Lockerungsdebattenorgien? Das Jagdschloss am Grunewaldsee wäre genau der richtige Ort dafür. Das Protokoll einer Erkundung.
So weit ist es also schon gekommen, dass ich mich nicht einmal mehr traue, einen See gegen den Uhrzeigersinn zu umrunden. Könnte theoretisch gefährlich sein. Also praktisch bereits verboten. Vielleicht gibt es ja rechtsdrehende Aerosole, die mir von einem Gegenwind angepeitscht bis zum Gaumenzäpfchen schießen würden. Und dann könnte ich bald nicht mehr spazieren gehen. Müsste wieder Abstriche machen.
Mein aktueller Pandemiestatus: verunsichert bis verblödet, ungeimpft und dauerhaft downgelockt.
Die Aussichten: ein Ausflug zum Hundebadestrand, danach ein Jagdschlossgespräch über Kunst, Wildschweine und Gruppensex. Immerhin. Wenn es einen Ort gibt, an dem Lockerungsdebattenorgien stattfinden könnten, dann hier am Grunewaldsee.
Über Berlin hängt auch an diesem Morgen ein Himmel voller Adjektive, die auf den Frühling pfeifen. Es hat geregnet. Es soll wieder regnen. Meine Seeumrundung beginnt mit Kaffee. Alles sollte immer mit Kaffee beginnen. Denn im Kaffee stecken Antioxidantien, und die stehen unter dringendem Verdacht, zerstörerische Zellprozesse zu verzögern oder gleich ganz aufzuhalten. Fanden jedenfalls Epidemiologen heraus, als die noch mehr Zeit hatten für andere Dinge.
„Cappuccino bitte“, sagt die Frau vor mir in der Schlange. Und etwas lauter stimmaufwärts gepresst: „Zum Mitnehmen.“ Als gäbe es tatsächlich eine Alternative. Als würde sie darauf bestehen, immer noch selbst entscheiden zu dürfen, ob sie geht oder bleibt.
Das Restaurant Laconda 12 Apostoli ist im Forsthaus Paulsborn untergebracht, in einem zweistöckigen Bau mit Natursteinsockel, Walmdach, Stil: Neorenaissance. Der Sommergarten mit Seeblick ist natürlich geschlossen, die Tische sind wie ein Tatort mit einem Flatterband abgesperrt. Getränke und Speisen werden aus Holzbuden nur außer Haus verkauft. Die Pizza Judas, das darf man wohl verraten, ist mit Büffelmilchkäse und scharfer Salami belegt und kostet elf Euro.
Am Wochenende müsste man über Wasser gehen können, um die Abstandsregeln einzuhalten. An einem Mittwoch reichen fließende Ausweichmanöver, liegt nicht ein Sandförmchen auf dem Spielplatz. Dahinter lugen riesige Plastikfühler unter Regenplanen hervor, denn „Nitzsche’s Käfer-Bahn“ dreht heute keine Runden. Wenn ich nicht so coronaschlaff wäre, würde ich über den Zaun springen und den falschen Apostroph durchstreichen. Doch dann würde der wiederum wie ein falsch geparktes Gendersternchen aussehen, und Herr Nitzsche würde womöglich ein Problem bekommen mit Menschen, die eine Identitätskrise suchen.
Der Grunewaldsee ist kein Ort zum Streiten. Man ist auf Erholung aus, gemütlich unterwegs auf zwei bis vier Beinen. Naturschutzgebiet trifft Hundeauslaufgebiet auf Endmoränenlandschaft mit hoher Prominentenschwemme aus den angrenzenden Villenvierteln. Hier herrscht keine Not, allenfalls hat man Unannehmlichkeiten, wenn der Pizzaofen noch nicht seine Betriebstemperatur erreicht hat. „Ach, schade“, sagt ein Mann und bittet um Bedenkzeit.
Wie wäre es mit Hypnose?
An Bäumen und Laternenpfählen hängen Vermisstenanzeigen: „Gesucht Bella, Taube, weiß, Vogel, weiblich.“ „Verlust von BMW-Autoschlüssel, bitte melden.“ „Wichtige Brille verloren, Klappetui, sehr dunkle Gläser.“ Alle bieten Finderlohn. Auf einem Abreißzettel prangt die Frage: „Bist du bereit, etwas zu ändern?“ Es geht um therapeutische Hypnose, die helfen soll bei „Ängsten, Blockaden, Selbstwertproblemen, Bindungsstörungen und Entscheidungsschwierigkeiten“. Da ist für jede und jeden was dabei.
