Polen hat mit einem Gesetz für Aufregung gesorgt, das die Behauptung polnischer Beteiligung an NS-Verbrechen unter Strafe stellt. Wie der Umgang mit dem Gestern besser gelingen kann in einem Land, das Opfer war und Täter kannte, zeigt Michal Jaskulskis Dokumentarfilm.
der Freitag: Ihr Film „Bogdans Reise" berührt ein sensibles Thema - ein Pogrom im zwischen Krakau und Warschau gelegenen Kielce, bei dem 1946 mehr als 40 jüdische Holocaust-Überlebende getötet wurden. Warum ist es in Polen so schwierig, über bestimmte Kapitel der Vergangenheit zu sprechen?
Michal Jaskulski: Das Problem ist, dass wir nie eine Aufklärung hatten über den Holocaust und das, was danach kam. Wie unser Protagonist sagt: „In unserem Diskurs über Polen und Juden findet man keine Anteilnahme, keine Reue, keine Trauer." Es ist leicht, einen Schuldigen für unsere Narben zu finden. Aber wir haben nie gelernt, was der Holocaust mit den Polen gemacht hat - nicht als Nation, sondern als Menschen. Keiner von uns heute kann sagen, wie Religion, soziale Umstände und der Terror uns geprägt hätten. Und deswegen endet die Debatte schnell mit Angriffen und Verteidigungen. Im Prinzip beginnt der Diskurs über die Vergangenheit mit unserer eigenen Haltung.
Warum hat es so lange gedauert, bis sich diese Haltung ändern konnte?
Jahrelang gab es keinen Zugang zu den Akten über das Pogrom. Erst in den achtziger Jahren wurden die Archive für kurze Zeit geöffnet und erste Arbeiten über das Pogrom publiziert. Darüber gesprochen wurde in der Öffentlichkeit nicht. Deswegen zirkulierten vor allem Verschwörungstheorien, denen zufolge das Pogrom eine Provokation der Kommunisten gewesen sei. Und da viele glaubten, dass die Juden Teil des kommunistischen Machtapparats waren, schloss man daraus, sie hätten das Pogrom selbst organisiert. Natürlich wurde keine dieser Theorien je bestätigt, aber am Ende war das Gedenken an das Pogrom davon geprägt und nicht von der Erinnerung an die Opfer. Das wollte unser Protagonist ändern.
Bogdan Bialek, ein Pole, der weder jüdisch ist noch aus Kielce kommt. Und trotzdem bringt er die Erinnerung zurück nach Kielce, indem er Diskussionen organsiert, Denkmäler aufstellt und sich mit den Überlebenden trifft. Warum gerade er?
Wir haben ihm diese Frage über die zehn Jahre hinweg, in denen wir den Film gedreht haben, jedes Jahr gestellt. Es gibt zwar einige Andeutungen im Film: seine Kindheit in Bialystok in Ostpolen, wo er mit Juden und in Armut aufwuchs. Und es gab einige Momente in seinem Leben, wo ihn die Haltung der Polen gegenüber dem Gedenken der Juden schmerzte. Aber es gibt keine eindeutige Antwort.
Michal Jaskulski, Jahrgang 1979, stammt aus Krakau und studierte an der Staatlichen Hochschule für Film und Fernsehen in Lodz. Bogdans Reise feierte im Dezember 2017 seine Premiere in Warschau. In Berlin ist der Film am 2., 3. und 7. März im Kino Babylon Mitte zu sehen
Foto: PresseKurz vor dem Ende des Film sagt er: „Es hat mich auseinandergenommen."
Ja. Er hat sein Leben für etwas hergegeben, das er eigentlich nicht wollte und das von anderen nicht unbedingt wertgeschätzt wird. Bogdan hat nie eine Belohnung erwartet. Aber er bekam auch kaum Unterstützung. Seine schwerste Last ist die Einsamkeit, in der er die Leiden anderer und den Hass zwischen Menschen erfährt. Ich habe ihn erst verstanden, als ich eineinhalb Jahre im Schnittraum mit all den Tränen und all den Schreien verbracht habe. Man wird zu einem Schwamm dieser Emotionen. Und Bogdans Arbeit nimmt praktisch kein Ende.
Kannten Sie Bialek vor dem Film?
Nein. Als wir 2006 das erste Mal nach Kielce kamen, sollte der Film von einen Künstler handeln, der zum 60. Jahrestag ein Denkmal für die Opfer des Pogroms baute. Durch Zufall landeten wir bei der ersten großen öffentlichen Debatte über das Pogrom. Wir waren geschockt, dass das Ereignis auch 60 Jahre danach noch zu solchen Emotionen führt, und entschieden, zurückzukommen. Bogdan war da schon dabei. Nach drei Jahren sagte er in einem der Interviews, dass er eine enorme Empathie gegenüber den Juden verspürt und gleichzeitig eine große Empathie gegenüber den Polen, selbst gegenüber den Tätern. Das klang für uns zuerst absurd: Wie kann man Opfer und Täter im selben Satz erwähnen? Aber in dem Moment verstanden wir, dass dieser Mensch keine typische jüdische oder polnische Sicht hat, sondern die Dinge durch eine menschliche Perspektive sieht.
Was war Ihr erster Eindruck von Kielce und wie hat sich die Stadt innerhalb der Jahre verändert?
