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Feature

Piraten: Die Kidnapper wünschen frohe Weihnachten

Seit Januar steht ein mutmaßlicher Pirat in Osnabrück vor Gericht. Das Gericht wirft ihm vor, ein brutaler Schiffsentführer zu sein. Er sagt: Ich war nur der Friseur.

(Original: erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 9.3. 2014)

Am dritten Tag des Piratenprozesses stehen plötzlich Justizbeamte mit kugelsicheren Westen im Saal. Vor dem Landgericht Osnabrück parken Polizeibusse, Beamte mustern die Ausweise jedes Besuchers genau. Im Zuschauerbereich, hinten an der Wand, lehnen jetzt bullige Zivilpolizisten. Man ist vorsichtig geworden. Denn einer der Pflichtverteidiger jenes Mannes, den sie einen Piraten nennen, hat anonyme Post bekommen. Darin steckten eine Patrone und ein Brief mit der Aufforderung, das Mandat für die „somalische Ratte“ sofort niederzulegen; sonst bekomme er Besuch. Eine Morddrohung per Kugel, eine Szene wie aus der Mafiaserie „The Sopranos“. Es weht ein Hauch Somalia durch das beschauliche Osnabrück.

Vor Gericht steht ein Mann, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, mit Komplizen ein deutsches Schiff gekapert, die Besatzung gefoltert und Lösegeld erpresst zu haben. Angriff auf den Seeverkehr, erpresserischer Menschenraub und gefährliche Körperverletzung. Darauf steht ein Strafmaß zwischen fünf und 15 Jahren. In den Vernehmungen hat der Angeklagte behauptet: „Ich war auf dem Schiff nur der Friseur.“ Das Gericht ringt seit Ende Januar um die Frage: Wer ist der Somalier – ein unbedeutender Handlanger oder eine Schlüsselfigur in einer brutalen Schiffskaperung?

Der Angeklagte sieht mehr wie ein Sachbearbeiter aus, weniger wie ein Pirat. Er ist groß, schlaksig und trägt eine randlose Brille. Auf seinem blauen Kapuzenpulli prangt der rote Schriftzug „Victory“. Sein Dolmetscher, ein somalischer Landsmann, ist sein Filter zur Außenwelt. Wenn die Zeugen aussagen, fixiert der Angeklagte sie mit durchdringendem Blick. Und schweigt. Wie der mutmaßliche Pirat heißt, weiß keiner so recht. Die Anklage listet vier verschiedene Aliasnamen auf. Sein Verteidiger sagt: „Salaax muss reichen.“ Wie alt er ist? Vermutlich 44 Jahre.

Ungeklärte Identitäten, falsche Namen – es gibt viele kleine Stol- persteine in diesem Prozess, bei dem nur der Tathergang klar ist: Piraten entführten im Mai 2010 vor der somalischen Küste die „Marida Marguerite“. Ein Schiff, das unter der Flagge der Marshall Islands segelte, aber der Reederei OMCI Shipmanagement aus Haren im Emsland gehört. Ein brandneuer Tanker, allein die Ladung, 10 000 Tonnen Flugzeugbenzin und Speiseöl, war zehn Millionen Euro wert. Der Gesamtwert des Schiffs liegt bei knapp 25 Millionen Dollar, ein Jackpot für die Piraten.

Damit begann für die Seeleute ein achtmonatiges Martyrium. Die Kidnapper schlugen die Besatzung und folterten sie. Nach quälend langen Verhandlungen einigten sich die Reederei und die Entführer auf ein Lösegeld. Kurz nach Weihnachten 2010 kamen die Geiseln frei.

Dann passierte lange nichts. Das Geld, die Piraten – verschwunden. Im April 2013 kontrollierte ein Bundespolizist Salaax am Münchner Hauptbahnhof. Die Polizisten nahmen seine Fingerabdrücke und schickten ihn in die Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge nach Gießen. Dann die Überraschung: Salaax’ Fingerabdrücke passten zu Spuren auf dem Schiff, insgesamt acht sogenannte Kreuztreffer fanden die Ermittler. So auch in einem grünen Notizbuch, in das die Piraten die Aufteilung des Lösegeldes notiert hatten. Mehrere Seemänner wollen ihn außerdem auf einem von der Polizei vorgelegten Lichtbild iden- tifiziert haben.

Nun muss ein deutsches Gericht einen Sachverhalt klären, der sich knapp 6000 Kilometer entfernt ab- gespielt hat. Bei dem die Täter Somalier sind, die Schiffsbesatzung aus Indien, Bangladesch und der Ukraine kommt und das gekaperte Schiff unter der Flagge der Marshall Islands schipperte. Kann man solche Fälle mit den Mitteln des deutschen Rechtsstaats aufklären?

