Die Wohnung von Marc Bruch ist alles andere als normal. Sie ist groß - sehr groß. Über stolze 1140 Quadratmeter erstreckt sich sein Reich, hat sieben Bade- und mehrere Wohnzimmer. Dass dort mal Menschen leben, darauf war die Immobilie ursprünglich nicht ausgerichtet - und blickt auf eine wandlungsreiche Geschichte zurück. Vor rund 70 Jahren als Marmeladenfabrik zur Produktion von Frühstückskonfitüre im nordrhein-westfälischen Wuppertal erbaut, diente die industrielle Kulisse zwischenzeitlich als Büro- und Lagerfläche. Allein nutzt Bruch die riesige Fabrikhalle aber nicht. Läuft man die langen Flure des beinahe an ein Labyrinth erinnernden Komplexes entlang, stößt man auf diverse verschlossene Türen. Wie 30 Prozent der Studierenden wohnt er in einer Wohngemeinschaft. Während die meisten zu dritt oder viert eine Wohnung mieten, herrscht in Bruchs Wohngemeinschaft stets reges Treiben. 22 Menschen haben dort ihr Zuhause.
Langweilig wird es nie, so der frühere Student, wenn so viele unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen. „Wenn man will, muss man nicht mehr viel Kontakt zur Außenwelt haben", sagt er. Wer in einer Wohngemeinschaft lebt, sucht in der Regel nicht einfach einen Platz zum Schlafen, eine rein zweckmäßige Unterkunft, sondern will dort auch Freundschaften knüpfen und mit anderen eine gute Zeit verbringen. So auch der 31-Jährige, der sich selbst als Gesellschaftsmensch bezeichnet. Genau das war auch ein Hintergedanke bei der Planung, der ihm und seinem Freund Lars Roth vorschwebte. Schon damals lebten die beiden in einer Wohngemeinschaft, genossen das Gefühl ständiger Interaktion. Doch sie träumten von einem größeren, Loft-artigen Zuhause. Der Wuppertaler Immobilienmarkt gab allerdings nichts her, was die Ansprüche der beiden Studenten hätte befriedigen können. Dann stießen sie auf die alte Fabrikhalle im Stadtteil Steinbeck und erkannten schnell: Hier müssen ordentlich Schweiß und Geld fließen, bevor das Ganze bewohnbar wird.
Sieben Jahre und 200.000 Euro später blickt das Gebäude auf eine Generalüberholung zurück, größtenteils selbst durchgeführt, betont Bruch. Das Geld stammt von Freunden und Bekannten, die von der Idee der Riesen-WG überzeugt waren, aber auch viele Kleinkredite in Höhe von 5000 bis 10.000 Euro mussten aufgetan werden.
Der Wunsch von Bruch und Mitgründer Roth nach einem Ort für Begegnungen ist Realität geworden. Wie hoch der Stellenwert des gemeinschaftlichen Gedankens ist, zeigt bereits die Aufteilung der Wohnfläche. Mit 600 Quadratmetern besteht mehr als die Hälfte der Wohnfläche aus Gemeinschaftsräumlichkeiten. Allein eine der beiden Küchen ist mit 70 Quadratmetern so groß wie so manche Wohnung - und bietet ebenso wie die entstehende Dachterrasse mit dem Ausblick aufs bergische Wuppertal ein besonderes Panorama. Das Herz des Anwesens ist die gigantische Halle. Acht Meter hohe Decken, 150 Quadratmeter Fläche und eine verglaste Dachfront erwecken tatsächlich Loft-Feeling. Billardtisch und eine gemütliche Sitzecke krönen den Raum als sozialen Umschlagplatz. Gar eine Bühne samt Musikinstrumenten stehen den Bewohnern zur Verfügung. Nur im Winter sollte man sich besser in eine Decke einkuscheln. Schließlich wird der Raum als einziger in der Wohngemeinschaft nicht beheizt. „Da würde man die Kohle aus dem Fenster rausschmeißen", sagt Bruch pragmatisch. „Es ist reine Abhärtung."
Die Halle ist der Mittelpunkt der Wohngemeinschaft. „Wenn du an einem Freitagabend was machen willst, musst du niemanden anrufen - sondern gehst einfach rüber ins Wohnzimmer", führt er aus. Auch Partys finden dort statt. Mit einer Teilnehmerzahl von 200 und 400 Menschen machen sie kleineren Diskotheken durchaus Konkurrenz. Doch die Wochenenden verwandeln sich deshalb nicht in eine Anreihung von Partyexzessen - nur ein paar Mal im Jahr kommt es zu größeren Feten, auch aus Rücksicht auf die Nachbarn, die sich nicht an singende Mittzwanziger auf dem Nachhauseweg gewöhnen wollen.
