„Zensur" nannten es viele, die die Arte-Dokumentation sehen wollten. „Der Verdacht liegt nahe, dass wir die Doku deshalb nicht sehen dürfen, weil sie ein antisemitisches Weltbild in weiten Teilen der Gesellschaft belegt, das erschütternd ist", verlautet Bild-Reporter Claas Weinmann im Vorfeld der Dokumentation, die nun auch ihren Weg auf andere Videoplattformen gefunden hat. Kevin Culina, Sozialwissenschaftler und freier Journalist, begrüßt die Veröffentlichung der Dokumentation - auch wenn es witzig sei, dass ausgerechnet die Bild-Zeitung dies ermöglichte. Dass der urheberrechtlich fragwürdige Leak von einigen kritisiert wurde, sei oftmals auf anti-israelische Positionen und Stimmungen bei den Kritiker*innen zurückzuführen. Nun soll sie doch im Öffentlich-Rechtlichen ausgestrahlt werden: Nämlich am Mittwoch, 21. Juni, im ARD mit anschließender Diskussion bei Maischberger.
Der Sender Arte widerspricht den Zensurvorwürfen indes vehement. Der Fokus liege nicht wie abgesprochen auf dem Antisemitismus in Europa, sondern auf dem Nahen Osten, heißt es von Arte-Programmdirektor Alain Le Deberder gegenüber der Bild. Dabei spielt der israelisch-palästinensische Konflikt eine entscheidende Rolle für den europäischen Antisemitismus, weiß Culina: „Eine Reise nach Israel und Palästina kann, und das zeigt der Film sehr aufschlussreich, antisemitische Bilder in Europa faktenreich entkräften und den dortigen Konflikt entmystifizieren."
Tatsächlich bietet die Dokumentation der Idee sowie der Entstehung Israels als jüdischen Staat ebenso viel Raum wie dem Nahost-Konflikt und zeigt auch Beispiele von friedlichem Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinenser*innen. Außerdem verknüpft die Dokumentation den europäischen Antisemitismus sinnvoll mit Analysen von Nahost-Expert*innen. Die Einschätzung des Arte-Programmdirektors hinkt, wie verschiedene Schwerpunkte in dem 90-minütigen Film zeigen.
Der Film beginnt mit einer Rede von Mahmoud Abbas, Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, im vergangenen Jahr im Brüsseler EU-Parlament. Die Gelegenheit nutzte er, um Israel zu dämonisieren und dem Staat eine quasi allumfassende Macht zuzuschreiben: Würde die „Besatzung" palästinensischer Gebiete beendet, würden „Terrorismus, Extremismus und Gewalt auf der ganzen Welt verschwinden", meint Abbas. In der Argumentation erkennt Filmemacher Joachim Schröder eine Analogie zu Julius Streicher, Herausgeber der Hetzschrift Der Stürmer im NS-Regime. „Ohne Lösung der Judenfrage keine Lösung der Menschheit", hieß es von dem Nationalsozialisten.
Außerdem, führt Abbas aus, würden Rabbiner planen, Wasser zu vergiften, um Palästinenser*innen zu töten. „Das ist eine der Ritualmordlegenden, die seit dem Mittelalter in Europa kursieren, um Juden zu vertreiben und zu ermorden," ordnet der Kommentator das Gesagte treffend ein. Bereits im Mittelalter bezichtigte die Bevölkerung Menschen jüdischen Glaubens, Brunnen vergiftet und so die Pest verbreitet zu haben. Trotzdem lässt es sich Martin Schulz (SPD), seinerzeit Präsident des Europäischen Parlaments und heutiger Kanzlerkandidat für die deutsche Sozialdemokratie, nicht nehmen, die Rede Abbas' als „inspirierend" zu bezeichnen. Zahlreiche weitere EU-Parlamentarier*innen applaudierten Abbas stehend. Auch der Antisemitismus in der Linkspartei wird angesprochen - bedingt durch das Ziel eines gesamteuropäischen Überblicks tritt das Thema jedoch nur am Rande auf.
Versteckt hinter Phrasen
Auch geht die Dokumentation auf Akteur*innen außerhalb der Parlamente ein, die sich auf antisemitische Denkkonstrukte berufen. Dabei zeigt sich, dass sich der moderne Antisemitismus im Deckmantel verschiedener Codierungen ausdrückt. Anstelle offen artikulierter Ablehnungen und Agitationen gegen Jüd*innen, würden heutige Antisemit*innen ihren Judenhass vor allem mit Dämonisierungen Israels ausdrücken. Oder Begriffe wie „angloamerikanisches Finanzkapital" - oftmals untermalt mit jüdischen Personen wie der Bankiersfamilie Rothschild - paraphrasieren, so Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel in der Dokumentation. Eine Feststellung, die auch Culina und sein Kollege Jonas Fedders in ihrem Buch Im Feindbild vereint. Zur Relevanz des Antisemitismus in der Querfront-Zeitschrift Compact herausgearbeitet haben ().
Raum finden auch Demonstrationen sogenannter antizionistischer Gruppen. Besonders im Zuge des Gaza-Krieges 2014 kam es dabei zu antisemitischen Vorfällen. Die Dokumentation zeigt Aufmärsche in verschiedenen europäischen Städten, darunter auch Essen. „Kindermörder Israel", skandieren einige Demonstrierende, andere Teilnehmende huldigen unter geschwenkter Palästina-Flagge Adolf Hitler. In Folge einer Kundgebung von solid, der Jugendorganisation der Linkspartei, stürmten die Demonstrant*innen zur Konfrontation mit einer israelsolidarischen Kundgebung am Willy-Brandt-Platz (akduell berichtete). Auch in Frankreich kommt es im gleichen Jahr zu antisemitischen Angriffen: Antizionist*innen greifen eine Pariser Synagoge an und verfolgen mit Stühlen bewaffnet die Gläubigen durch die Straßen.
Vielseitige Dokumentation
„Die Dokumentation gibt einen sehr guten Einblick in die Funktionsweisen und Facetten des israelbezogenen Antisemitismus und zeigt, wie dieser mit Elementen aus dem modernen Antisemitismus sowie dem christlichen Antijudaismus arbeitet", resümiert Culina. Über den Nahost-Konflikt hinaus schafft der Film ein Bild des Antisemitismus sowohl im linken, als auch im rechten Lager. Er dokumentiert Sympathien für antisemitische Argumentationen innerhalb der Parlamente und der Entwicklungshilfe, Judenhass in den Medien und in der Popkultur sowie in migrantischen Communities. Besonders für bislang uninformierte Zuschauer*innen sei der Film aber an einigen Stellen zu „verkopft", findet Culina. „Auch wenn der zynische Unterton des Kommentators sehr pointiert und passend ist, hätten einige Stellen für ein breites Publikum etwas aufgelockert und grundlegender erklärt werden sollen", führt er aus.
Der Vorwurf des Arte-Programmdirektors, die Dokumentation sei einseitig, entspringe vor allem den Beiträgen israelischer Soldat*innen und Generäle, die als Spezialist*innen die militärische Strategie von Terrororganisationen wie der Hamas einordnen. Dass gerade sie ihre Expertise teilen sollten, sei unabdingbar, findet Culina. Aber: „Sicher wäre eine zusätzliche Einordnung durch eine*n Historiker*in sinnvoll gewesen." Zudem empfindet Culina die Kritik an einer mangelnden Kontroversität als redundant: „Eine Dokumentation über Antisemitismus muss einseitig sein. Sie muss sich der Kritik und dem Schutz der Betroffenen verschrieben haben. Ergebnisoffen darf sie nicht sein."