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Wir sind keine Opfer, sondern Täter

“Ich habe Verzweiflung gesehen. Die Verzweiflung einer Gesellschaft, die von der Gunst ihrer Besatzer abhängig ist.“ – Das sind die Worte Frima Merphie Bubis, die von 2013 bis 2015 als Soldatin bei der israelischen Zivilverwaltung in der palästinensischen Stadt Nablus gedient hat. Über diesen Worten schwebt ein lebensgroßes Schwarzweißfoto, auf dem die junge Frau den Betrachter ernst anschaut. Es ist das erste von zweiundfünfzig Porträts, die bis zum 5. Dezember in der Ausstellung „Expose(d)“ des Fotojournalisten Quique Kierszenbaum in der Tel Aviver Orly Dvir Gallery zu sehen sind.
Sie zeigen die Gesichter ehemaliger Soldaten und Soldatinnen des israelischen Militärs (IDF), die in den von Israel besetzten Gebieten des Westjordanlands und Gazastreifens gedient haben und bei der Nichtregierungsorganisation Breaking the Silence (BtS) Zeugnis über ihren Militärdienst abgelegt haben. Dass ihre Identität in der Öffentlichkeit zu sehen ist, ist eine Seltenheit. In der Regel werden die Berichte anonymisiert veröffentlicht.

„Jeder, der sich hier zeigt, geht das Risiko ein, persönlich angegriffen zu werden oder mit Freunden und Familienmitgliedern zu brechen“, sagt Avner Gvaryahu, Direktor von Breaking the Silence, denn die NGO ist in Israel umstritten. Die Kritik reicht von Schwierigkeit, die Richtigkeit der Berichte nachzuweisen, über Lüge und Sicherheitsgefährdung bis zum Vaterlandsverrat. Bisher erwiesen sich sämtliche Vorwürfe als haltlos.

Über die Versuche der Diskreditie- rung hinaus versuchen führende Politiker und rechte Lobby-Gruppen die Arbeit der Organisation zu blockieren. So hat die rechte israelische Gruppe Ad Kan erfolglos einen Spion in die Gruppe geschmuggelt, um belastendes Material zu sammeln, die Kulturministerin Miri Negev bedrängt immer wieder Institutionen, die BtS-Veranstaltungen in ihren Räumen erlauben, und Benjamin Netanjahu drohte 2017 sowohl Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als auch dem damaligen Außenminister Sigmar Gabriel damit, geplante Gespräche abzusagen, sollten sie sich mit der NGO treffen. Steinmeier entschied sich für Netanjahu, Gabriel für BtS. Im letzten Jahr wurde das „Breaking the Silence“-Gesetz verabschiedet, das militärkritischen Organisationen den Zutritt zu Schulen verbietet.

Auch für diese Ausstellung, so Quique Kierszenbaum, sei es schwierig gewesen einen Ort zu finden – er sei mit der Begründung, man „wolle sich aus politischen Themen raushalten“, zuvor an einigen Stellen auf Ablehnung gestoßen. Dabei war es nicht immer so. Als eine Einheit ehemaliger Soldaten, die während der zweiten Intifada in der besetzten Stadt Hebron diente, 2004 in der Ausstellung „Breaking the Silence – Israeli soldiers speak about the occupied territories“ Fotos und Erfahrungsberichte aus ihrem Alltag veröffentlichte, wurde sie mit so viel Neugier begrüßt, dass sie durch das ganze Land reiste und so- gar in die Knesset eingeladen wurde. Aus dieser Ausstellung ist mittlerweile eine professionelle NGO geworden, die mehr als 1200 Berichte gesammelt hat, jährlich fast dreihundert Touren in be- setzte Gebiete organisiert und national und international Vorträge und Ausstellungen ausrichtet, um gegen die israelische Besatzung zu protestieren, so in diesem Jahr im Europäischen Parlament und bei der jüdisch-amerikanischen Gruppe J-Street in New York.

