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Teilchenbeschleuniger: Physiker streiten um Milliarden-Projekt

Es wäre ein Fehler, vor allem ein teurer. Rund 20 Milliarden Euro Steuergeld für eine - was man bisher erahnen kann - kleine Ausbeute. "Das lohnt sich nicht", sagt Sabine Hossenfelder. "Man sollte das Geld in andere Forschungsvorhaben investieren, die mehr Erkenntnisse versprechen, womöglich echte Durchbrüche liefern."

Mit solchen Sätzen hat die Theoretische Physikerin zahlreiche Vertreter der Teilchenphysik gegen sich aufgebracht. Es geht um einen Nachfolger des 27 Kilometer langen Large Hadron Collider (LHC) am Kernforschungszentrum Cern bei Genf, das von 22 Mitgliedstaaten getragen wird.

Kommt die Zukunftsmaschine mit dem Konzeptnamen Future Circular Collider (FCC), soll sie bis 2035 laufen. Sie wäre ein Gigant. Verborgen in einem 100 Kilometer langen, kreisrunden Tunnel würde man Elementarteilchen noch näher an die Lichtgeschwindigkeit heran beschleunigen, um sie schliesslich ineinanderkrachen zu lassen. Diese Kollisionen mit nochmals höherer Energie als beim LHC ermöglichen noch tiefere Einblicke in die Welt der Elementarteilchen und der fundamentalen Kräfte. Erste Empfehlungen sollen Anfang 2020 erfolgen. Noch ist nichts entschieden, auch in Japan und in China gibt es Pläne für solche Grossgeräte. Doch die Schweizer Community hat sich bereits positioniert.

Die Forscher sind überzeugt, dass diese Maschine weitere Erkenntnisse liefern, vielleicht sogar die Grenzen des Standardmodells der Teilchenphysik erreichen wird. Dieses beschreibt die Vorgänge in der Mikrowelt ziemlich gut und hat mit der Entdeckung des Higgs-Bosons im Jahr 2012 den letzten wichtigen Baustein erhalten.

Doch es hat Schwächen. So kann es beispielsweise nicht die dunkle Materie beschreiben. Und es lässt die Gravitation ausser acht, die wiederum von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie beschrieben wird. Bis jetzt ist es nicht gelungen, beide Theorien miteinander zu vereinen. Ideen zur Erweiterung des Standardmodells gibt es viele, etwa die Supersymmetrie, doch experimentelle Belege für die theoretisch vorhergesagten weiteren Teilchen fehlen.

"Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass man diese Teilchen ausgerechnet in dem Energiespektrum des nächstgrösseren Beschleunigers findet", sagt Hossenfelder in ihrem Büro am Frankfurt Institute for Advanced Studies.

Hat sie recht? Oder ist sie bloss frustriert, weil sie selbst in der Teilchenphysik nicht weiterkam, wie Kritiker meinen? Oder will sie nur ihr Buch "Das hässliche Universum" promoten, in dem sie mit dem "Schönheitswahn der Theoretischen Physik" abrechnet, der ihrer Meinung nach dazu beiträgt, dass es seit Jahrzehnten keinen Durchbruch in der Grundlagenphysik mehr gab und der mittlerweile in Konflikt mit wissenschaftlicher Objektivität gerät?

Eskaliert ist die Situation Ende Januar. In einem Artikel in der "New York Times" bezeichnete Hossenfelder die bisherige Ausbeute des LHC - abgesehen von der Entdeckung des Higgs-Bosons - als "enttäuschend" und argumentierte gegen einen Nachfolger.

Sie sei eine "Nestbeschmutzerin", schrieb ihr jemand, "respektlos", ein anderer. Ein LHC-Forscher beendete seine Widerrede auf Facebook gar mit "Fuck you".

Man habe versucht, sie von Veranstaltungen wieder auszuladen, berichtet Hossenfelder, man habe sich bei der Verwaltung ihres Instituts beschwert. Sie habe so etwas erwartet, sagt sie. Angesprochen auf den Vorwurf, sie "reite auf der Genderwelle", weicht der coole Gesichtsausdruck für Augenblicke einer Empörung: "Ich? Ganz bestimmt nicht. Ich habe nie eine Frauenquote oder ähnliche Sonderbehandlungen gefordert."

Es sei allerdings bemerkenswert, dass sich kein Teilchenphysiker gemeldet habe, um sachlich über ihre Argumente zu diskutieren. Im Gegenteil: Sie zeigt Postings von Forschern, denen Vorgesetzte verboten hätten, sich in irgendeiner Weise dazu zu äussern.

"Es ist doch kein Naturgesetz, dass ständig neue Beschleuniger gebaut werden und über Jahrzehnte Jobs für Teilchenphysiker schaffen."

"Mir ist nicht bekannt, dass es Bestrebungen gibt, Frau Hossenfelder auszuladen oder die Kommunikation zu verweigern", sagt Günther Dissertori, Teilchenphysiker an der ETH Zürich und als wissenschaftlicher Delegierter der Schweiz im Cern-Rat gut vernetzt. "Ich hätte es allerdings begrüsst, wenn es zu einer direkten Diskussion mit den Physikern, etwa am Cern, gekommen wäre, anstatt über andere Kanäle zu kommunizieren."

Selbstverständlich stehe es jedem frei, kritische Fragen zu stellen, doch das tue die Community auch selbst. Dissertori ist überzeugt, dass es sich wissenschaftlich lohnt, einen Nachfolger für den LHC zu bauen. "So können höhere Energiebereiche und grössere Präzision erreicht und damit weitere Theorien getestet werden. Selbst wenn eine Vielzahl dadurch ausgeschlossen wird, ist das auch eine enorm wichtige Erkenntnis."

