Am Sonntag wird in der Ukraine ein neues Parlament gewählt. Der Botschafter in Berlin erklärt, was sein Land danach erwartet und warum es sich nicht mehr allein auf Deutschland und die Europäer verlassen möchte, wenn es um den Schutz vor Russland geht.
Von Philipp Fritz und Richard Herzinger
Andrij Melnyk: Es ist das erste Mal, seit die Ukraine vor 28 Jahren unabhängig wurde, dass eine Partei mit einem derart hohen Stimmenanteil und womöglich sogar der absoluten Mehrheit im Parlament rechnen kann. Für die Stabilität des Landes kann das sehr förderlich sein. Selenskis Amtsvorgänger Petro Poroschenko verfügte nur über eine dünne Mehrheit. Wichtige Reformen, die auch von der Gesellschaft verlangt wurden, kamen daher im Parlament nicht immer durch.
Ziehen jetzt Legislative und Exekutive synchron an einem Strang, gibt es keine Ausrede mehr, und man kann sich nicht mehr gegenseitig die Schuld zuschieben, wenn schmerzhafte, aber notwendige Reformen nicht umgesetzt werden. Sehr wichtig ist dabei, dass wir weiter eine äußerst lebendige Zivilgesellschaft haben, die mit Argusaugen eine effiziente Kontrollfunktion ausüben wird.
WELT: Vor einigen Tagen, also kurz vor dem Wahltermin, hat Selenski erstmals mit Wladmir Putin telefoniert. Worum ging es in dem Gespräch?
Melnyk: Ich glaube, Präsident Selenski wollte ein Zeichen in Richtung Berlin und Paris setzen, sich viel stärker für eine Lösung im Donbass, wo weiterhin Krieg herrscht, zu engagieren. Putin tut dies unterdessen auf seine Art, indem er russische Pässe in den besetzten Gebieten vergibt. Das darf man nicht stillschweigend hinnehmen.
Bei dem Telefonat ging es im Übrigen vor allem um die Freilassung der 24 ukrainischen Matrosen. Moskau ist durch das Urteil des Internationalen Seegerichtshofs in Hamburg dazu verpflichtet, sie freizulassen. Selenskis Telefonat sollte sowohl Putin als auch unseren westlichen Partnern demonstrieren, dass die Ukrainer ungeduldig werden und auf stärkere Unterstützung hoffen.
WELT: Könnte es nicht sein, dass die Deutschen und Franzosen sogar froh darüber wären, würde sich Selenski von sich aus mit Putin über den Donbass einigen? Das würde sie von ihrer Verantwortung entlasten und es ihnen erleichtern, ihre Beziehungen zu Russland zu normalisieren.
Melnyk: Es war doch eine Sternstunde der Diplomatie, als Deutschland und Frankreich erkannten, dass Kiew und Moskau allein nicht in der Lage sind, für die russische militärische Intervention eine Lösung zu finden. Sicher gibt es bei Ihnen Leute, die froh wären, diese Last loszuwerden. Den verantwortlichen Politikern in Deutschland und Frankreich scheint jedoch klar zu sein, dass ein Rückzug aus der Verpflichtung gegenüber der Ukraine eine Bankrotterklärung der Politik der vergangenen Jahre wäre. Ich bin deshalb überzeugt, dass die Deutschen ihren Kurs halten werden.
WELT: Aus Europa kommen allerdings gegenteilige Signale: Kürzlich wurde Russland sein Stimmrecht in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zurückgegeben.
Melnyk: Diese Entscheidung war verheerend. Leider haben auch acht deutsche Abgeordnete dafür gestimmt, besonders hervorgetan hat sich der Leiter der Delegation, Andreas Nick von der CDU. Er und seine Kollegen tragen dadurch Mitverantwortung für die Beschädigung, Demütigung und Selbstentmachtung einer wichtigen europäischen Institution. Torpediert wurde damit auch die Bemühung der Bundeskanzlerin, Standfestigkeit gegenüber Putin zu zeigen.