15 Verhandlungstage von Januar bis Mitte April sind angesetzt, mit unzähligen Zeugenaussagen. LKA-Beamte, die Verhandler der Reederei, Dolmetscher. Ob das Gericht Crew-Mitglieder vernehmen kann, steht noch in den Sternen. Der erste Zeuge ist ein Mitarbeiter des Landeskriminalamtes Niedersachsen. Herr K. leitete die Er- mittlungen gegen die Piraten und saß bei den telefonischen Verhandlungen beratend mit am Tisch. Er beschreibt minutiös den Ablauf der Entführung, von ersten Nachricht am 8. Mai bis zum Abwurf des Lösegelds aus einem Flugzeug am 27. Dezember 2010. K. formuliert bürokratisch korrekt, da werden „Grundinformationen zusammengezogen“ und Telefone „aufgeschaltet“. Es ist eine Aussage wie ein lebender Aktenvermerk.

Doch das LKA ist in den Verhandlungen nur Nebendarsteller. Schiffsentführungen sind längst
Geschäftsmodelle geworden – und die Reedereien haben reagiert. Wird ein Schiff von Piraten gekapert, setzt sich ein vertraglich festgelegtes Prozedere in Gang. Denn die Tanker sind hoch versichert – und die Versicherung verlangt, dass die Reederei bei einer Entführung mit einer vorher bestimmten Sicherheitsfirma kooperiert. Der Verhandlungsführer der OMCI-Reederei hatte während der gesamten Verhandlungen zwei britische Sicherheitsexperten an seiner Seite.

Begonnen hat das Drama am 8. Mai; da erhält der Sicherheitskoordinator der Reederei, Herr C., einen verzweifelten Anruf des Kapitäns der „Marida Marguerite“. Sechs Piraten entern sein Schiff und beschießen die Crew mit Kalaschnikows und Panzerfäusten. Der Nato-Stacheldraht, die Wasserka- nonen – nichts hält sie auf. Das Gespräch bricht ab, die Reederei hört tagelang nichts. Dann ein Anruf. Der Koordinator der Reederei, Herr C., sagt vor Gericht: „Da rief ein Mann an, der sich Ali Jama nannte. Er stellte sich als Verhandler der Piraten vor und forderte 15 Millionen Dollar Lösegeld. Sonst würden die Piraten die gesamte Besatzung töten und das Schiff in die Luft jagen.“

Die Reederei ist „shocked“ und bietet knapp unter einer Million Dollar Lösegeld. Der Chefunterhändler der Piraten antwortet daraufhin in einem Fax, Betreff „Money“: Der Piraten-Commander habe ihm ins Gesicht gespuckt, als er ihm das Angebot der Reederei vorgelesen habe. Es beginnen zähe Verhandlungen, mit Tricks und Finten, Drohungen und Schmeicheleien. Ein Szenario wie beim Poker – wenn es dabei nicht um das Leben der Geiseln gehen würde.

Die Verhandler der Piraten nehmen eine spezielle Rolle in diesem Fall ein. Manchmal, so ein Polizist des LKA vor Gericht, habe man mit mehreren parallel verhandelt. Ali Jama blieb der Ansprechpartner, ab Anfang September übernimmt ein Leon. Einmal ruft ein unbekannter dritter Mann von einem somalischen Anschluss an, er nennt sich Mohammad Ali. „Die Verhandler haben versucht, sich als neutrale Makler zu positionieren, und sich von den Piraten distanziert“, sagt der Kriminalbeamte des LKA, Herr K. „Das waren Komplizen der Verbrecher, das war mir klar“, sagt der Verhandlungsführer der Reederei. Welche Rolle sie wirklich spielten, ist schwer einzuschätzen.

Manchmal bewegt sich wochenlang nichts. Fortschritte in den Verhandlungen werden, bürokratisch korrekt, per Fax bestätigt. Alles muss seine Ordnung haben, die Piraten unterzeichnen mit „Yours sin- cerely“. Ab und zu flüstert der Kapitän des Schiffs seinem indischen Landsmann C. während eines der Telefonate auf Hindi zu: „Mit zwei bis drei Millionen könnten sich die Piraten zufrieden geben.“
Im August nimmt der Druck von allen Seiten zu. Vergleichbare Schiffsentführungen sind meist nach ein bis zwei Monaten beendet, diese dauert schon 16 Wochen. Die Angehörigen der indischen Seeleute wollen Antworten. Sie besetzen ein Büro der Reederei in Indien, einige drohen mit Hungerstreik. Die indische Botschaft wird tätig. „Ich wurde als die Seite gesehen, die kein Geld zahlen will“, sagt der Vertreter der Reederei, der damals in Indien tätig war. Die Entführer drohen damit, das Schiff an die Terrororganisation Al Shabaab zu verkaufen. Verhandlungsstand: Die Piraten fordern um die acht Millionen, die Reederei bietet zwei.

