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Stichwahl Ukraine: Inmitten aller Verleumdungen unterschätzt Poroschenko die „zweite Front"

Bei den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine mischt Schauspieler und Comedian Selenski die Politik auf. Er gilt als Favorit und erreichte in der ersten Runde gut 30 Prozent der Stimmen und damit mehr als Amtsinhaber Poroschenko mit knapp 18 Prozent.

Am Sonntag ist die Stichwahl zum ukrainischen Präsidenten, der Polit-Neuling Selenski liegt in Umfragen weit vor Amtsinhaber Poroschenko. Obwohl der Fernsehkomiker praktisch kein Programm hat - oder geradedeswegen?

Ein junger Mann, bisher nicht politisch aktiv, wird aus dem Nichts Präsident: Dieses Szenario kennt jeder Ukrainer aus der Fernsehserie „Diener der Nation". Alles deutet darauf hin, dass es sich an diesem Sonntag im echten Leben wiederholen wird. Denn der Komiker Wolodimir Selenski liegt in Umfragen weit vor Amtsinhaber Petro Poroschenko. Und Selenski ist derjenige, der in der Serie den Präsidenten gespielt hat.

Viele Beobachter hatten Poroschenko nach dem ersten Wahlgang am 31. März, bei dem er gerade mal 16 Prozent der Stimmen holte und Zweitplatzierter hinter Selenski mit 30 Prozent wurde, noch zugetraut aufzuholen. Einige glaubten gar, er könne seinen unerfahrenen Gegner überholen, wenn er ihn inhaltlich stellen würde.

Selenski ist nämlich ein unbeschriebenes Blatt und hat in den vergangenen heißen Wochen des Wahlkampfs nur wenige Interviews gegeben. Zwar spricht der 41-Jährige davon, die Ukraine weiter Richtung Westen führen zu wollen, wie auch Poroschenko, und verurteilt die russische Aggression gegen sein Land, die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel Krim und den Krieg im Osten der Ukraine.

Allerdings sagt er dabei nur wenig Konkretes, wie zum Beispiel, dass ein russischsprachiger Fernsehsender aufgebaut werden solle, um Moskaus Desinformationskampagnen entgegenzuwirken.

Selenski ist offenbar bereit, mit Wladimir Putin über einen Waffenstillstand im Donbass zu verhandeln; aus seinem Stab hieß es kürzlich, dass er das Minsk-Format um die USA erweitern wolle. Bisher verhandeln Deutschland, Frankreich, die Ukraine und Russland um einen Frieden in dem Land.

Selenski steht für einen Neuanfang in diesem Prozess - wie auch immer er aussehen mag. Es geht also bei den Präsidentschaftswahlen am Osterwochenende um Krieg und Frieden in Europa, darum, wie die Ukraine sich in Zukunft gegenüber Russland aufstellen wird.

Trotz oder vielleicht wegen der Unsicherheit über das Programm des Serienstars würden einer aktuellen Umfrage zufolge 72 Prozent der Ukrainer Selenski in der Stichwahl ihre Stimme geben, Poroschenko nur 25 Prozent.

Dass das Lager des amtierenden Präsidenten in den vergangenen Wochen hart gegen Selenski ausgeteilt hat, versucht hat, ihn als Amateur und Marionette des Kreml darzustellen, scheint sich eher negativ auf Poroschenko auszuwirken statt umgekehrt.

Ohnehin ist dieser Wahlkampf nicht arm an Verleumdungs- und Schmähkampagnen - auf beiden Seiten. Im Fall Poroschenkos heißt das: Korruption. Die nicht in den Griff bekommen zu haben muss er sich vorwerfen lassen, wie auch Vetternwirtschaft und seine Biografie als Milliardär und Kopf des Schokoladenimperiums Roshen.

Zwar hat er es geschafft, die Wirtschaft des Landes zu stabilisieren, nachdem er 2014 bereits im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt wurde; 2018 verzeichnete die Ukraine ein Wachstum von 3,3 Prozent. Aber das Thema Korruption ist weiter eines, das die Ukrainer umtreibt und deren mangelhafte Bekämpfung dem aktuellen Präsidenten angelastet wird.

Das hat Poroschenko verkannt, als er dachte, sich als Gegenspieler Putins und nicht etwa der anderen Kandidaten inszenieren zu können und diese Wahl so zu einer Schicksalswahl für die Ukraine auszurufen. Sein Motto: Ich oder Russland. Auf seinen Wahlplakaten steht einfach: „Denk nach!" Bei den meisten Ukrainern hat das offenbar nicht verfangen.

Poroschenko unterschätzte die „zweite Front"

Der Bürgermeister von Lwiw (Lemberg) im Westen der Ukraine, Andrej Sadowi, einer der lautesten Poroschenko-Kritiker, hat das entscheidende Wahlkampfthema früh erkannt. In WELT nennt er die Korruption in der Ukraine „unsere zweite Front", neben der im Osten. Laut der Nichtregierungsorganisation Transparency International zählt die Ukraine immer noch zu den korruptesten Ländern der Welt, auf Platz 120 von 180.

Für Selenski reicht es also, sich als Polit-Neuling ohne Programm in Szene zu setzen, der von außen eine alte Machtelite aufmischt. Dabei verfügt er ebenfalls über zweifelhafte Verbindungen. Seine Serie „Diener der Nation" wurde im Sender des Oligarchen Igor Kolomoiski ausgestrahlt.

Selenski gilt vielen als dessen Kandidat. Kolomoiski führt eine Fehde gegen Poroschenko: 2016 wurde eine Großbank verstaatlicht, die Privatbank, die Kolomoiski mitgegründet hatte. Am Donnerstag entschied ein Gericht, dieser Schritt sei illegal gewesen. Kolomoiski, der im Ausland lebt und den Herausforderer Poroschenkos öffentlich unterstützt, kündigte bereits an in die Ukraine zurückzukehren, sollte Selenski gewinnen.

Wie unabhängig der Fernsehkomiker tatsächlich von dem Geschäftsmann ist, wird sich nach der Wahl am Sonntag zeigen. Dass Poroschenko einen so großen Rückstand aufholt, erwartet kaum noch jemand.

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