Auf der Trauerfeier für den Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz hoffen die Gäste auf Versöhnung. Aber der Ton zwischen den verfeindeten politischen Lagern verschärft sich schon wieder. Im Herbst sind Parlamentswahlen.
Als sich nach fast drei Stunden die Trauerfeier in der Danziger Marienkirche dem Ende neigt, tritt Vater Ludwik Wisniewski nach vorne. „Dieser Hass, diese hasserfüllte Sprache, das muss alles endlich aufhören", sagt der Geistliche mit bebender Stimme. Namen nennt er nicht.
Aber viele Anwesende dürften die giftige Rhetorik der nationalkonservativen Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) in den Ohren haben, ihre ständigen Angriffe auf die Opposition - auch auf Danzigs Stadtpräsidenten Pawel Adamowicz, von dem das Land am Samstag hier, in der Marienkirche, nun Abschied nimmt.
Sechs Tage zuvor, am 13. Januar, steht Adamowicz noch auf einer Bühne und bedankt sich bei seinen Danzigern für ihre Spendenbereitschaft für das „Große Orchester der Weihnachtshilfe", für eine bessere ärztliche Behandlung von Säuglingen. Da läuft auf einmal ein 27-jähriger Mann auf ihn zu. Mit einer 15 Zentimeter langen Klinge sticht er ihn vor laufenden Kameras nieder.
Bevor die Sicherheitsleute den Täter zu Boden werfen, hat er noch genug Zeit, sich das Mikro zu nehmen. Er sagt, dass er mehr als fünf Jahre „unschuldig" im Gefängnis gesessen habe und macht dafür die PO (Bürgerplattform) verantwortlich, der Adamowicz angehörte. Damals stellte sie in Warschau die Regierung, heute ist sie die größte Oppositionspartei.
Stefan W. war wegen Bankraubs verurteilt, im Dezember erst wurde er aus der Haft entlassen, er galt als psychisch labil. Danzigs Stadtpräsident Pawel Adamowicz stirbt am nächsten Tag, am 14. Januar, im Krankenhaus. Die Ärzte konnten ihn nicht retten.
Ganz Polen befindet sich seitdem in einer Schockstarre. Die Menschen trauern um den populären Politiker, aber sie sind nicht in Trauer vereint. Das Land diskutiert den Hass in der Gesellschaft, im Internet, zwischen den politischen Lagern und inwieweit dieser nicht vielleicht den Mord an Adamowicz befördert hat.
„Ich hatte Hoffnung, dass uns Polen diese schreckliche Geschichte einander wieder näherbringt", sagt Dominik Werner. Der 30-jährige Filmemacher geht am Abend nach der Trauerfeier mit seiner Freundin Aneta Bursiewicz, 28, und ihrem Hund in der Danziger Altstadt spazieren. Sie nehmen sich Zeit für ein kurzes Gespräch in einem Café.
Die ganze Woche schon spüre er diese sanfte Trauer, sagt Werner, dieses Bedrücktsein, „smutek" auf Polnisch. Es klingt, wie „kleine Trauer", nie wirklich Tränen, aber immer kurz davor. „Nachdem ich die Nachricht von Adamowicz' Tod bekommen habe, wollte ich raus auf die Straße, unter Menschen", sagt Werner.
Die beiden erzählen, wie eine Bar, in der sonst bis in die Morgenstunden getrunken werde, Tee und Decken an Passanten ausgegeben habe. „Ich war einfach gerührt", sagt Bursiewicz. Und dann liefen die Abendnachrichten des staatlichen Fernsehsenders TVP.
Nur einige Stunden nach dem Tod von Stadtpräsident Adamowicz lief ein Beitrag, der den hasserfüllten Ton in der Politik thematisierte - doch stellten die Journalisten nur die Opposition an den Pranger, der Adamowicz selbst ja angehörte.
Es wirkte, als wollte das Fernsehen den Bürgermeister für seinen eigenen Tod verantwortlich machen. „In dem Augenblick habe ich die Hoffnung verloren", sagt Werner. Selbst regierungsnahe Journalisten distanzieren sich nun vom Sender, einige fordern die Absetzung des Programmchefs.
Kurz nach dem Mord wirkte es zunächst, als wollten die Menschen in Polen gemeinsam trauern, aber dann machen sie sich wieder gegenseitig Vorwürfe. So war es auch 2010 nach dem Absturz der polnischen Präsidentenmaschine über Smolensk, bei dem Präsident Lech Kaczynski, dessen Frau und 94 weitere Mitglieder der polnischen Staatselite ums Leben kamen.
Etwa zwei Tage schwieg die Nation andächtig, und dann brach aus, was in Polen „polnisch-polnischer Krieg" genannt wird. Teile der PiS um Lech Kaczynskis Zwillingsbruder Jaroslaw vertraten die Theorie eines Anschlags auf die Maschine, für den sie neben Russland auch die PO-geführte Regierung von Premierminister Donald Tusk verantwortlich machten.
Nach dem Sieg der PiS bei den Parlamentswahlen 2015 wurde die Verschwörung von Smolensk dann quasi-religiös aufgeladen. Parteichef Kaczynski nimmt seither monatlich an Trauergottesdiensten für seinen Bruder teil. Wer nicht der Absturztheorie anhängt, gehört nicht dazu. Sie sind für Kaczynski lediglich „Polen der schlechteren Sorte", wie er einmal sagte. Der politische Gegner ist zum Feind der Nation geworden.