WELT: Die Bundesregierung hat diese Entscheidung doch selbst gestützt, wenn nicht gar an vorderster Stelle mit eingefädelt.
Melnyk: Wer auch immer in Berlin, auch im Auswärtigen Amt, dafür verantwortlich ist - die Ukrainer glauben, das war ein fataler Fehler. Nicht zuletzt wurde dadurch in Kiew das Vertrauen in Deutschland erschüttert. Es gibt bei uns viele Leute, die behaupten, dass Deutschland irgendwann zur „Realpolitik" zurückkehren und sich auf Kosten der Belange der Ukraine über unsere Köpfe hinweg mit Russland einigen werde.
WELT: War die Entscheidung des Europarats ein Vorspiel für die baldige Lockerungen der EU-Sanktionen? Der Druck in diese Richtung nimmt in Deutschland zu. So haben sich jüngst die ostdeutschen Ministerpräsidenten dafür ausgesprochen.
Melnyk: Das ist sehr beunruhigend. Für mich war aber wichtig, dass die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer dem sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer in diesem Punkt öffentlich deutlich widersprochen hat. In der EU wie in Deutschland muss man verstehen, was es bedeuten würde, die Sanktionen aufzuheben: dass eine kriegerische Aggression mitten in Europa geduldet und ausgeweitet wird.
WELT: Der ukrainische Präsident ist nicht nur mit einem aggressiven Russland konfrontiert. Er muss auch zu Hause Probleme lösen. Welche neuen Impulse, speziell im Antikorruptionskampf, sind von ihm zu erwarten?
Melnyk: Der neue Präsident Selenski will Errungenschaften seines Vorgängers wie die Antikorruptionsbehörde, die elektronische Erfassung der Einkommen von Staatsbediensteten und das unabhängige Antikorruptionsgericht beibehalten. Zusätzlich wird er mit Nachdruck die Reform mächtiger Strukturen wie die Staatsanwaltschaft und den Sicherheitsdienst SBU angehen, die unter Poroschenko kaum vorangekommen ist.
Selenski will die illegale Bereicherung von politischen Amtsträgern und Beamten strafrechtlich verfolgen lassen. Zentral ist auch die Justizreform, die auf halbem Weg stecken geblieben ist. Außerdem will das neue Staatsoberhaupt die gesamte Verwaltung online umstellen, damit die Bürger keinen direkten Kontakt zu Beamten haben und damit keine Korruptionsanreize entstehen.
WELT: Selenski unterhält aber offenbar enge Beziehungen zu dem Oligarchen Kolomoiski - keine optimale Voraussetzung für einen konsequenten Antikorruptionskampf.
Melnyk: Eins ist klar: Selenskis überwältigende Wahl zum Präsidenten war ein Votum gegen das System der Oligarchen. Er darf und wird daher nicht zulassen, dass weder Kolomoiski noch andere Magnaten ihren Schatten auf ihn werfen. Das würde seiner Präsidentschaft schaden. Es war wichtig, dass Selenski sich in manchen Punkten öffentlich von Kolomoiski distanziert hat, etwa wegen der Anfechtung der Nationalisierung der größten Bank des Landes, der Privatbank.
WELT: Mit Blick auf den Krieg in der Ostukraine und die Annexion der Krim hat Selenski Wladimir Putin direkte Gespräche vorgeschlagen, in die auch die USA und Großbritannien einbezogen werden sollten. Warum reichen Selenski die Gespräche im Normandie-Format, das Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine umfasst, nicht aus?
Melnyk: Ich muss klarstellen: Präsident Selenski hat bekräftigt, dass das Normandie-Format bestehen bleiben soll. Mit seinem Vorstoß wollte er aber das Problem der annektierten Krim in den Vordergrund rücken, das in den Normandie-Gesprächen leider nicht vorkommt. Auch die deutsche Bundesregierung hält zwar an der Verurteilung der Krim-Annexion fest, wofür wir Ukrainer sehr dankbar sind, allerdings wurde bis heute kein internationales Verhandlungsinstrument geschaffen, mit dessen Hilfe man mit Moskau über das zentrale Thema Krim und die Rückkehr der ukrainischen Halbinsel sprechen könnte.