Mit "garantierten" Entdeckungen neuer Teilchen sei es in der Tat schwieriger als beim LHC. Da sei der Bereich, wo man nach dem Higgs-Boson habe suchen müssen, eingeschränkt gewesen. "Jetzt sind wir in einer rein explorativen Phase." Aufgrund der langen Vorlaufzeiten bei solchen anspruchsvollen Grossprojekten sollte man bereits jetzt mit Machbarkeitsstudien beginnen. "Europa hat sich in der Teilchenphysik eine Führungsrolle erarbeitet, es sollte in unserem Interesse sein, diese zu behalten", erklärt Dissertori. Er fürchtet, dass sonst zahlreiche Forscher abwandern.

"Dann ist das so", meint Hossenfelder. "Es ist doch kein Naturgesetz, dass ständig neue Beschleuniger gebaut werden und über Jahrzehnte Jobs für Teilchenphysiker schaffen." Man möge ihr den Fokus auf diese Disziplin nachsehen, sagt sie. "Ich habe auf dem Gebiet promoviert und kenne mich da aus, deshalb rede ich über dieses Thema im Besonderen. Aber dasselbe gilt wohl auch für andere Fachbereiche."

Wenn es darum gehe, wofür Forschungsmittel eingesetzt würden, sollte die Aussicht auf grosse Fortschritte entscheidend sein, fordert Hossenfelder. Sie hätte Ideen, etwa die Erforschung von Quantenfluktuationen im frühen Universum, die helfen könnte, Gravitation und Quantentheorie zu vereinen. "Aber das ist meine private Meinung, der allein sollten Sie auch nicht trauen."

Doch wer kann die gesamte Physik überblicken, um fundiert entscheiden zu können, welche Investition vielversprechend ist? "Das kann keiner", gibt sie zu. "Die derzeitige Organisation der Wissenschaft verstärkt die Probleme jedoch." Um Forschungsgeld zu erhalten, müsse man auf dem Gebiet bereits gearbeitet haben. "Wer beispielsweise nach 20 Jahren die Teilchenphysik verlassen will, hat kaum eine Chance, anderswo einzusteigen. Also wird er immer weiter erklären, wie wichtig diese Forschung ist, auch wenn er selbst grosse Zweifel hat."

So wie Hossenfelder. Zunehmend entsetzt sei sie gewesen, wie viel Wert darauf gelegt worden sei, dass Theorien "schön" seien. Also möglichst einfach, harmonisch, gern mit Symmetrien. "Mir wurde das alles zu esoterisch und zu dogmatisch", sagt Hossenfelder. "Nicht zuletzt, weil sich auch der Schönheitsbegriff selbst im Lauf der Zeit verändert." Zu Keplers Zeiten galten kreisrunde Planetenbahnen als schön, elliptische als hässlich. "Heute wissen wir, dass sie genau so geformt sind, niemand käme auf die Idee, sie als hässlich zu bezeichnen."

Hans Peter Beck, Präsident der Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft und Experimentalphysiker am Cern, sieht das ähnlich. Er vergleicht das Standardmodell der Teilchenphysik mit dem Modell einer flachen Erde: "Wenn man ein Haus baut, braucht man den Erdradius nicht zu kennen." Beim Gotthard-Basistunnel aber führte solches Nichtkennen in die Irre: Würde man die Basislinie des Fundaments beim Nordportal in Erstfeld bis zum Südportal in Bodio verlängern, käme man Hunderte von Metern zu hoch an. Das Modell der flachen Erde versagt, man muss das kompliziertere Kugelmodell nehmen.

"Ähnlich verhält es sich mit dem Standardmodell", sagt Beck. "In allen Bereichen, bei denen wir bis heute Messresultate mit Vorhersagen des Standardmodells vergleichen konnten, hat sich dieses als ausreichend genau erwiesen. Exakte Messungen in neuen Bereichen werden aber zeigen, wo das Standardmodell seine Grenzen hat. Erweiterungen des Standardmodells, oder ein gänzlich neues Modell, werden aus heutiger Sicht komplizierter sein." Auch daran würden sich die Physiker gewöhnen, es eines Tages vielleicht sogar als schön empfinden, meint er.

"Viele Einwürfe von Frau Hossenfelder treffen zu", sagt Beck. "Nur bei ihrer Schlussfolgerung, den FCC nicht zu bauen, da liegen wir diametral auseinander." Der FCC solle nicht aus "Schönheitsgründen", sondern aus Erkenntnisgründen gebaut werden. Nur mit neuen, exakten Messdaten könnten Abweichungen zum Standardmodell gefunden werden. "Dies war bei den Planetenbahnen ebenfalls so", sagt Beck. "Erst die exakte Vermessung der Bahnen durch Tycho Brahe und die genaue Analyse von Kepler haben gezeigt, dass Kreisbahnen nicht funktionieren. Die Erkenntnis, dass es sich um ellipsenförmige Bahnen handelt, hat es Newton dann ermöglicht, das Gravitationsgesetz zu formulieren."

Brahe habe übrigens mit seiner Sternwarte ein "Forschungszentrum" betrieben, das für die damalige Zeit an die absolute Grenze des Machbaren vorgestossen sei - mit extremen Kosten. Und er habe so den Weg für eine Revolution des Weltbildes mit bereitetet, an das er selbst gar nicht glaubte.

Die Kosten für den FCC scheinen hoch, breche man sie aber auf die beteiligten Länder und über die Laufzeit herunter, relativierten sie sich stark, sagt Beck.

Es ist eine Chance, nicht mehr und auch nicht weniger.


Erschienen in der "NZZ am Sonntag" am 04.08.2019.
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