Interview: Adam Michnik, Jaroslaw Kurski, Bartosz T. Wielinski für Gazeta Wyborcza
Übersetzung: Aus dem Polnischen von Philipp Fritz für WELT
Ob Brexit, Migrationskrise, Populismus oder Donald Trump: Europa stehe vor dramatischen Herausforderungen, sagt EU-Ratspräsident Donald Tusk. Doch für die Zukunft der Union könne das sogar Gutes bedeuten.
WELT: Als Sie das Amt des EU-Ratspräsidenten im Dezember 2014 übernommen haben, warnten Sie, dass die „Geschichte nach Europa zurückkehre". Haben Sie nicht den Eindruck, dass fünf Jahre später diese „Geschichte" Europa voll erwischt hat?
Donald Tusk: Ohne Zweifel ist die Zeit optimistischer Illusionen, wie ich sie nenne, vorbei. Für uns Polen ist das besonders bitter, denn wir haben lange vom EU-Beitritt geträumt. Nach 2004 dachten viele, dass das nun unser „glückliches Ende der Geschichte" sei. Die Zugehörigkeit zum Westen sollte das Ende der Streitigkeiten sein, die uns seit jeher begleiteten.
Seit einigen Jahren aber steht Europa vor dramatischen Herausforderungen. Trotzdem empfinde ich keinen Fatalismus. Die Rückkehr der Geschichte, die Rückkehr harter Politik muss für Europa nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Die Beschleunigung der Ereignisse beunruhigt uns verständlicherweise, aber sie sollte uns nicht lähmen.
WELT: Eine der größten Herausforderungen, vor denen Europa steht, ist der Brexit.
Tusk: Das ist richtig. Dabei ist der Brexit aber eine Geschichte, die bereits mit dem ersten Tag Großbritanniens in der EU ihren Anfang nahm. Die Gefühle, die viele Briten gegenüber der europäischen Integration hegen, sind doch schon lange bekannt. Das Referendum fand einfach zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt statt. Sein Ausgang ist das Ergebnis schlechten politischen Kalküls. Eine echte Debatte über die Folgen des Brexits fand erst nach der Abstimmung statt, nicht etwa davor oder währenddessen. Heute wäre das Ergebnis sicher ein anderes.
WELT: Sie gehören zu den wenigen Politikern in Europa, die glauben, dass man den Brexit noch verhindern kann. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Tusk: Hannah Arendt sagte einmal, dass in der Politik und der Geschichte Dinge nur unumkehrbar seien, wenn sie als solche anerkannt werden. Denn an sich sind sie nicht unumkehrbar. Nach dem britischen Referendum 2016 dachte ich: Wenn wir das jetzt für abgeschlossen halten, dann ist wirklich Schluss.
Die Chance, dass der Brexit doch nicht kommt, liegt nach meinem Dafürhalten bei 20 bis 30 Prozent. Das ist viel. Von Monat zu Monat erkennen wir besser, dass ein Brexit nicht so aussähe, wie diejenigen, die ihn wollten, sich ihn vorgestellt haben.
Ich sehe für mich keinen Grund, zu kapitulieren. Das Referendum von 2016 war nicht das erste über einen Verbleib Großbritanniens in der EU. Das erste fand 1975 statt. 67 Prozent waren damals für einen Verbleib in der EWG. Wenn das Referendum von 2016 die Entscheidung von 1975 ungültig macht, warum sollte dann nicht ein weiteres die Entscheidung von 2016 ungültig machen?
WELT: Ihre Kritiker sagen, dass Sie 2016 David Cameron zu wenig angeboten haben, um die Briten davon zu überzeugen, in der EU zu bleiben.
Tusk: In unseren Verhandlungen sind Cameron und ich gegen eine Wand gelaufen. Die EU drohte, unter extreme Spannung zu geraten. Es ging nicht nur um die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger, sondern um ihre politische Einheit. Wenn wir tatsächlich mit einem einzigen Land einen Exklusivvertrag unterschrieben hätten, der zu der Stimmung in jenem Land passte, aber in Widerspruch zur Funktionsweise der EU stünde, dann wäre das ein Präzedenzfall gewesen.
