Von Peter Luley
Was geschah in jener Nacht 2009, in der die 16-jährige Isa von Gems (Henriette Confurius), Tochter einer millionenschweren Brauerei-Dynastie, spurlos von einem Schulfest verschwand? Diese Frage, zehn Jahre unbeantwortet, stellt sich mit neuer Dringlichkeit, als die Vermisste plötzlich wieder auftaucht – und sich an nichts erinnern kann. Aus dem klassischen Filmmotiv Amnesie haben Christian Jeltsch (Buch) und Kai Wessel (Regie) einen packenden Sechsteiler geschaffen, der in viereinhalb Stunden Laufzeit keine Minute langweilt.
Das liegt auch an einem dramaturgischen Kniff: Jede Folge nimmt die entscheidende Partyszene zum Ausgangspunkt – Isa und ihre Mitschüler beim Tanzen, Isa beim Verlassen der Feier, aufblendende Scheinwerfer, ein Paar beim Sex im Auto –, um jeweils leicht die Perspektive zu verändern. Mal fährt die Kamera noch etwas weiter den Gang hinunter, mal nimmt sie eine andere Person in den Blick, mal schaut sie von draußen aufs Geschehen.
So enthüllt sich von Mal zu Mal ein weiterer Aspekt, erschließt sich der Ablauf peu à peu. Was theoretisch wie eine künstliche Verrätselung wirken und nerven könnte, erweist sich hier als ideales Stilmittel – spiegelt sich in dieser Erzählform doch die Suche der Protagonistin nach der eigenen Erinnerung wider, die sich puzzleartig zusammensetzt. Und das Multiperspektivische passt zur Komplexität der Beziehungen in Familie und Dorf. "Die verlorene Tochter", angesiedelt im (fiktiven) nordhessischen Städtchen Lotheim am Edersee, fesselt nicht nur als Krimirätsel vor imposanter Kulisse, sondern auch als vielschichtiges Sittengemälde.
Da ist zum einen Isas traditionsbewusste Familie: Vater Heinrich von Gems (Christian Berkel) plant gerade die üppige 200-Jahr-Feier des Unternehmens, Mutter Sigrid (Claudia Michelsen) freut sich mit Isas Bruder Philip (Rick Okon) über dessen neugeborene Tochter. Und über den Dingen thront Oma Lore (Hildegard Schmahl), eine Matriarchin von sanfter, aber bestimmter Ausstrahlung. Sie alle hatten sich irgendwie mit dem Verlust arrangiert und wirken angesichts der Rückkehr nicht nur freudig erregt. Zumal Isa, nachdem ein DNA-Test letzte Zweifel ausgeräumt hat, auch wieder über ihre Firmenanteile verfügen kann.
Und da ist der ehemalige Kripokommissar Peter Wolff (Götz Schubert), dessen Karriere und Ehe an den gescheiterten Ermittlungen zerbrachen und der nun, gegen den Alkoholismus kämpfend, im Wachschutz auf dem Brauereigelände arbeitet. Wolffs Sohn Robert (Max von der Groeben) schließlich war damals in Isa verliebt, ist inzwischen mit ihrer Freundin Jenny (Nina Gummich) verheiratet und erwartet mit ihr das zweite Kind.
Wollte Isa in jener Nacht vor zehn Jahren der Enge ihrer stets auf Etikette bedachten Familie entfliehen? Hat sie jemand nach einem Verkehrsunfall verschwinden lassen? Aber wer und warum? Bei der Rekonstruktion der Ereignisse ist die Heimkehrerin, die mit Auskünften über ihr Leben in der Zwischenzeit hinterm Berg hält, auf die Hilfe anderer angewiesen – dass sie dabei nicht jedem trauen kann, macht die Angelegenheit noch vertrackter. Zudem erscheint Isa, die ihre innere Unruhe mit starken Schmerzmitteln bekämpft, immer wieder ihr jüngeres Ich und meldet sich mit kritischen, spöttischen oder warnenden Bemerkungen zu Wort ("Niemand hat dich hier vermisst") – ein weiteres Stilmittel, das im Kontext schlüssig wirkt.
Henriette Confurius ("Tannbach", "Die geliebten Schwestern"), 28, gelingt das Kunststück, in beiden Altersstufen glaubhaft zu wirken: als junge Wilde, die beileibe keine Unschuld vom Lande war, genauso wie als entwurzelte Mittzwanzigerin im Kapuzenpulli. Ohnehin liefert das generationenumspannende Schauspielerensemble durchweg grandiose Darstellungsleistungen – unterstützt von einem Drehbuch, das den Figuren Ambivalenz zugesteht und in dem jeder Dialog sitzt. Dazu gehört auch, dass manche Fragen ("Da weitermachen, bevor alles vorbei war – geht nicht, oder?") unbeantwortet stehenbleiben.
"Die verlorene Tochter". Montag/Mittwoch/Donnerstag, 27./29./30.1., 20.15 Uhr, ZDF (jeweils Doppelfolgen); ab Montag, 20.1., 10.00 Uhr, in der Mediathek
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