„Die Stimmung gegen uns hat sich 2009 geändert, im Jahr nach dem Gaza- Krieg und Benjamin Netanjahus Amtsantritt“, sagt Gvaryahu. Seitdem werden Mitglieder, die sich in die Öffentlichkeit trauen, regelmäßig verbal und tätlich an- gegriffen. „Wir sind keine klassische NGO, die sich für Opfer einsetzt. Wir sind die Täter. Und das wollen viele nicht hören“, sagt er. Zumal die israelische Armee sich selbst als „moralischste Armee der Welt“ sieht, und ein großer Teil der israelischen Bevölkerung ebenfalls.
Nir Avhishai Cohen, Reservist des israelischen Militärs, ist in dieser Ausstellung zum ersten Mal als Mitglied von Breaking the Silence in die Öffentlichkeit getreten: „Unsere Berichte zeigen keine Ausnahmesituationen, sondern Dinge, die jeden Tag passieren. Was wir in den besetzten Gebieten machen, ist keine Notwendigkeit, um unser Land zu verteidigen. Wir sind aus demselben Grund in die Armee eingetreten, aus dem wir nun unser Schweigen brechen.“ Mitten im Gespräch mit dieser Zeitung klingelt Cohens Telefon. Es ist die Armee, die ihn angesichts der Raketenbeschüsse des Islamischen Dschihads als Reaktion auf die Tötung ihres Anführers durch die israelische Regierung zwecks Bereitschaft anruft.

„Wenn wir als Soldaten und als Siedler tun können, was immer wir wollen, ohne dass es Konsequenzen hat, wo soll das alles dann enden?“, fragt auch Yael Lotan, die während der zweiten Intifada im Gazastreifen als Soldatin diente und deren Porträt und Worte in der Ausstellung zu sehen sind.
„Die israelische Regierung hat diese jungen Menschen, damals noch fast Kinder, in besetzte Gebiete geschickt. Sie sollte wenigstens den Mut haben, diesen Menschen in die Augen zu schauen“, sagt der Fototgraf Quique Kierszenbaum, der vor zehn Jahren mit der Porträt-Serie begonnen hat, nachdem Berichte aus ei- nem Artikel im britischen „Independent“ über die „Operation Cast Lead“ im Gaza- streifen, an dem er mitrecherchiert hat, von der damaligen Armee-Sprecherin in Frage gestellt worden waren.

Mehr als sechzig sind bisher entstanden, zweiundfünfzig – stellvertretend für die Jahre der israelischen Besatzung – hat er für die Ausstellung ausgesucht. Individuelle Zeugnisse, die universelle Ereignisse zeigen sollen. Die Gesichter, die in „Expose(d)“ zu sehen sind, gehören Soldatinnen und Soldaten aus liberalen, orthodoxen, national-religiösen israelischen Familien.

Bei der Eröffnung im Herzen Tel Avivs versammeln sich Mitglieder von Organisationen wie B’tselem und Hu- man Rights Watch (dessen Direktor gerade von der israelischen Regierung des Landes verwiesen wurde), Diplomaten, Journalisten und Wissenschaftler. Sie sind das, was die noch amtierende Regierung als „radikale Linke“ bezeichnet – nur dass diese „radikale Linke“ Dinge beklagt, die sich mit den Beobachtungen von internationalen Organisationen und diplomatischen Vertretungen decken.

So wie sich die Stimmung in Israel im- mer mehr gegen diese Linke richtet, verhärten sich dort, wo die Geschichte von Breaking the Silence begann, in Hebron, die Verhältnisse. Die größte Stadt im Westjordanland ist ein Mikrokosmos, in dem sich viele Symptome des Nahost- Konflikts verdichten. Hier wurden vor neunzig Jahren Juden von Arabern er- mordet, hier begann vor einundfünfzig Jahren die nach internationalem Recht als illegal eingestufte Besiedlung, hier wurden vor fünfundzwanzig Jahren betende Palästinenser in der Ibrahimi-Moschee über den Gräbern der biblischen Urväter von einem rechtsradikalen Siedler erschossen.

Es ist mitnichten die Besatzung, die hier zu sehen ist, aber ausreichend brutale Auswüchse für das Leben von Palästinensern auf besetztem Gebiet. Die Kasbah, die zentralen Märkte und die Haupthandelsstraße von Hebron sind menschenleer. Dort, wo noch Palästinenser wohnen, die nicht die Mittel haben fortzuziehen, haben NGOs Gitter angebracht, um sie vor Steinen der Siedler zu schützen. Seit Januar 2017, erzählt Nadav Weiman, einst Scharfschütze einer Eliteeinheit, nun Bildungsbeauftragter von Breaking the Silence, der durch Hebron führt, seien die Siedler haltloser geworden.

Und soeben verkündete die amerikanische Regierung, die diese Entwicklung begünstigt hat, Siedlungen im Westjordanland nicht länger als illegal zu betrachten. Die Opfer der Besatzungs- und Besiedlungspolitik können die Bilder der zweiundfünfzig ehemaligen Soldaten und Soldatinnen in Tel Aviv nicht sehen, aber in ihren Worten, auf Hebräisch, Englisch und Arabisch, sind sie, wenngleich gesichtslos, umso präsenter.