkreten politischen Konsequenzen einer solchen Integration diskutiert, so wird aus der ursprünglichen Zustimmung schnell Skepsis und Ablehnung. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Libyen-Intervention der NATO im Jahre 2011. Damals befürworteten zwei Drittel der Deutschen eine militärische Intervention gegen das Gaddafi-Regime. Gefragt nach einer deutschen Beteiligung, lehnten jedoch zwei Drittel der Befragten ab. Mit den schwierigen und konkreten internationalen Fragen setzen wir uns offenbar nur ungern auseinander. Die Lücke zwischen dem Erkennen außenpolitischer Notwendigkeiten und der Verweigerung von Verantwortung war auch das zentrale Ergebnis einer vom Auswärtigen Amt in Auftrag gegebenen Umfrage, der zufolge 60 % der Deutschen eine größere internationale Rolle der Bundesrepublik ablehnen. Umgekehrt hielten jedoch 87 % der Befragten einen Militäreinsatz für gerechtfertigt, um Frieden und Sicherheit in Europa zu verteidigen; für 82 % war die Verhinderung eines Völkermordes ebenfalls eine gute Begründung für einen Bundeswehreinsatz. Was also bitte wollen die Deutschen? Sie wissen es wohl offenbar selbst nicht wirklich. Umso wichtiger ist es daher, eine offene und ehrliche Debatte über die Rolle unseres Landes in der Welt zu führen.

Deutschlands neue Rolle

Erstmalig in ihrer Geschichte ist die Bundesrepublik Deutschland mit der Situation konfrontiert, dass unsere Nachbarländer größere Sorge vor der Passivität der deutschen Regierung haben als vor ihrem Gestaltungsanspruch. Eine solch neu gewichtete Rolle Deutschlands in Europa erschließt sich auch vor dem Hintergrund, dass sich Großbritannien zunehmend aus der europapolitischen Debatte zu verabschieden scheint. Das Land galt stets als Treiber der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Da von London in Sachen Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit derzeit nicht viel zu erwarten ist, scheint der Bundesrepublik zunehmend die Verantwortung zuzukommen, die Europäische Union auch in außenpolitischer Hinsicht mit seinen Partnern weiterzuentwickeln. Das erfordert aber eine außenpolitische Diskursschärfe, die in Deutschland nach wie vor Mangelware ist.

Die politische Rechte findet zunehmend eigene Antworten auf internationale Herausforderungen. Die Merkel-Doktrin, der zufolge strategische Partner unabhängig von Menschenrechtslage und Demokratieverständnis bewaffnet werden sollen, ist Ausdruck eines machtpolitischen Umgangs mit Deutschlands neuen Möglichkeiten. Die politische Linke ist hingegen vor allem dann stark, wenn es um klassische Wohlfühlthemen geht wie Entwicklung, Frieden und Diplomatie. Sobald es um moralisch schwierige oder realpolitische Fragen geht, bleibt Sie jedoch merkwürdig verzagt. Woran liegt das?

Die SPD sieht sich selbst als Anwalt für globalen Frieden, internationale Solidarität, eine gerechte Weltordnung, Demokratie, Menschenrechte und Multilateralismus. Und zu Recht wird hierbei in allen Parteitagsbeschlüssen und Grundsatzreden auf Willy Brandt rekurriert, der durch sein mutiges Streben nach Ausgleich, Verständigung und Diplomatie Millionen inspirierte. Nüchterne Realpolitik soll den konservativen Kräften überlassen bleiben. Im Gegensatz zu einer primär auf nationale Interessen orientierten konservativen Herangehensweise versucht sozialdemokratische Außenpolitik, nationale, regionale und globale Interessen zum Wohle aller Menschen in Einklang zu bringen. Die Guten zu sein, für Frieden und Freiheit einzustehen und mit den „Bösen" dieser Welt nicht zu paktieren, das zusammen bildet das Grundverständnis der Sozialdemokratie. Und das völlig zu Recht. Die SPD ist ganz bei sich, wenn es in der Außenpolitik normativ zugeht, was in der Vergangenheit durchaus in konkrete, politische Maßnahmen mündete. Unter Rot-Grün wurde zum Beispiel die zivile Konfliktprävention gestärkt und die Rüstungsexportpolitik limitiert.

Abschied aus dem Wohlfühlkosmos

Wenn jedoch Deutschland künftig stärker internationale Verantwortung übernehmen soll, muss sich die Partei aktiver und ehrlicher auch mit den Aspekten auseinandersetzen, die über den eigenen "Wohlfühlkosmos" hinausgehen. Sie muss den Anspruch verfolgen, auch in den internationalen Beziehungen politisch umsetzbare Angebote zu unterbreiten, die sich von den Lösungen des konservativen Spektrums unterscheiden.

Ein konkretes Beispiel: Niemand hat sich mit so großem Engagement für eine Lösung der Ukraine-Krise eingesetzt wie Frank-Walter Steinmeier, der durch Dialog und Diplomatie eine Beruhigung des Konflikts zu erreichen sucht. Er hat darin die volle Unterstützung der SPD und im Übrigen auch einer Mehrheit der Deutschen. Was aber wäre zu tun, wenn die deutsche Reise- und Telefondiplomatie an ihre Grenzen stieße und sich eine Eskalation der Krise trotz allem nicht verhindern ließe? Spätestens bei russischen Drohgebärden gegen die NATO-Staaten des Baltikums würde die SPD mit der Frage konfrontiert, ob sie es mit der Bündnissolidarität ernst meint und eine politisch und wirtschaftlich schmerzhafte Konfrontation mit Russland in Kauf nimmt. Die Frage ist legitim. Mit Blick auf die Nachrüstungsdebatte vor mehr als 30 Jahren kann man sich ausmalen, wie schwer sich die Sozialdemokratie mit dieser Frage tun würde.