„Dann halt Bratwurst“, sagt der Mann. Vor dem Forsthaus am See öffnet sich ein Panorama leinenloser Geselligkeit: Hunde tragen Stöcke im Maul, Männer ärmellose Daunenjacken und Bierflaschen in den Händen, Frauen sofakissengroße Handtaschen zu – nicht verlieren! – Brillen mit halbtransparenten Kunststofffassungen, Kinder den dringenden Wunsch an ihre Eltern heran: „Ich will Eis.“ Bekommen sie auch. Eine Softeisschale mit frischen Erdbeeren und Sahne. Dafür lässt ein Hund auch den Stock fallen. Erdbeeren, egal, wie viele Beine man hat, schmecken nun mal besser als Eiche.
Zur Sicherheit im Uhrzeigersinn also – 2,9 Kilometer, Höhendifferenz 60 Meter – und genug Zeit, um die sonst an Hausfassaden abprallenden Blicke zwischen Bäumen hindurch schweifen zu lassen. Die Gedanken folgen querfeldein. Promenadologen oder auch nur Spaziergangswissenschaftler raten schließlich dazu. Und schlagen vor, Wege als begehbare Perlenketten zu begreifen. Jede Perle eine Zwischenstation. Und dazwischen Leerlauf, Müßiggang, Stillstand oder auch mal eine rauchen.
Und jetzt weiter Richtung Jagdschloss, wohin die Schlossdame geladen hat. Ich bin mir unsicher, ob ich überhaupt unterscheiden kann zwischen dem Älteren und dem Jüngeren Lucas von Cranach. Ich weiß auch noch nicht, ob ich mich trauen werde, nach der Sexparty zu fragen.
Die Waldseewege sind weich und breit, an den Ufern führen umgestürzte Bäume wie zerstörte Zugbrücken ins Nichts. An den Hängen liegen Birken, als hätte ein Riese Mikado gespielt. Wichtig für mein Sicherheitsempfinden: keine Wildschweinspuren. Dafür eine am Zaun angebrachte Nachricht vom „Förster Grabowski“, der über ein im Schilf brütendes und setzendes Schwanenpaar informiert und bittet: „Sorgen Sie dafür, dass es nicht durch Ihre Hunde gestört wird.“ Die Hunde am Grunewaldsee scheinen gut erzogen zu sein, zumindest zeigen sie sich an diesem Tag von ihrer schokoladigsten Seite. Ein weißer Goldendoodle, der aber auch ein Labradoodle sein könnte und auf den irreführenden Namen „Bandit“ hört, schnüffelt sich so grazil durchs Unterholz, dass ich ihm glatt auf Instagram folgen würde. Und dieser weiß und braun gescheckte Münsterländer blickt so gebildet und gleichzeitig gelangweilt übers Wasser, als fragte er sich: Wozu das Meeresbiologiestudium, wenn ich ständig an Binnengewässern abhängen muss?
Am Hundebadestrand, einem erdigen, durchgebuddelten Uferstreifen ohne erkennbare Südseeambitionen, stehen Herrchen und Frauchen herum, versunken in Gespräche oder Smartphones. Ella und Kiri und Lando planschen und schwimmen, Menschen sollten das hier nicht tun. Als der Hund meiner Oma noch lebte, gab es nicht diese geschwungenen Schleudern, mit denen man Bälle sabberfrei ins Wasser werfen konnte.
Wer wie ich keinen apportierenden Begleiter dabei hat, fühlt sich fehl am Platz. Wie nach einer Zugteilung in Hamm. Und ich sitze eindeutig im falschen Zugteil. Das Leben ist voller Zugmetaphern, denke ich, weil die Querfeldeingedanken sich anscheinend verlaufen haben. Ständig ist doch irgendwo ein Zug abgefahren, werden Tickets gelöst, wird man aufs Abstellgleis geschoben, muss Weichen stellen und versteht trotzdem nur Bahnhof, wenn die Notbremse gezogen wird, jetzt sogar auf Bundesebene. In Russland impfen sie Hunde, habe ich gelesen.