Der Zerfall der EU hätte begonnen und sich nicht in Jahren, sondern Monaten vollzogen. Wir haben Cameron mehr angeboten, als er erwarten konnte. Er aber sagte, dass der Treibstoff für die Stimmung der Brexit-Befürworter die Migration aus verschiedenen EU-Ländern gewesen sei - auch aus Polen.
WELT: Cameron hat gesagt, dass er die Polen auf der Insel loswerden wolle?
Tusk: Nicht offiziell, aber er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die Einwanderung von Menschen aus Ostmitteleuropa für ihn das größte Problem sei. In den Streitigkeiten ging es darum, inwieweit die Briten die Rechte von Bürgern aus anderen EU-Staaten, die bei ihnen leben, einschränken können. Dabei aber geht es nicht nur konkret um die Rechte einer Gruppe oder Nation, sondern um das Wesen der EU.
WELT: Während der EU-Osterweiterung vor 15 Jahren herrschte überall auf dem Kontinent Enthusiasmus. Heute gewinnen Populisten an Stärke. Matteo Salvini, Chef der italienischen Lega, versucht, eine populistische Internationale aufzubauen, und die AfD in Deutschland fordert, wieder stolz auf die Wehrmacht zu sein. Das ist neu.
Tusk: Nein, das ist nichts Neues. Sie nennen die Populisten von der AfD. Ich erinnere an Jörg Haider. Damals drohte Österreich sogar gewisse Rechte als Mitglied der EU zu verlieren. Das Land wurde von der extremen Rechten regiert.
WELT: Heute regiert sie in Wien wieder mit.
Tusk: Das ist eher eine gemäßigte Zentrum-rechts-Formation. Nehmen Sie Frankreich: 2002 schaffte es Jean-Marie Le Pen, damals Chef des Front National, in den zweiten Wahlgang um die Präsidentschaft, so wie dessen Tochter vor zwei Jahren. Antieuropäische Kräfte gehen durch Höhen und Tiefen, in den Benelux-Ländern wie in Skandinavien. Das ist alles nichts Neues.
WELT: Wie schafft man es, diese Kräfte klein zu halten?
Tusk: Setzen wir auf die Bürger. Die sind in vielen Ländern europafreundlicher als ihre Regierungen. In Polen etwa reagiert die Regierung darauf. Sie verhält sich doppelgesichtig. Ihre letzten Erklärungen waren verblüffend proeuropäisch. Die Zeit wird zeigen, ob das Wahlkampf-Zynismus oder etwas von Dauer ist.
Die Polen sind immer noch so proeuropäisch wie niemand sonst. Auch die Ungarn zählen zu den größten Europaenthusiasten - trotz der Rhetorik Viktor Orbáns. Kritisch hingegen sind zum Beispiel die Dänen. Hier ist also nichts einfach oder neu.
WELT: Üben die Populisten teilweise nicht auch legitime Kritik an der EU?
Tusk: Natürlich müssen wir darüber nachdenken, was es zu verbessern gibt. Wir sind dabei. Nehmen Sie die Außengrenzen der EU. Die Migrationskrise hat an vielen Orten Dämonen geweckt, sie hat schrecklichen politischen Gruppen Luft zum Atmen gegeben, Fremdenhass und Nationalismus geschürt. Diese Krise aber hat die Europäer auch dazu gebracht, über sich als Gemeinschaft nachzudenken, die äußere Grenzen braucht.
WELT: Wie meinen Sie das?
Tusk: Ich habe von Beginn der Krise an hervorgehoben, dass die Migrationspolitik der EU kein Ausdruck unserer Hilflosigkeit sein darf. Es kann keine Migrationspolitik ohne Grenzen geben. Migrationspolitik bedeutet, dass man diejenigen kontrollieren muss, die Grenzen überschreiten, und man entscheidet, wer reinkommt und wer nicht.
Es geht nicht darum, aus Europa eine Festung zu machen, sondern darum, Hilflosigkeit nicht zu einer Tugend zu erklären. Die Politik der „offenen Türen" kann nicht damit begründet werden, dass wir es nicht schaffen, der illegalen Migration Herr zu werden. Als es in Berlin hieß, diese Welle sei zu groß, um sie aufzuhalten, habe ich gesagt: Nein, weil sie so groß ist, muss sie aufgehalten werden.
