Brexit: Statt 28 Sterne bald nur noch Union Jack für die Brit*innen?. (Foto: Gerne)
Ein historischer Tag für die Europäische Union: Vergangenen Donnerstag, 23. Juni, stimmten 72 Prozent der wahlberechtigten Brit*innen mit 52 Prozent knapp für die Leave-Kampagne. Während die eine Seite einen negativen Wendepunkt in der europäischen Integration sieht, feiern sich Rechtspopulist*innen in ganz Europa. Gerade das sollte für die politische Linke einen Grund darstellen, neue Strategien zu entwickeln.
Noch nie zuvor saßen so viele europaskeptische Parteien im Europaparlament wie in der Legislaturperiode seit 2014. Besonders im rechten Spektrum ist die Ablehnung des europäischen Gedankens manifest. Nun hat mit Großbritannien der erste der bislang 28 Mitgliedstaaten den Austritt aus der Europäischen Union beschlossen. In den Stunden danach überschlugen sich die Ereignisse: Der konservative Premierminister David Cameron, der 2013 Gegner*innen seiner Conservative Party mit dem Versprechen eines anstehenden Referendums ruhigstellte, kündigte wegen des Ergebnisses wie im Vorfeld versprochen seinen Rücktritt im Oktober dieses Jahres an. Der britische EU-Finanzkommissar Jonathan Hill legte am Wochenende sein Amt nieder.
Die Börse reagierte mit Einbrüchen und einem Wertverlust des britischen Pfund. Schottland und Irland verkündeten ihre Bestrebung, sich von Großbritannien lösen und Teil der Europäischen Union bleiben zu wollen. Weitere Referenden könnten also vor der Tür stehen. Währenddessen stimmen Millionen Brit*innen in einer Online-Petition für ein weiteres Referendum, um einen Verbleib in der Union zu erkämpfen. Rechtspopulist*innen von Front National bis zur Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ) erlebten ihren politischen Höhepunkt des Jahres und Björn Höcke von der Alternative für Deutschland (AfD) sehnt sich eine Volksabstimmung über den Verbleib Deutschlands in der Europäischen Union herbei. Diese zeigte sich überrascht über das Ergebnis und berief prompt zu Sondersitzungen. Nun möchte der Staatenverbund aber schnellstmöglich über den Austritt Großbritanniens debattieren, wird aber auf die Wahl der*des bevorstehenden Premierminister*in warten müssen. Cameron möchte die Verhandlungen nämlich nicht führen.
Eins, zwei oder drei?
Noch ist Großbritannien vollwertiges Mitglied der Europäischen Union. „Wenn die Führungskrise beseitigt ist, müsste der neue Premier erst mal einen Antrag stellen, um aus der Europäischen Union herausgehen zu können und dann würden erst mal Verhandlungen anfangen", erklärt Michael Kaeding, Professor für Europäische Integration und Europapolitik der Universität Duisburg-Essen, auf einer Veranstaltung anlässlich des Wahlabends in der Duisburger Volkshochschule. Nun müssen nämlich das Europäische Parlament, die Europäische Kommission, der Europäische Rat und Großbritannien absprechen, wie der Austritt aus der Europäischen Union geschehen soll.
Die Verhandlungen gemäß Artikel 50 des Vertrags der Europäischen Union sind für zwei Jahre angesetzt, können aber unendlich verlängert werden. „Ob das aber politisch gewollt ist, ist eine andere Frage," so Kaeding und weist auf die drei Optionen hin, die nun zur Debatte stehen. Ein mögliches Szenario wäre das norwegische Modell. „Damit hätten die Briten ein Interesse, in den europäischen Währungsraum zu kommen. Das heißt, sie akzeptieren alle Regeln, die wir im europäischen Raum haben wie den gemeinsamen Binnenmarkt und Verbraucherschutz", führt der Politikwissenschaftler aus und betont, dass Großbritannien aber kein Mitwirkungsrecht in den europäischen Institutionen hätte und sämtliche Vertreter*innen aus Brüssel abziehen müsste. „Sie würden im norwegischen Modell also raus aus der Europäischen Union sein, die Regeln aber eins zu eins übernehmen", rekapituliert er. Gerade wegen der starken Bindung an das europäische Recht wäre diese Option für Großbritannien uninteressant.
Viel wahrscheinlicher ist die Präferenz des Schweizer Modells, das sich in einer Vielzahl bilateraler Abkommen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union äußert. „Also eine EU á la carte", wie Kaeding resümiert. Davon zeigt sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker aber wenig begeistert. „Der Deserteur wird nicht mit offenen Armen empfangen", sagte er gegenüber Die Welt und könnte damit ein Exempel für mögliche Nachahmer*innen statuieren. Die dritte Möglichkeit wäre, Großbritannien einen Handelsstatus wie beispielsweise Bangladesch in der Welthandelsorganisation (WTO) einzuräumen. Die Zusammenarbeit würde sich damit auf rein wirtschaftliche Interaktionen beschränken.
Zudem könnte Großbritannien gemäß Artikel 49 des Lissabonner Vertrages auch den Weg zurück in die Europäische Union suchen - was allerdings nicht besonders realistisch ist. Damit Großbritannien endgültig aus der Europäischen Union austritt und einem dieser Modelle folgt, müssen - nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit - zum einen das Europäische Parlament und mindestens 20 der noch verbliebenen 27 Regierungen im Ministerrat zustimmen. Zum anderen müssen sie gemeinsam mindestens 65 Prozent der europäischen Bevölkerung repräsentieren.