Daher Selenskis Idee, die USA und Großbritannien einzubinden. Beide sind Atommächte und haben im Budapester Memorandum von 1994 die Unverletzlichkeit des ukrainischen Territoriums garantiert. Ich halte das für einen klugen Vorschlag. Wir hoffen, dass auch die Bundesregierung bei der Krim-Frage den akuten Handlungsbedarf endlich erkennt.
WELT: Das Minsker Abkommen sieht vor, dass alle schweren Waffen aus dem Donbass abgezogen und die Ukraine die volle Kontrolle über ihre Grenze wiederlangt. Putin ist dazu nicht bereit, wäre das doch gleichbedeutend mit der Aufgabe seines Anspruchs auf die Ostukraine. Was sollte ihn jetzt zu einer anderen Haltung bewegen?
Melnyk: Das Problem des Minsker Abkommens war, dass es nur eine einzige Frist gab: Bis Ende 2015 hätte es vollständig umgesetzt werden sollen. Das ist leider nicht geschehen, weil Putin keinen politischen Willen dazu hatte. Daher sollten wir vielleicht neue konkrete Fristen setzen für jeweils einzelne Schritte auf dem Weg zur vollen Umsetzung des Abkommens. Dies sollte man mit der Androhung von Sanktionen verbinden.
WELT: Gibt es aber nicht doch die Gefahr, dass Selenski auf eigene Faust am Minsker Abkommen vorbei einen Kompromiss mit Putin auszuhandeln versucht?
Melnyk: Auch Poroschenko wurde nach seiner Wahl 2014 verdächtigt, er könne sich auf einen Deal mit Putin einlassen. Er hat damals aber begriffen: Wenn die Ukraine allein mit den Russen verhandelt, ist überhaupt kein Verlass darauf, dass der Kreml-Herr seine Versprechen einhält. Präsident Selenski hat das erkannt. Es ist daher enorm wichtig, dass Deutsche und Franzosen als Vermittler mit im Boot sind, dazu eventuell auch Amerikaner, Briten oder Polen, die dabei alle ihren politischen Druck auf Moskau beibehalten und wenn notwendig verstärken.
WELT: Wenn die Unterstützung Europas für die Ukraine nachlassen sollte, wächst dann für sie die Bedeutung der USA? Washington hat seine Unterstützung für die Ukraine in den vergangenen Jahren verstärkt, doch Donald Trump scheint unberechenbar. Beim G-20-Gipfel hat er sich kürzlich öffentlich mit Putin verbrüdert.
Melnyk: Noch in der Nacht der Wahl Selenskis hat ihm Trump persönlich telefonisch gratuliert. Selenskis Team konnte das zuerst gar nicht glauben. Man dachte, da erlaubt sich ein Spaßvogel einen Telefonscherz. Aber es war wirklich Trump. Das war ein deutliches Signal, wie wichtig den USA die Ukraine ist. Für uns ist essenziell, dass der Westen einig bleibt. Dass die USA und die EU an einem Strang gezogen haben, war das Erfolgsrezept dafür, Russlands Aggression gegen die Ukraine einzudämmen.
WELT: Ist die Nato für die Ukraine womöglich das erfolgversprechendere Integrationsinstrument in den Westen als die EU?
Melnyk: Die Mitgliedschaft in EU und Nato stehen bei uns als zentrale Ziele sogar in der Verfassung. Wir haben eine Road-Map, wie wir Nato-Standards umsetzen. Wir sind dabei in vielem weiter als einige Nato-Beitrittskandidaten und sogar einige Mitglieder. Wären wir schon vor fünf Jahren in der Nato gewesen, hätte es die Krim-Annexion und den Krieg im Donbass nie gegeben. Wir wünschen uns, auch die deutsche Bundesregierung würde das endlich offen aussprechen und sich unzweideutig zu einer Beitrittsperspektive für die Ukraine zu EU und Nato bekennen.
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