Gleich geht der Vorhang auf und Samuel ist speiübel. Eigentlich kennt er das, vor Menschen aufzutreten, das hat er schon als Kind beim Kunstturnen gemacht. Doch das hier ist anders. Den Iwan Romanowitsch Tschebutykin in Tschechows „Drei Schwestern" soll er auf der Bühne verkörpern. Sein erster großer Theaterauftritt. Ein Kommilitone steckt ihm eine Pille zu, was „Gutes gegen die Übelkeit." Samuel schluckt die Pille - und bereut es im nächsten Moment.
„Das war irgend so eine krasse Aspirin und ich war Medikamente überhaupt nicht gewohnt", erinnert er sich lachend. „Ich habe direkt vor dem Auftritt alles ausgekübelt und stand eine Minute später auf der Bühne, frisch erbrochen. Dann war aber auch alles schon wieder gut."
Jonathan muss ebenfalls lachen, als er von seiner ersten großen Rolle erzählt, Romeo in „Romeo und Julia". Bei ihm war es nicht der Mageninhalt, der zu Boden ging: „Ich war bei einer der Hauptproben extrem angespannt und habe gespielt, gespielt, mich richtig in Rage gespielt und bin dabei einfach von der Bühne in den leeren Zuschauerraum gekracht."
Samuel Koch ist seit drei Jahren am Staatstheater Darmstadt engagiert. Jonathan Hutter war drei Jahre am Theater Krefeld Mönchengladbach und wechselt bald ans Volkstheater München. Er stand bereits in jungen Jahren als Musiker auf der Bühne. Die beiden verbindet eine langjährige Freundschaft. 2010 war das, da brauchte Samuel vor einem Vorsprechen an der Staatlichen Schauspielschule Stuttgart einen Schlafplatz und bekam eine Reihe von Nummern in die Hand gedrückt. Er wählte Jonathans Nummer - „der Anfang vom Ende", sagt er mit einem Grinsen.
Ein Gebet gegen die Anspannung vor dem AuftrittKlare Sache, die zwei mögen sich und haben viel zusammen erlebt. Wir wollen jetzt wissen, wie geht man denn als bühnenerfahrener Jungschauspieler, 29 und 27 Jahre alt, so mit Lampenfieber um?
„Kurz vor dem Auftritt hat man so seine Rituale", berichtet Jonathan, der Jüngere, „Ich esse fast immer eine Banane und Zähneputzen gehört auch dazu." Und meist auch ein Gebet, damit gebe er diese Anspannung kurz vor dem Auftritt ab. Samuel stimmt zu: „Das ist bei mir wie bei Joni, wir haben eine ähnliche geistige Blutgruppe." Er habe es sich schon früh zu Gewohnheit gemacht, ein Stoßgebet loszuwerden, „ähnlich wie andere ihr Maskottchen küssen." Essen könne er aber vor einem Auftritt nicht.
Feste Rituale sind ein Mittel gegen Lampenfieber, das kennt man von Musikern oder Sportlern. Ein anderes: Gute Vorbereitung. Klar, naheliegend. Alles beginnt mit der intellektuellen Durchdringung des Textes, da sind sich die beiden einig; worum geht es, welche Sätze haben besonders Gewicht? „Wir hatten das schon, dass wir vier Wochen nur gelesen und gelesen haben, bis der Text inhaliert war", so beschreibt Samuel die erste Phase der Annäherung an ein Stück. Danach komme der wichtigere Teil: sich mit dem Herzen an eine Figur zu verschenken, wie Jonathan es formuliert.
Schauspieler machen sich verletzlichSamuel: „Das ist ja unser Hauptjob, Emotionen von der Bühne runter oder zur Tribüne hoch zu transportieren." Das sei das höchste der Gefühle, wenn dies gelinge. Um diese emotionale Resonanz bei den Zuschauern zu erzeugen, gehen Schauspieler ein Wagnis ein: Sie machen sich verletzlich. „Ich liefere mich dem Publikum aus", sagt Jonathan. „Das machen wir im Alltag selten, weil wir immer so beherrscht sind." Diesen Schutz aufzugeben, dafür braucht man Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten - und einen gesunden Umgang mit Zweifeln. Die Frage „Bin ich eigentlich ein guter Schauspieler?", begleite einen bei jeder Probe, bei jedem Text wieder.
Wochenlange Vorbereitung, zweifeln und verletzbar sein und dann noch das Lampenfieber - warum tut man sich das an?
Jonathan hat kürzlich in der letzten Vorstellung eines Stückes gespielt und das dem Publikum vorher angekündigt. „Am Ende stand der ganze Raum", erinnert er sich strahlend, „da ist man überwältigt. Ich bin nach so einem Applaus sehr leer und brauche eine Weile, um wieder in die Realität zurückzukommen."
Auch Samuel kennt diese Momente. Vor einigen Jahren, das war nach seinem Unfall, ist er mit Kommilitonen von der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover nach Berlin gereist, zum Theatertreffen deutscher Schauspielschulen. Sein Ensemble gab eine einstündige Darbietung. Samuel spielte zum ersten Mal auf internationaler Bühne vor Kritikern aus ganz Deutschland.
Krasse Drucksituation. Er musste sich nicht nur als Schauspieler bewähren, sondern als Schauspieler, der im Rollstuhl sitzt. „Ich hatte selbst bei meiner Schauspielschule intern Kritiker, die gesagt haben: Wir arbeiten hier nur mit Professionellen, also nicht mit Behinderten." Größer als die Zweifel von außen, waren seine eigenen. „Ich habe anfänglich gedacht, das ist wohl das Naivste, in meinem Zustand so einen Beruf auszuüben."
In dem Stück hatte Samuel einen Monolog und musste sich mühen, akustisch durchzudringen, weil seine Atemwegsmuskulatur beeinträchtigt ist. Doch er hat einen Weg gefunden, seine Stimme so zu präparieren, dass sie „schon auch Wumms hat", wie er sagt. Mit dieser Stimme also sprach er seinen Text und erntete grandiosen Szenenapplaus. „Die Kollegen konnten nicht weiterspielen, weil dieser Applaus so lange anhielt. Das war natürlich ein extrem besonderer Moment."
Lampenfieber lohnt sichMehr als das, ein Schlüsselmoment. „Ich habe gemerkt, dass es gar nicht so abwegig ist, Schauspieler zu werden", so Samuel, „denn in welchem Beruf sonst kann man so mit Gedanken und Stimme und Fantasie und Ausdruck arbeiten?"
Der emotionale Drahtseilakt, die direkte Rückmeldung des Publikums und bestenfalls die Bestätigung, gerade etwas Besonderes kreiert zu haben, all das macht die Schauspielerei für Samuel und Jonathan so reizvoll. Der Kampf mit Lampenfieber, Mageninhalt und Raumorientierung ist es wert, wenn am Ende ein solches Hochgefühl steht.