Nicht nur im universitären Rahmen haben wirtschaftliche Interessen von Unternehmen Einfluss auf die Lehre (akduell berichtete). Auch stellen private Anbieter*innen im Internet zunehmend Materialien für den Schulunterricht bereit. Problematisch ist es, wenn die Materialien einseitige Positionen der Herausgeber*innen widerspiegeln - und die Schüler*innen so in eine bestimmte Denkrichtung gedrängt werden. Besonders in den Sozialwissenschaften gilt es, das Kontroversitätsgebot zu achten, weiß Till van Treeck, Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen, um genau solche Einflussnahmen zu verhindern.
Lehrer*innen der Sozialwissenschaften stehen vor einer großen Schwierigkeit, wenn sie aktuelle politische Geschehnisse in den Unterricht einbauen möchten: Gegenwärtige Themenkomplexe finden nur schleppend den Eingang in staatlich geprüfte Schulbücher. Daraus folgte in den vergangenen Jahren ein starker Boom an Online-Schulmaterialien von privaten Anbieter*innen, welche diese Lücke schließen wollen. Van Treeck rät aber zur Vorsicht: „Da ist zu überprüfen, ob die Materialien dem Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses entsprechen." Dieser besagt, dass Lehrer*innen Themen differenziert und aus unterschiedlichen Perspektiven aufbereiten müssen. Doch viele Online-Angebote behandeln Themen mit einem Scheuklappenblick, sodass sie einseitig die Positionder Herausgeber*innen widerspiegeln.
Einseitige Materialien
Genau darin sieht van Treeck das Hauptproblem solcher Online-Angebote: „Grundsätzlich sollte es im sozialwissenschaftlichen Unterricht darum gehen, die großen Kontroversen zu beleuchten, und nicht darum, eine Position privilegiert darzustellen." Einseitige Unterrichtsmaterialien finden sich aber zuhauf: Die „Cives School of Education", die Studierenden und Lehrer*innen der Sozialwissenschaften in regelmäßig erscheinenden Praxistests über Unterrichtsmaterialien informiert, hat verschiedene von Interessensgruppen herausgegebene Unterrichtsmaterialien hinsichtlich des Kontroversitätsgebots untersucht. Beispielsweise erntete eine Reihe des Lehrer*innenportals „Wirtschaft und Schule" scharfe Kritik. Darin werde die Teil-Privatisierung des Rentensystems als alternativlos dargestellt: Sie erscheine als unmittelbare Konsequenz aus der demographischen Entwicklung. Eine ausgewogene Auseinandersetzung mit wirtschaftswissenschaftlichen Kontroversen und verschiedenen rentenpolitischen Reformoptionen - beispielsweise höhere Beiträge von Mehrverdiener*innen - finde nicht statt. Herausgegeben wird das Material von der arbeitgebernahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.
Auch Materialien zur Eurokrise sind nicht immer ausreichend kontrovers. Oft wird der Grund für die Krise einzig und allein in der nationalen Verantwortung der Krisenländer selbst gesehen. So heißt es im Unterrichtsmaterial von „Wirtschaft und Schule" etwa: „In Deutschland fielen die Lohnerhöhungen in den vergangenen Jahren relativ bescheiden aus, Griechen und Spanier konnten sich dagegen über ordentliche Verdienstanstiege freuen." Die scheinbar offensichtliche Konsequenz ist, dass die Löhne in Südeuropa gekürzt werden müssen um deren Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen. Im Gegensatz dazu wird das Argument, dass die Löhne in Nordeuropa - darunter Deutschland mit einem seit der Agenda 2010 stark vergrößerten Niedriglohnsektor - möglicherweise zu niedrig sind, nicht genannt.
In Frankreich und Amerika wird die Diskussion über die Eurokrise anders geführt. Dort kritisieren renommierte Ökonom*innen wie Paul Krugman oder Thomas Piketty vor allem die Rolle Deutschlands in der Krise, besonders hinsichtlich der Austeritätspolitik und den Exportüberschüssen. Das französische Bildungsministerium gibt einen Leitfaden für Lehrer*innen heraus, der vor allem die stagnierenden Löhne in Deutschland als einen Grund für die Krise angibt. „In der französischen Debatte wird die Meinung vertreten, dass das deutsche Modell der Lohnzurückhaltung nicht verallgemeinerbar ist, weil nicht gleichzeitig alle durch Lohnzurückhaltung einen Wettbewerbsvorteil erzielen können", erklärt van Treeck in Bezug auf den französischen Leitfaden. Zwar sei auch hier zu hinterfragen, ob damit Kontroversität geboten sei. Interessant sei aber auch, dass Deutungsmuster der Krise, die im Ausland dominant seien, in vielen deutschen Unterrichtsmaterialien zur Eurokrise kaum erörtert würden und damit eine einseitige Sicht vermittelt werde.
Problematisch kann es auch sein, wenn beispielsweise Versicherungs- und Bankangestellte in Schulen über Wirtschaftsthemen referieren. „Natürlich dürfen solche Angebote den Unterricht nicht ersetzen", meint van Treeck. Interessant und gewinnbringend könne es aber sein, wenn der*die Lehrer*in den Lobbyist*innen Paroli bieten und deren Positionen in einen größeren Kontext stellen kann - dann sei auch kein Kontroversitätsverlust zu befürchten. Immerhin wird oft gefordert, Schüler*innen mehr ökonomische Bildung zu lehren. In der Diskussion sieht van Treeck jedoch die Gefahr einer zu engen Interpretation des Begriffs ökonomischer Bildung. „In der Schule kann es nicht in erster Linie um die Frage gehen, wie sich Einzelne als nutzenmaximierende Individuen auf dem Markt behaupten können", warnt der Professor für Sozialökonomie. Vielmehr sei ein wichtiges Ziel des sozialwissenschaftlichen Unterrichts, Schüler*innen Hilfe zur Meinungsbildung über große wirtschaftspolitische Fragen wie die Debatte um die Eurokrise, das Für und Wider der Staatsverschuldung, alternative Rentensysteme oder die Grenzen des Wirtschaftswachstums zu befähigen.
Mangelnde Pluralität in der ökonomischen Lehre
Das Thema Pluralismus in den Wirtschaftswissenschaften ist derzeit in aller Munde: Bundesweit beklagen sich Studierende der Volkswirtschaftslehre über mangelnde Pluralität in ihrem Studium und haben das „Netzwerk Plurale Ökonomik" gegründet. Viele volkswirtschaftliche Lehrwerke würden den Anspruch erheben, auf neutrale Weise die Wirklichkeit zu beschreiben, ohne kenntlich zu machen, dass es sich um theoretische Interpretationen handele, die mit anderen Lösungsvorschlägen verbunden seien, erläutert van Treeck. In der politischen Bildung käme eine solche Vorgehensweise einer Missachtung des im Beutelsbacher Konsens festgelegten Kontroversitätsgebot gleich. Genau dieses Gespür für Kontroversität möchte van Treeck aber seinen Studierenden, die bald als Lehrende vor den Klassen stehen werden, näher bringen. Nur so könne verhindert werden Probleme lediglich aus einem Blickwinkel zu betrachten.