Und auch wenn das soziale Miteinander Kernwert einer solchen Wohngemeinschaft ist: Es handelt sich um keine hippieske Kommune. Selbst wenn man in einer solch außergewöhnlichen Umgebung wohnt, hat man einen Alltag. „Manchmal sehe ich Mitbewohner wochenlang nicht", erzählt Bruch lachend. Jeder von ihnen hat seinen eigenen Tagesablauf, muss zu unterschiedlichen Uhrzeiten das Haus verlassen oder ihm ist anderes gerade wichtiger, als Kontakt zu den Mitbewohnern zu suchen.
„Wenn man sich mal zurückziehen möchte, geht man einfach in sein Zimmer - da ist Halligalli tabu", so Bruch. Die Schlafräume sind unterschiedlich groß - je nach Bedürfnis können Interessenten Zimmer zwischen zwölf und 35 Quadratmetern mieten. Die Preise schwanken zwischen knapp 300 und 410 Euro - inklusive Internet und einem Reinigungsdienst für die Badezimmer. Wer zum Beispiel näher an der Halle wohnt, bekommt preisliche Abstriche. Der Markt gibt auch hier die Preise vor. Wie lange die Bewohner letztlich Teil der Wohngemeinschaft sind, darüber führt Bruch keine Statistik. Manche verweilen seit Bestehen dort, andere ziehen nach zwei Jahren aus. Der Negativrekord lag bei gerade einmal zwei Wochen.
Wie in jeder Wohngemeinschaft suchen auch Bruch und seine Mitbewohner regelmäßig Nachmieter. Wem dieses ungewöhnliche Konzept zusagt, der findet die Wuppertaler zum Beispiel über deren Internetseite. In gemeinsamen Gesprächen wird anschließend eruiert, ob dieses ungewöhnliche Konzept mit den Vorstellungen des Bewerbers auch wirklich übereinstimmt. „Man muss für so etwas gemacht sein", sagt Bruch. Dabei spielt es nicht die ausschlaggebende Rolle, ob jemand studiert. Die Wohngemeinschaft ist sehr durchmischt. Momentan besucht sogar nur rund ein Drittel die Universität. Die anderen absolvieren eine Ausbildung, jobben, befinden sich in einer Orientierungsphase oder sind selbständig. Bruch selbst brach sein Studium des Bauingenieurwesens ab und arbeitet mittlerweile in der Firma seines Vaters, die sich mit Kälte- und Klimatechnik beschäftigt. Wichtig ist im Zusammenleben vor allem eins: dass die Chemie stimmt.
22 unterschiedliche Menschen, 22 unterschiedliche Lebensstile und 22 unterschiedliche Wertvorstellungen. Da kann es auch zu Reibereien kommen. „Natürlich gibt es beim Putzplan auch Leute, die meinen, in der Anonymität von so vielen Leuten unterzugehen", sagt Bruch. Doch insgesamt beschränkten sich die Probleme auf ein Minimum. Käme es zu Konflikten, seien diese meist durch Gespräche leicht zu lösen. Nur zwei Mal wurde Leuten in der siebenjährigen WG-Geschichte nahegelegt, sich eine neue Bleibe zu suchen. „Obwohl wir so groß sind, haben wir keine anderen Probleme als andere Wohngemeinschaften", sagt Bruch.
So schnell wird Marc Bruch die Riesen-WG aber nicht verlassen. Für ihn sind der Trubel, der ständige Kontakt mit anderen Menschen und die nie aufkommende Langeweile genau das Richtige. Erst wenn mal Familienplanung bevorstehe, könne er sich vorstellen, seine Sachen zu packen. Bis dahin hat er noch viel vor. Mittlerweile gehört ihm der gesamte Gebäudekomplex - und damit zusätzlich zur Wohnfläche weitere fast 2.400 Quadratmeter. Den Platz will er nutzen, um ein Kulturzentrum ins Leben zu rufen, die Nachbarschaft mit Ateliers, Proberäumen und einer Begegnungsstätte zu bereichern. Bis das so weit ist, dürften aber noch einige Jahre ins Land ziehen.
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