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Erinnern ohne Zeitzeugen

Die Zahl der Shoa-Überlebenden wird immer kleiner. Doch kein Geschichtsbuch kann Zeitzeugenberichte aus erster Hand ersetzen. Diese Lücke versucht der Heimatsucher e.V. mit seinem Zweitzeugen-Konzept zu füllen.


Ksenia Eroshina legt eine Sammlung verschiedenfarbiger Postkarten in die Mitte eines Klassenraums. Sie zeigen keine sonnigen Urlaubslandschaften oder Skylines berühmter Metropolen, sondern Schriftzüge. „Um jemanden in Not zu helfen, muss man keine Titel, kein Diplom haben. Man muss nur das Herz an der richtigen Stelle haben", steht auf einer der Postkarten, nach der einer der Schüler der Europaschule im niederrheinischen Kamp-Lintfort greift. Das Geschriebene stammt von Siegmund Plutznik, einem Juden, der die Verfolgung durch die Nationalsozialisten im besetzten polnischen Bedzin überlebt hat.


Eroshina ist keine Lehrerin an der Sekundarschule, sondern kommt von Heimatsucher e.V.. Im Jahr 2014 gegründet, hat sich der Verein zum Ziel gesetzt, deutschlandweit Schüler für Antisemitismus und Rassismus zu sensibilisieren, ein Zeichen gegen verschiedenste Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu setzen. Ein großangelegtes Vorhaben. An diesem Donnerstag im November aber konzentrieren sich Eroshina und die drei weiteren Ehrenamtlichen, die in Parallelklassen unterwegs sind, darauf, den Sechstklässlern näherzubringen, was die nationalsozialistische Herrschaft für Juden bedeutete.

Eigentlich thematisiert erst der Geschichtsunterricht der neunten Klasse den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Die Entscheidung, die Heimatsucher schon in die Erprobungsstufe zu schicken, sei ganz bewusst gefallen, sagen Schulleiterin Barbara Menneckes und Simone Floss, didaktische Leiterin der Schule. Je früher man mit der Thematisierung des Nationalsozialismus beginne, desto besser. Denn ohnehin schnappten die Schüler geschichtsträchtige Begriffe und Namen schon früh auf. Dass es einen Adolf Hitler gab, wissen bereits die Grundschulkinder.


Zweitzeugen erzählen Geschichte weiter

„Unser Projekt ist ein Mittel, Jüdischsein in den Vordergrund zu rücken und aufzuzeigen, was das in der jeweiligen Zeit bedeutete", erklärt Eroshina, die an der Freien Universität in Berlin Geschichte studiert. Für seine Projekttage greift der Verein unter anderem auf Methoden der Bildungsstätte Anne Frank aus Berlin zurück. „Erzählt mir, was ihr an einem ganz normalen Tag unternehmt", fordert die Studentin nun die Sechstklässler auf. Ein Schüler sammelt das Gesagte an der Tafel: zur Schule gehen, frühstücken, Sport machen, radfahren - alles Unternehmungen, die den Alltag von Kindern bestimmen. Dann teilt sie Papierschnipsel aus, auf denen verschiedene antijüdische Gesetze von den Nationalsozialisten stehen: Juden dürfen nur noch zu bestimmten Uhrzeiten Lebensmittel einkaufen; Juden dürfen keine Haustiere mehr besitzen; Juden dürfen in keinem Sportverein angemeldet sein. „Die durften ja gar nichts mehr", resümiert einer der Schüler empört, nachdem fast sämtliche alltäglichen Aktivitäten an der Tafel durchgestrichen wurden. Eine Veranschaulichung, die bei den Schülern haften bleibt.