Die Paradoxie der Sorgen
„Was die Briten letztendlich als ausschlaggebend in der Entscheidungsfindung für den Verbleib in der Europäischen Union sehen, sind vor allem zwei Themen: Der Einfluss auf die britische Wirtschaft und die Migration", entnimmt Kaeding einer Statistik des Meinungsforschungsinstituts YouGov. Besonders im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union 2004 und der damit einhergehenden Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit migrierten mehr Menschen nach Großbritannien - ein Dorn im Auge der Unabhängigkeitspartei Ukip und ihrem rechtspopulistischen Gefolge. Anders als vielfach in deutscher Berichterstattung über den Brexit dargestellt werde, seien abnehmende nationale Souveränität oder die Bürokratisierung der Europäischen Union bei weitem nicht die ausschlaggebenden Gründe für Befürworter*innen der Leave-Kampagne.
Obwohl es ein Hauptkritikpunkt der Brit*innen ist, gehe es der britischen Wirtschaft so gut wie seit Jahren nicht mehr und die Migrationszahlen seien seit Monaten - auch aufgrund des umstrittenen Abkommens mit der Türkei - rückläufig. „Wie wir identifiziert haben, ist ganz klar die Sorge um die Wirtschaft für den Austritt aus der EU ausschlaggebend," betont Kaeding und verweist auf die Paradoxie, dass ein Großteil der sich damit befassenden Akteur*innen festgestellt hat, dass ein Brexit negative, zu diesem Zeitpunkt noch kaum abschätzbare ökonomische Folgen für Großbritannien hätte. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin prophezeit beispielsweise, dass der Brexit auch die deutsche Wirtschaft ein Drittel des erwarteten Wachstums kosten werde, da eine wahrscheinliche Rezession sich auch auf den restlichen Kontinent ausüben würde. Dass auch aus einer rein marktlogischen Sicht die Migration Großbritannien mehr Gewinn als Verlust einbringt, ist in Augen der Brexit-Befürworter*innen scheinbar ein nebensächlicher Aspekt. Die Mär der*des sozialschmarotzenden Ausländer*in scheint eine Antriebsfeder vieler Brit*innen gewesen zu sein.
Europakritik: Auch von links
Das Feld der Europakritik wird aber nicht vollkommen der politischen Rechten überlassen. Im Zuge der sogenannten Griechenland-Krise wetterte nicht nur die damals neu entstandene AfD gegen weitere Kredite an den südosteuropäischen Staat. Auch weiter links angesiedelte Bewegungen und Parteien wie die spanische Partei Podemos oder Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25) des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis formierten sich in den vergangenen Jahren und erhoben ihre Stimme gegen die europäische Politik - allerdings nicht aus nationalistischen Gründen wie die Rechtspopulist*innen, wenn man die Sorge der Linken Sarah Wagenknechts außer Acht lässt, deutsche Steuerzahler*innen würden unter den Kreditzahlungen leiden. Dass Deutschland aus den Kreditzinsen Profit schlägt, scheint für die Argumentation nicht wichtig.
Einig ist sich die europäische Linke allerdings über die Schädlichkeit der europäischen Austeritätspolitik. Während neoliberale Ökonom*innen wie Hans-Werner Sinn auf die Alternativlosigkeit eines harten Sparkurses schwören, stellen Kritiker*innen verheerende soziale Folgen fest und prophezeien gerade wegen des Spardiktats eine Ausweglosigkeit für den griechischen Haushalt: Weil die Troika - eine Kooperation aus Europäischer Zentralbank, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfond - Griechenland immer weitere Lohn- und Sozialleistungskürzungen sowie Privatisierung öffentlicher Infrastruktur diktiert, könne die Kaufkraft nicht gesteigert und somit die Wirtschaft nicht angekurbelt werden. Die Folge: Eine Abwärtsspirale. Wie die Schuldenstandsquote des Landes zeigt, hat die Austeritätspolitik keineswegs positive Folgen. Im vergangenen Jahr stieg die Neuverschuldung um 7,2 Prozent auf circa 177 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Währenddessen wies Deutschland einen Exportüberschuss von 8,2 Prozent des BIP auf - auch zu Lasten der sogenannten Krisenländer. Schließlich bedingt das Plus für die einen Länder ein Minus auf dem Konto der anderen.
Europa hat aber nicht nur gravierende Probleme in seiner Wirtschaftspolitik. Die derzeitige europäische Geflüchtetenpolitik äußert sich vor allem in der Abschottung des Kontinents. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex erhält ein immer größeres Budget zur Sicherung der Außengrenzen. Trotz schlechter Menschenrechtslage werden der Türkei Zugeständnisse gemacht, wenn sie Geflüchtete beim Überqueren der griechisch-mazedonischen Grenze hindert. Staaten, in denen etwa Homosexualität noch unter Strafe steht, werden als sichere Herkunftsländer eingestuft.
Die politische Linke ist sich zwar einig, dass „Europa auf ganzer Linie versagt", wie Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk konterte. Trotzdem scheinen sich Teile der Linkspartei lieber darauf zu konzentrieren, Wähler*innenstimmen für die im kommenden Jahr anstehende Bundestagswahl zu generieren statt ihren Prinzipien treu zu bleiben. So tätigt Bartschs Parteikollegin Wagenknecht regelmäßig Äußerungen, die sich von denen der Rechtspopulist*innen nur mit einem eloquenteren Vokabular unterscheiden und die Grünen, eine sich als links verstehende Partei, enthielten sich vergangenen November mehrheitlich während einer Bundestagsabstimmung bezüglich der Asylrechtsverschärfung. Wenn die politische Linke eine wirkliche Gegenstimme zum neoliberalen und menschenfeindlichen Konsens der etablierten Parteien sein möchte, darf sie sich aber nicht von Erfolgen der Rechtspopulist*innen leiten lassen.