WELT: Eine schwierige Aufgabe.
Tusk: Durchaus. Wie soll man eine verantwortungsvolle Politik betreiben, die unsere Sicherheit und Grenzen betrifft? Wie soll man ein Gefühl von Sicherheit und Ordnung garantieren, aber nicht die europäischen Kernwerte Freiheit, Toleranz und Offenheit aufs Spiel setzen?
Mit diesen Fragen sind wir konfrontiert. Wenn die liberalen Demokratien es nicht schaffen, dass die EU-Bürger sich sicher fühlen, dann verlieren sie und geben unnötig die Macht an diejenigen ab, die Sicherheit gegen Freiheit ausspielen.
WELT: Sie haben von europäischen Werten gesprochen. Sind diese Werte heute denn noch lebendig?
Tusk: Ich habe die Reaktion der Europäer auf den Brand der Kathedrale von Notre-Dame gesehen. In solchen Momenten fühle ich, dass wir im Innern wissen, warum wir Europäer sind. Deswegen, ohne Probleme kleinzureden, bin ich ein Optimist. Der europäische Geist ist in einem guten Zustand. Darüber mache ich mir keine Sorgen.
WELT: Werte reichen aber nicht aus. Wenn die EU global mit den USA und China konkurrieren möchte, dann muss sie sich wie eine Großmacht verhalten. Das ist im Moment nicht zu erkennen.
Tusk: Die EU ist sicher nicht perfekt. Aber wollen wir uns in unseren Träumen von einer handlungsfähigen EU tatsächlich ein Beispiel an China oder Russland nehmen?
WELT: Man kann dem amerikanischen Modell folgen: einer Föderation, in der jedes Mitglied autonom ist, in der es aber eine starke Zentralgewalt gibt.
Tusk: Das ist ein einmaliges Modell. So etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa wird es nicht geben. Gegen den wachsenden Einfluss Chinas und ein aggressives Russland müssen wir vor allem unsere politische Einheit bewahren. Das heißt aber nicht, dass es eine Strukturrevolution braucht. Im Gegenteil. Die These, die ich oft höre, ist, dass Europa seine Identität stärken und mit Blick auf eine gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik seine Instrumente ausbauen müsse, und zwar weil wir auf Konfrontationskurs mit den USA seien - das löst bei mir kategorischen Widerstand aus.
WELT: Donald Trumps Rhetorik gegenüber der EU ist aggressiv.
Tusk: Im Verhältnis zwischen den USA und Europa hat sich lediglich der amerikanische Präsident geändert. Er hat einen anderen Blick auf die Rolle der EU. Das ist schwierig, ja. Dass sich nun aber die Sicht Washingtons geändert hat, heißt nicht, dass Europa seine Politik ändern muss.
Wir müssen weiterhin die transatlantische Einheit hochhalten. Nicht alle müssen Fans von Donald Trump sein. Aber wir sollten den Westen als kulturpolitisches Phänomen, in dessen Zentrum Freiheit und Menschenrechte stehen, nicht infrage stellen. Die EU kann diese Werte global allein nicht verteidigen.
WELT: Angela Merkel ließ vor einiger Zeit durchblicken, dass sie glaube, dass Europa sich auf die USA nicht mehr verlassen könne.
Tusk: Trotz aller Vorbehalte gegenüber Trump kann niemand die amerikanische Demokratie infrage stellen. Die Politik in einem demokratischen Land ist saisonabhängig, von Wahl zu Wahl. Ja, der aktuelle US-Präsident steht für eine neue Philosophie, aber die USA haben sich nicht insoweit geändert, als dass wir die transatlantische Zusammenarbeit aufgeben sollten.
Ich reagiere allergisch darauf, wenn das angezweifelt wird, egal ob in Washington oder Berlin. Wir sollten nicht eine geopolitische Strategie anfechten, die das Leben für uns alle erträglicher gemacht hat, nur weil wir uns wegen Zöllen auf Autos streiten. Das wäre ein Jahrhundertblödsinn.
Original