Zuerst schien Kielce eine Stadt wie jede andere zu sein. Aber sobald die Menschen erkannten, dass wir über das Pogrom sprechen wollten, redeten sie nicht mehr mit uns. Als wir den Film schließlich in Kielce gezeigt haben, sagten die Bewohner, dass ihnen der Film Kraft gebe. Vorher sahen sie das Pogrom als eine Last und wussten nicht, was sie damit tun sollten. Sich schuldig fühlen? Inzwischen wissen sie, dass sie die Vergangenheit nicht ändern, aber auf der Erinnerung aufbauen können.
Der Film beginnt und endet mit einem Protest von Nationalisten während des 70. Gedenktags, die propagieren, das Pogrom sei von den Kommunisten initiiert worden. Warum dieser Rahmen?
Weil diese aggressive Atmosphäre auf eine Art und Weise die bisherige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und dem Pogrom zusammenfasst. Sie kommt zurück am Ende des Films, weil sie die neue Generation zeigt, die sich gegen das Erinnern sträubt, und weil dort der Film endet.
Warum endet der Film mit dem 70. Jahrestag?
Nach acht Jahren hatten wir es endlich geschafft, finanzielle Förderung zu bekommen, und konnten so das Projekt fertigstellen. Und gleichzeitig passierte im letzten Jahr ein Wunder. Der Enkel eines Täters sprach öffentlich über sein eigenes Leiden und über die Folgen des Pogroms für seine Familie. Wir haben angefangen, als niemand darüber sprechen wollte, und wir enden an einem Punkt, an dem der erste Enkel eines Täters sich öffentlich zu Wort meldet.
Wie wurde der Film in Polen aufgenommen?
Der Film bekam großartige Kritiken. Es gab nur einige wenige Artikel in rechten Medien, die kritisierten, dass der Film das Stereotyp des antisemitischen Polen bediene, weil er zeige, wie Polen Juden töten. Einer der Artikel stammte von einem Journalisten des öffentlich-rechtlichen Senders in Polen, TVP. Wir waren etwas besorgt vor der Premiere im Jüdischen Museum in Warschau. Aber es kamen polnische Juden, ausländische Juden, polnische Katholiken, Atheisten - und alle weinten zusammen. Nach der Vorstellung in New York kam eine Jüdin auf mich zu und fragte nach dem Leiden der Polen während des Kriegs und wie wir damit umgingen. Das ist, wo wir hinkommen sollten: dass Polen und Juden sich für das Leid des anderen interessieren.
Die Haltung der Politik zum Pogrom ist unterschiedlich. Während eines Fernsehinterviews weigerte sich die ehemalige Bildungsministerin Anna Zalewska anzuerkennen, dass Polen für die Morde in Kielce verantwortlich waren. Ist das nicht das Gegenteil von Bialeks Engagement?
Wegen dieses Interviews blieben andere politische Gesten unbemerkt. Der polnische Präsident Andrzej Duda war beispielsweise der erste Präsident, der persönlich zum Gedenken nach Kielce kam. Die ehemalige Premierministerin, Beata Szydlo, schrieb einen Brief, in dem sie Bogdans Engagement lobte und erklärte, dass jegliche Provokation keine Entschuldigung für das sei, was passiert ist. Dieses Fernsehinterview zeigt, dass die gute Arbeit anderer Politiker derselben Partei leicht in den Schatten gestellt werden kann. Ich werde oft gefragt, ob der Film Auswirkungen auf die Politik habe. Die Antwort ist: nein, hat er nicht. Man kann mit diesem Film niemanden angreifen. Deswegen ist er für die Politik nicht relevant. Und ich glaube, dass politische Einmischung in solche Themen noch nie zu positiven Ergebnissen geführt hat.
Gerade erst hat sich die Politik eingemischt. Das polnische Parlament verabschiedete ein Gesetz, das es unter Strafe stellt, Polen die Verantwortung für Verbrechen von Nazi-Deutschland zuzuschreiben. Erschwert das eine offene Debatte?
Ich denke daran, wie viel Schaden die Krise mit Israel wohl bringen wird, die dieses Gesetz verursacht hat. Menschen wie Bogdan haben Jahrzehnte damit verbracht, Juden und Polen zusammenzubringen. Ich befürchte, die aktuelle Situation versetzt uns 15 bis 20 Jahre zurück. Aber sie berührt natürlich auch die Debatte innerhalb Polens. So wie das Gesetz formuliert ist, entscheidet nun ein Richter, was wahr und was nicht wahr ist. Bisher haben das Wissenschaftler getan. Also, was ist jetzt die ultimative Wahrheit: Die Wahrheit, die die meisten Polen nicht kennen oder die Wahrheit, die von der Politik diktiert wird?
Zu Beginn des Films sagt Bogdan Bialek, dass die Vergangenheit erst dann endet, wenn wir mit ihr abschließen, indem wir normal über sie sprechen können. Ist Polen bereit dazu?
Ich bin mir nicht sicher. Solange diese zynische Atmosphäre von Angriffs- und Verteidigungsmechanismen herrscht, wird sich nichts ändern. Es wird erst etwas passieren, wenn wir uns in die Situation begeben, in der Bogdan war, als er die Überlebenden des Pogroms in Israel besucht hat. Dort spricht er mit zwei Frauen, die das Pogrom überlebt haben, und eine der beiden sagt, dass sie sicher sei, Bogdan hätte sie gerettet während des Kriegs, wäre er auf der Welt gewesen. Und Bogdan antwortet: „Ich bin mir da nicht so sicher. Ich habe nicht in dieser Zeit gelebt." Solange wir nicht dahin kommen, wo Bogdan ist, werden wir mit der Vergangenheit nicht abschließen können.