Eis mit Lachs oder Leberwurst
Das Jagdschloss Grunewald, die älteste noch erhaltene Schlossanlage Berlins, Baubeginn 1542, kann ich schon sehen und ein paar Hundeslalomminuten später drücke ich die Klingel am Eingangstor. Es öffnet die Schlossdame, die sich offiziell nur Schlossbereichsleiterin nennen darf und Kathrin Külow heißt. Sie hat Kunst studiert, macht Sonderführungen und zeigt erst einmal den Innenhof, der zuletzt als Filmkulisse genutzt wurde, ansonsten auf Lockerungen wartet. Theater, Konzerte, die Ostereiersuche, alles ausgefallen, das Café ist geschlossen. Ein Aufsteller erinnert an bessere Zeiten: „Hundeeis 2,50 Euro“. Geschmacksrichtungen: Lachs, Leberwurst.
Kathrin Külow ist die Geschichtslehrerin, die ich niemals hatte. Sie weiß um die Übermacht ihres Wissens, aber sie lässt mich das allenfalls unterbewusst spüren. Während wir uns dem Hauptgebäude nähern, durch die Holztür treten, über der sich zwei Hirsche ineinander verkeilt haben, und dann die Wendeltreppe hochsteigen, hat sie mir die gesamte Schlossgeschichte erzählt, die Jagdgewohnheiten von Kurfürst Joachim II., König Friedrich I., Kaiser Wilhelm II. umrissen und nebenbei empfohlen, langsam und ruhig rückwärtszulaufen, sollte sich mir doch noch ein Wildschwein in den Weg stellen. „Es ist blöd, wenn ich nur auf meinem Wissen sitze“, sagt sie, „dann hat niemand was davon.“ Ich nicke. Dann traue ich mich.
„Ach, der sogenannte Swingerclub in Grunewald. Ich erzähle das nur, wenn mich jemand danach fragt.“ Und wie oft fragt jemand? „Selten.“
Es war im Winter 1892, als fünfzehn Angehörige des Kaiserhofs auf einem Schlitten in den Grunewald fuhren und sich im Jagdschloss gar nicht so treu und brav und bieder und viktorianisch gaben, wie es sich für diese Zeiten gehörte. Kathrin Külow sagt: „Da passierte alles, was wir uns vorstellen können, und alles, was wir uns nicht vorstellen können.“ Jedenfalls kam auch alles heraus, weil eine Schwester des Kaisers die Sexgesellschaft mit detaillierten Bildern und Bildbeschreibungen erpresste. Sie war ja selbst dabei gewesen. Die Presse berichtete. Der Kaiser war sauer.
„Aber das ist nur ein Aspekt der Schlossgeschichte. Schauen Sie lieber da hin, fällt Ihnen etwas auf?“ Wir stehen vor einem etwa ein mal zwei Meter großen Gemälde, „Das Urteil des Kambyses“, eine biblische Geschichte, die Kurzform: Ein Richter lässt sich bestechen, fliegt auf, der König lässt ihm die Haut abziehen, und weil das Amt erblich ist, muss nun der Sohn Platz nehmen auf dem Richterstuhl, den die väterliche Haut umspannt. Als ich noch überlege, woran man erkennen könnte, welcher Lucas von Cranach hier den Pinsel geführt hat, sagt Kathrin Külow: „Man findet nicht heraus, wer hier gemalt hat. Man kann nicht sagen, oh, das ist der Ältere, das ist der Jüngere. Man kann nur sagen, aha, das ist nicht ganz so gut von der Qualität.“
Cranach der Ältere hat eine Werkstatt geleitet und alle auf seinen Stil verpflichtet, auch den jüngeren Bruder. So entstanden Bilder in Serie. Kein Künstler arbeitete schneller. Keiner wurde schneller reich. Aber es kann eben auch keiner wissen, wer hier die Perspektive verhauen hat.
Denn das ist es, was Kathrin Külow meint: Die Menschen, die um den mit Menschenhaut bezogenen Richterstuhl stehen, müssten eigentlich aus dem Bild rutschen, so steil ist der Boden angelegt. Aber sie rutschen nicht. Als wären sie nicht an die Gesetze der Physik gebunden. Als merkten sie nicht, welche Gefahr ihnen droht. Und in der linken Bildecke, da schläft ein Hund, als ginge ihn das alles nichts an. So würde ich mich auch gerne fühlen.
Vielleicht hilft noch ein Kaffee. Dazu eine Pizza Judas. Notfalls auch Hypnose. „Nitzsche’s Käfer-Bahn“ dreht sich leider immer noch nicht.
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