Mithilfe einer betont lebensweltlichen Herangehensweise will Heimatsucher e.V. die Schüler sensibilisieren, ihnen zeigen, welch weitreichende Auswirkungen die antisemitische Politik der Nationalsozialisten bereits vor dem Entschluss hatte, alle Juden zu töten. Es geht in der Bildungsarbeit des Vereins vor allem darum, Erlebnisse von Betroffenen wie Siegmund Plutznik durch ihre Geschichten in den Vordergrund zu rücken, dem Leid ein Gesicht zu geben. „Unser Ziel ist es, Geschichten von Menschen zu erzählen und was es für Menschen bedeutet, entrechtet zu werden", erklärt Eroshina. Durch Heimatsucher e.V. sollen individuelle Lebensgeschichten für die Nachwelt erhalten bleiben.


Viele Shoa-Überlebende sind bereits verstorben, die übrigen haben inzwischen ein hohes Alter erreicht. Die Zahl der Zeitzeugen, die unter dem nationalsozialistischen Antisemitismus gelitten haben und aus erster Hand berichten können, sinkt von Jahr zu Jahr. Kein Geschichtsbuch könne diese Lücke ausgleichen, sagt Eroshina. Hier setzt Heimatsucher e.V. mit seinem Zweitzeugen-Konzept an, das im Kern darin besteht, seine ehrenamtlichen Mitglieder - im Moment sind es 110 - Vertrauenspaten von Holocaust-Überlebenden werden zu lassen. Eroshina hat das Vorgehen gleich überzeugt. Die 25-Jährige wurde Vertrauensperson von Gerhard Baader und Eva Weyl. Mindestens einmal im Jahr besucht sie sie, schickt ihnen Geburtstagskarten - und erzählt ihre Geschichte weiter. Den Verein leitet bei seinen Aktivitäten ein Zitat des Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst zum Zeugen werden."


Frühzeitige Intervention

Bei Heimatsucher e.V. dreht sich alles um persönliche Kontakte. Die Opfer der Nationalsozialisten stehen als Menschen im Zentrum - nicht entindividualisiert als abstrakte Größe. Eroshina projiziert jetzt ein Foto von Elisheva Lehmann an die Leinwand. Im Stuhlkreis sitzend, erzählt sie der Klasse die Geschichte der heute 94-Jährigen. Wie sie in den Niederlanden aufwuchs, von der zunehmenden Entrechtung jüdischer Menschen betroffen wurde, mit ihrer ersten großen Liebe Pläne für ein späteres Leben schmiedete und sich vor den Nationalsozialisten versteckte. Sie überlebte - ihre Jugendliebe aber wurde in Auschwitz getötet. Interessiert lauschen die Schüler Eroshinas Stimme, die Fassungslosigkeit über die Geschichte ist ihnen ins Gesicht geschrieben.


Die Schüler sollen nun einen Brief an Elisheva oder einen anderen Holocaust-Überlebenden schreiben, dessen Geschichte sie an diesem Vormittag gehört haben. „Die meisten Schüler drücken dabei ihr Mitleid aus, erzählen aber auch, was die Geschichte für sie persönlich bedeutet", sagt Eroshina. Viele Kinder und Jugendliche schreiben auch, dass sie die Geschichte weitererzählen wollen. „Das ist genau das, was wir uns durch das Projekt erhoffen", sagt sie.


Kseina Eroshina hat schon an vielen Schulen den Projekttag durchgeführt. Antisemitische Vorfälle habe sie selbst bislang kaum erlebt. Anderswo allerdings lassen diese aufhorchen: In vielen deutschen Großstädten wechseln jüdische Kinder wegen antisemitischer Anfeindungen auf jüdische Privatschulen. Außerdem kommt es häufig vor, dass Jugendliche das Wort „Jude" in ihrem Sprachregister als Schimpfwort abgespeichert haben. Eroshina und ihre Mitstreiter versuchen früh anzusetzen, um Menschenfeindlichkeit vorbeugend zu bekämpfen und Erinnerungskultur zu fördern. Sie wollen ein Bewusstsein für Recht und Unrecht schaffen, sagt Ksenia Eroshina, die Schüler sollen zu schätzen lernen, in einer vielfältigen und demokratischen Gesellschaft zu leben, in der Rassismus und Antisemitismus nichts zu suchen hat.

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