Die Zustände auf der „Marida“ sind zu diesem Zeitpunkt katastrophal. Die Mannschaft darf nicht duschen, auf Deck türmt sich der Dreck. Überall faulen die berauschenden Khat-Blätter, die die Piraten kauen und achtlos ausspucken. Dann wechselt die Reederei den Unterhändler, wahrscheinlich wegen der eingefahrenen Situation. Nun verhandelt ein Mann, der sich gegenüber den Piraten „Mike“ nennt: „Ich wollte einen Namen, den jeder aussprechen kann“, sagt er vor Gericht.

Die Folterungen beginnen. Ende August funkt der erste Ingenieur die Reederei an und sagt: „Der Kapitän ist tot.“ Die Verhandler sind gebrieft, solche Drohungen nicht ernst zu nehmen. Genau wissen sie es nicht. Der Kapitän lebt, doch die Crew wird in den nächsten Monaten drangsaliert, geschlagen und gefoltert. Die Piraten glauben, dass die Crew Treibstoff versteckt hält und mit der Reederei kommuniziert. Es sind grausame Details, die in den Vernehmungsprotokollen stehen: Die Piraten hängen den Chefingenieur kopfüber von der Reling, Arme und Beine hinter dem Rücken gefesselt. Dort baumelt er stundenlang. Die Piraten zwingen ihn, seine Klamotten auszuziehen. Dann sperren sie ihn in eine Fleischkammer. Bei minus 17 Grad. Licht aus, Tür zu. Er tanzt, um zu überleben. Die Tür öffnet sich, ein Pirat fragte: „Wo ist der Treibstoff?“ Keine Antwort. Sie hängen ihn an einen Fleischerhaken, beinahe eine Stunde lang. Der Kapitän wird mit einem Messer am Hals gefoltert, die Piraten drohen mit Erschießung.

Anderen Seemännern werden die Genitalien mit Kabelbindern abgebunden. Immer wieder wird die Besatzung ans Telefon gezerrt und muss den Verhandlern in Deutschland berichten. „Ich habe darauf reagiert, wie ich vorbereitet worden bin: geschäftsmäßig“, sagt der Verhandlungsführer der Reederei, „Mike“, vor Gericht. „Vom Gefühl her sah es ganz anders aus.“

„Warum haben die Verhandlun- gen so lange gedauert?“, fragt Richter Temming den Zeugen. Es könn- te an Unstimmigkeiten unter den Piraten gelegen haben, an den unklaren Zuständigkeiten, sagt „Mike“. Im Nachhinein glaube er aber an einen anderen Grund: Der Zweite Offizier habe sich auf die Seite der Piraten geschlagen, um bessere Bedingungen an Bord zu bekommen. Er habe den Piraten den Eindruck vermittelt, es sei noch mehr Geld zu holen. Eine Meuterei auf der „Marida“? Dafür
spricht: Nachdem die Piraten von Bord gegangen waren, bat der Kapitän um Schutz – vor der eigenen Besatzung. Beim Zweiten Offizier werden später zwar Teile des Lösegelds gefunden werden, die Staats- anwaltschaft die Ermittlungen einstellen. Eine Meuterei habe sich nicht beweisen lassen.

Im späten Herbst kommt wieder Tempo in die Verhandlungen. Das Schiff war mit rund fünf Millionen Dollar versichert. Auf genau diesen Beitrag einigen sich „Mike“ und die Piraten. Das Lösegeld wird mit einem Flugzeug aus Kenia eingef logen und dann über dem Schiff abgeworfen. Es ist kurz nach Weihnachten, als die achtmonatige Hölle endet. Die Piraten senden ein Bestätigungsfax, sie unterschreiben mit „Merry Christmas“.

Der Angeklagte verfolgt den Prozess beinahe regungslos. Dass er an Bord war, hat er in den Ver- nehmungen zugegeben. Aber er habe nur die Haare geschnitten und die Liste mit den Beutegeldern geführt. Ein sogenannter Investor, einer, der die Schiffsentführung finanziert habe, sei er nicht. Sein Rechtsanwalt Klein sagt: „Mein Mandant wird sich noch zu seiner Rolle äußern.“ Wann, sagt er nicht.

Für die Verteidigung sind besonders die indischen Besatzungsmitglieder und der ukrainische Chefingenieur wichtige Zeugen. „Bisher haben sie meinen Mandaten nur auf vorgelegten Fotos identifiziert“, sagt Rechtsanwalt Klein. Doch ob und wann sie vor Gericht vernommen werden können, weiß bisher keiner. Die Mühlen der Rechtshilfegesuche mahlen langsam. Ein weiterer wichtiger Zeuge, ein verurteilter Pirat, sitzt wegen einer anderen Schiffsentführung in Amerika in Haft. Er hatte den Angeklagten auf einem Foto als einen Entführer der „Marida Marguerite“ identifiziert. Um die Aussage in Deutschland verwerten zu können, müssten Teile des Gerichts in die Vereinigten Staaten reisen. Die Jagd nach der Wahrheit dauert an.