Ein anderes Beispiel: Wie gehen wir mit einer Situation wie in Ruanda oder Srebrenica um, in der nur ein militärisches Eingreifen einen Völkermord verhindern kann, der UN-Sicherheitsrat aber durch ein Veto Russlands oder Chinas blockiert ist? Retten wir Hunderttausenden Unschuldigen das Leben und brechen das Völkerrecht, oder lassen wir die Menschen wie in Ruanda sterben, um internationales Recht zu achten? Das in Grundsatz- und Wahlprogrammen wiederholte Mantra, demzufolge ein Beschluss des UN-Sicherheitsrates für die SPD eine zwingende Vorbedingung für militärische Einsätze ist, wird im Fall eines Völkermordes jedenfalls auf eine arge Probe gestellt. Denn egal was wir machen, wir begeben uns in eine moralisch schwierige Lage. Wir akzeptieren aber nur widerwillig solche Situationen, in denen wir nicht zwischen "Gut" und "Schlecht", sondern zwischen "Schlecht" und "Schlechter" wählen müssen. Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg gelernt, solche Situationen mit Blick auf die deutsche Vergangenheit zu ignorieren und so den moralisch schwierigen Konsequenzen aus dem Weg zu gehen. Die Probleme verschwinden aber nicht, nur weil wir sie ignorieren. Die SPD sollte solch schwierige Fragen künftig in Zeiten der Ruhe diskutieren. Und nicht, wenn der Fall der Fälle zum Handeln zwingt.

Neue Fragen stellen sich

Auch der türkische EU-Beitrittsprozess bereitet mittlerweile einige Kopfschmerzen. Das zunehmend autoritäre Gebaren des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan lässt an der derzeitigen EU-Fähigkeit des Landes ernste Zweifel aufkommen. Aber unabhängig von der prinzipiellen Befürwortung der türkischen EU-Mitgliedschaft ist aus Parteikreisen derzeit reichlich wenig zu hören. Wie etwa sollte das Verhältnis zwischen der EU und dem Land am Bosporus gestaltet werden, für den (nicht unwahrscheinlichen) Fall, dass entweder eine der beiden Seiten, oder sogar beide Partner im Einvernehmen sich darauf einigen, den ergebnisoffenen Beitrittsprozess endgültig für gescheitert zu erklären? Das Verhältnis zur Türkei ist viel zu wichtig, als die Beantwortung dieser Frage dem politischen Zufall zu überlassen.

Und nicht zuletzt bildet der richtige Umgang mit den aufstrebenden BRICS-Staaten, also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika eine programmatische Leerstelle. Neben den USA und Europa werden die BRICS die Welt des 21. Jahrhunderts prägen. Die Entwicklung dieser Staatengruppe wird darüber entscheiden, ob die kommenden Jahrzehnte von Stabilität, Frieden und Wohlstand geprägt sein werden. Oder ob der Aufstieg neuer Mächte wie in den zurückliegenden Jahrhunderten zu Konflikt und Misstrauen führt. Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, dass sich die Sozialdemokratie auf strategischer Ebene bisher kaum mit diesen relevanten Fragen auseinandersetzt.

Weder Deutschland noch die SPD sollten vor der neuen Rolle unseres Landes in der Welt Angst haben. Im Gegenteil handelt es sich um eine Chance für eine bessere Gestaltung der Welt des 21. Jahrhunderts. Frank-Walter Steinmeier hat seinen Worten aus München inzwischen Taten folgen lassen. In der Ukraine nahm er gemeinsam mit den Außenministern des Weimarer Dreiecks das Heft des Handelns in die Hand. Und innerhalb Deutschlands hat er einen umfassenden „Review-Prozess" der deutschen Außenpolitik angestoßen. Dabei wird das Agieren Deutschlands auf der internationalen Bühne einer umfassenden Bestandsaufnahme unterzogen. Das Auswärtige Amt hat zum Ausdruck gebracht, dass insbesondere zivilgesellschaftliche Akteure dazu aufgerufen sind, sich in diesen Prozess mit eigenen Ideen einzubringen. Man muss nicht zwischen den Zeilen lesen um das Signal zu erkennen: Das Auswärtige Amt möchte die internationalen Beziehungen nicht mehr bloß in den Hinterzimmern der Regierungsgebäude diskutieren. Das Ministerium setzt auf öffentliche Teilhabe, was im Umkehrschluss für die öffentliche Legitimität und Akzeptanz des deutschen Handelns in der Weltpolitik nur förderlich ist. Doch Politik wird nicht nur durch die Exekutive gestaltet. Parteien kommt eine wichtige Rolle im demokratischen Willensbildungsprozess zu. Es liegt nun auch an der SPD, eine ernsthafte Debatte über die deutsche Außenpolitik in die Partei und Öffentlichkeit zu tragen.

Dieser Artikel erschien zunächst in der Ausgabe 7/8 2014 der Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte.
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