Nach der gestrigen Oscar Nacht gibt es in diesem wie in jedem Jahr wieder mehr Kritiken und Rezensionen zur Kleidung der Anwesenden, als zu den ausgezeichneten Filmen. Zumindest dabei spielen Frauen seit je her die Hauptrolle. Ob pompös in mitternachtsblauem Armani Privé, zeitlos elegant in weiß von Balmain oder komplett metallic im Partnerlook mit der Oscar Statue, glänzten die Grandes Dames der Branche stärker als die Times Up Anstecker auf den in der Mehrzahl schlicht gehaltenen Jacketts und Tuxedos der Männer.
Der Red Carpet blieb red bei dieser Oscar Verleihung, man wollte den Fokus auf die Filme legen und nicht auf die Ereignisse hinter verschlossenen Hotelzimmer Türen. Die Casting Couch musste draußen bleiben, daher auch kein offizieller Dresscode, wie zuvor bei den Black Globes.
Von Hosenanzug bis 3-Meter-Schleppe oder Hauch-von-Nichts also alles möglich für die Stylistinnen der Frauen. Für den Mann gilt bei einem solchen Anlass trotzdem White Tie. Diese Vorgabe nahm insbesondere Timothée Chalamet sehr ernst, der eine weiße Fliege auf weißem Hemd zum exklusiv von Haider Ackermann designten Berluti Anzug kombinierte, ebenfalls in off-white.
Damit perfektioniert der junge Schauspieler nicht nur seine Rolle in Call me by your Name, sondern auch die des Anzugs als Kleidungsstück. Dieser fungiert bei Abendveranstaltungen als elegant zurückgenommener, makelloser, aber letztendlich doch nur Hintergrund für die aufwendigen Kleider der Begleitung.
Der Anzug ist schlicht nicht als Showstopper konzipiert. Er entstand, beeinflusst durch die französische Arbeiterbewegung, um einerseits der natürlichen Körperform Raum zu geben, diese aber andererseits nach außen zu verhüllen und zu uniformieren, so dass sich das Individuum optisch in ein größeres Kollektiv einfügt. Es gilt wortwörtlich eine Funktion zu bekleiden, hinter deren glatter Oberfläche die Person zurücktritt. Ausdruck von Individualität erlaubt dieses hoch standardisierte Kleidungsstück nur in Farbwahl, Material und Details. Wer darüber hinaus ein Statement setzen möchte, muss offenbar auf Pins zurückgreifen.
Dieses Konzept erscheint veraltet in einer Zeit des Hyperindividualismus, insbesondere da sich die Form des klassischen Anzugs in den letzten 200 Jahren kaum verändert hat. Das entstehende Spannungsfeld ist auch Thema der Ausstellung „Constraints Constructed" im independent Ausstellungswohnzimmer „ East of Elsewhere " in der Büschingstraße.
Dass es möglich ist den Anzug neu zu denken und zu konzipieren, bewies Adam Rippon in seinem Cold Shoulder Smoking von Moschino, den er zu einem Bondage inspirierten Jeremy Scott Ledergeschirr und Feinstrümpfen kombinierte. Der erste offen schwul lebende Olympiateilnehmer des US Teams ist damit nicht nur aufregender als aller 50 Shades of Grey Kitsch, sondern bringt „Time's up!" auch besser zum Ausdruck als jeder Pin.