„Für die PiS war Adamowicz ein Feind", sagt Krzysztof Katka. Der Danziger Lokaljournalist hat ihn über seine gesamte politische Karriere immer wieder getroffen. 20 Jahre war Adamowicz Stadtpräsident, nach Warschau wollte er nie wechseln. Er liebte seine Stadt.
„Adamowicz hat als unscheinbarer Politiker angefangen", erzählt Katka. „Aber er hat sich schnell zum ‚Stadtmanager' aufgeschwungen und aus Danzig das gemacht, was es heute ist." Die Stadt ist wirtschaftlich erfolgreich, aber das ist es nicht, was Katka meint. Adamowicz hat, zuletzt vor allem mit seinem Einsatz für Flüchtlinge und Homosexuelle, Danzigs Erbe als freiheitliche, offene und multiethnische Handelsstadt ausgedrückt.
Damit symbolisiert er all das, wofür die PiS nicht steht. TVP Gdansk, der lokale Sender des staatlichen Fernsehens, hat denn auch vor den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr besonders negativ über Adamowicz berichtet. Als unabhängiger Kandidat wurde er schließlich im zweiten Wahlgang im Amt bestätigt. Und wieder die Frage: Inwieweit hatten die medialen Attacken auf Adamowicz Einfluss auf seinen Mörder?
Auf der Straße in Danzig sind am Samstagmorgen wenige Menschen unterwegs. Jene, denen man begegnet, schweigen. Viele tragen rote Herzen auf ihren Jacken: ein Zeichen, dass sie das „Große Orchester der Weihnachtshilfe" unterstützen. Hier und da sind Absperrungen, an jeder Ecke stehen Polizisten oder private Sicherheitsleute.
In die Gitter des Neptunbrunnens, einem der Wahrzeichen der Stadt, haben Bürger Rosen gesteckt, daneben steht ein Bild von Pawel Adamowicz, darunter: „Das ist eine großartige Zeit, um Gutes zu teilen. Ihr seid lieb, Danzig ist die tollste Stadt der Welt." Das waren seine letzten Worte, bevor er seinen Mörder traf. Einige machen Bilder von dem Brunnen mit den Rosen, andere stehen daneben und weinen leise, es sind junge Danziger. Weil Adamowicz so lange im Amt war, 20 Jahre, kannten sie oft gar keinen anderen Stadtpräsidenten.
Einige Meter entfernt werden auf einer Leinwand die Bilder aus der Marienkirche übertragen. Es ist 12 Uhr, 45.000 Menschen sind in die Altstadt gekommen, um Abschied zu nehmen. In die Kirche kommt niemand mehr rein, die ersten Reihen sind besetzt mit Vertretern der Parteien.
Links auf den Altar gerichtet sitzen ehemalige polnische Präsidenten und Premierminister sowie aus dem Ausland angereiste Staatsgäste, wie EU-Ratspräsident Donald Tusk, aus Deutschland sind der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck und eine Delegation von Bundestagsabgeordneten angereist. Auf der anderen Seite Mitglieder des PiS-Lagers, wie Premierminister Mateusz Morawiecki oder Staatspräsident Andrej Duda.
Selbst an diesem Tag schaffen sie es nicht, sich etwa mit Lech Walesa, Friedensnobelpreisträger und ehemaliger Präsident, eine Bank zu teilen. Dieser sitzt in einer Reihe mit Tusk und dem dritten Präsidenten des demokratischen Polen, Aleksander Kwasniewski. Die Solidarnosc-Ikone hält sich mit verbalen Attacken auf die PiS selten zurück.
Walesa bricht während der Messe immer wieder in Tränen aus. Als Adamowicz' Witwe Magdalena und deren Tochter Antonina ans Mikrofon treten, scheint es, als müsste auch Donald Tusk mit den Tränen kämpfen. Er stammt aus Danzig und kannte Adamowicz gut.
„Heute brauchen wir Stille", sagt Magdalena Adamowicz. „Aber Stille heißt nicht Schweigen." Auch sie hält ein Plädoyer gegen den Hass, ohne mit dem Finger auf irgendwen zu zeigen, wie Vater Wisniewski. Nach der Trauerfeier wird das zur bestimmenden Nachricht zumindest in den oppositionellen Medien werden.
Nicht alle aber halten das für gerechtfertigt. Stanislaw Zerko zum Beispiel sagt zu WELT: „Ein Teil der Opposition strebt es offensichtlich an, diesen im Grunde ‚zufälligen Tod' zu missbrauchen, um im September ein Ergebnis zu erzielen, das es ihm erlaubt, nach vier verlorenen Jahren wieder an die Macht zu kommen. Das mag Erfolg versprechend sein, aber moralisch zweifelhaft." Der konservative Historiker Stanislaw Zerko sympathisiert mit der PiS, kritisiert bisweilen jedoch auch die Politik der Partei.
Nach der Trauerfeier sind die Fahnen in Polen weiterhin auf halbmast gesetzt. Wie geht es nun weiter? Kann es nicht sein, dass sich die politische Debatte doch entgiftet? „Nein", sagt Michal Bilewicz, Psychologe an der Universität Warschau zu WELT. „Die Teilung Polens ist heute schon stark. Unsere neuste Forschung zeigt, dass es einen starken Antagonismus gibt. Jeder fünfte Anhänger der PiS redet nie mit Menschen, die anderen politische Einstellungen haben, und fast jeder dritte Anhänger der Opposition redet nie mit einem PiS-Anhänger. Ich glaube nicht, dass der Mord an Adamowicz das ändern wird."
Im Herbst dieses Jahres sind Parlamentswahlen. Für die PiS und die Opposition geht es um alles. Der Hass dürfte bleiben.
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