Die Winterwelt am Potsdamer Platz ist der Frühstarter unter den Berliner Weihnachtsmärkten. Der erste Glühwein ist schnell weg. Und wann kommt Lars Krismes?
Ein Glühwein. Swei Glühwein. Rei Lühwei. Hie Hühei. Flünei. Snlwnl – *?/!:(* ... Ein dampfend heißes Zusammenspiel aus Orangen, Zimt, Nelken, Sternanis, Rohrzucker und Rotwein macht schneller besoffen und kann daher fatale Folgen haben kann, nicht nur für den Sprachgebrauch. Dieses Wissen setzt der Text einfach mal als bekannt voraus. Hat doch jeder schon selbst erlebt, selbst erlitten. Oder wenigstens mal beobachtet.
Acht von zehn Deutschen planen schließlich mindestens einen Weihnachtsmarktbesuch pro Wintersaison. Hat eine Befragung ergeben. Doch das war vor dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz. Seitdem sind es nur noch sieben von zehn. Und dann kam Corona. Folgte auf den Lockdownfrühling ein Sorglossommer, ein Freiheitsdebattenherbst, eine triste Pandemiephase ohne Weihnachtsmärkte. Und heute, ein Jahr später?
Am Freitag um elf Uhr morgens hat am Potsdamer Platz der erste Berliner Weihnachtsmarkt seine Wurstbuden und Süßkramstände geöffnet. Etwa 80 werden in knapp einem Monat folgen. Und der erste Glühwein des Tages? „Ging gleich um fünf nach elf über den Tresen,“ sagt der Glühweinverkäufer, während er Gläser spült, poliert und die Frage nach seinen Umsatzerwartungen mit einer Gegenfrage beantwortet. „Kennst du Rudi Carrell?“ Ja. „Dann lass dich überraschen.“ Vor dem Glühweinstand wird ein Mann von seiner Frau beim Glasansätzen abgelichtet. „Schick das gleich mal an Bernd!“
Streng genommen ist das hier am Potsdamer Platz gar kein offizieller Weihnachtsmarkt, sondern nur eine Winterwelt. Eigenbeschreibung: „Im alpenländischen Flair erleben sie einen Hauch Österreich mit seinen Düften und Farben, seinen Bildern und seiner Musik, seiner Stimmung und seinen Traditionen.“ Spoiler: Wer den traditionellen Flair österreichischer und kurzweiliger Korruption oder Vetternwirtschaft sucht, wird leider enttäuscht. Dafür hat die österreichische Botschaft wie jedes Jahr Tische in der Schmankerl Hüttn reserviert.
Und wenn man noch mal Strenge walten lässt, ist es kalendarisch gerechnet ja noch gar nicht Zeit für eine Winterwelt. Doch da Supermärkte bereits ab September Schokonikoläuse und Lebkuchen verkaufen, warum sollte es dann im Herbst keinen Winter geben? Und wer weiß, wie wir Wintermärkte in Zukunft nennen werden, falls die Sache mit dem Klimawandel so heiß wird wie befürchtet.
Arnold Bergmann sitzt an einer Holzbank in der Salzburger Stiegl Alm. Stroh unterm Dach, Geweihe an den Wänden, rotweißkarierte Tischdecken und Vorhänge, 150.000 Euro hat diese urige Holzhütte gekostet, sie könnte auch in den Alpen stehen. Bergmann, 64, gebürtiger Nürnberger, ein freundlich-zugeneigter Mann, den man mit etwas mehr Bartwuchs den eigenen Kindern als Weihnachtsmann verkaufen könnte, ist der Betreiber der Winterwelt, zum 19. Mal, den Weihnachtsmarkt auf dem Alexanderplatz macht er seit der Wende. Zum Gesprächseinstieg zündet er mit Metapherfeuerwerk: „Wir fangen an, das Laufen wieder zu lernen. Zum Teil war die Festplatte gelöscht. Wir müssen zurück zum Urschleim.“
Corona hat viele und alle unterschiedlich hart getroffen. Die Händler und Schausteller, die landauf, landab über die Märkte und Feste ziehen, sprachen von einem Berufsverbot, als die Infektionsschutzmaßnahmen auch ihre Branche betrafen. Sie demonstrierten in Berlin, 1600 Teilnehmer, 1000 Fahrzeuge standen im Juli 2020 bei der Kundgebung vor dem Brandenburger Tor, Motto: „Das Karussell muss sich weiterdrehen.“
Zwei Monate später legte der Deutsche Schaustellerbund eine „Machbarkeitsstudie zur Durchführung der Weihnachtsmärkte in Zeiten der Corona-Pandemie“ vor, darin stand: „Als wesentlich erachtet werden das relativ stabile Infektionsgeschehen, die von der Bevölkerung mittlerweile gelernten und verinnerlichten Regeln des Hygieneschutzes und die sich bestätigende Annahme, dass das Infektionsrisiko an frischer Luft ganz erheblich geringer ist als in geschlossenen, ggfs. klimatisierten Räumen.“ Es nützte nichts. Lockdownverlängerung. Keine Weihnachtsmärkte, nirgends. Die Winterwelt, der traditioneller Frühstarter am Potsdamer Platz, musste nach drei Tagen schließen.
Bergmann, der damals 70.000 bis 80.000 Euro verlor, schaut in sein Smartphone, wischt, drückt, liest, schaut zufrieden auf das, was ihm „der Reservierungsmanager“ meldet. Seine Hütten werden wieder voll werden. „Ich glaube“, sagt Bergmann, „es wird gut. Und diese Überzeugung habe ich seit vier Wochen.“ Da ging nämlich das Oktoberfest auf dem Alexanderplatz zu Ende, auch sein Event, und Bergmann hatte beobachtet: „Die Leute wollen wieder. Und sie wollen sich nicht mehr aufhalten lassen.“ Nicht mal vom Regen, sie kamen trotzdem.
Es verlaufen ja so einige Spaltlinien durch Deutschland, und in zwei eher unversöhnliche Lager spaltet auch seit Jahren die Frage: Soll man auf einen Weihnachtsmarkt gehen? Will man sich das wirklich wieder antun?
Weihnachtsmärkte sind nicht Orte eines im Lichterkettenschein illuminierten Familienglücks, wo man im Erzgebirge oder eher doch in China Geschnitztes, Geklöppeltes, Gestricktes oder Gegossenes erstehen kann, das übliche 4G. Wo man gebrannte oder schon verbrannte Mandeln essen oder in Riesenpfannen schauen kann, in denen Champignons bis an die Grenze zur Geschmacklosigkeit gekocht werden. Wo sich Menschen Bude an Bude, Wurst an Wurst reihen, mit Senfspritzern auf der Hose oder Glühweinflecken auf der Jacke weiterziehen und sich noch Jahre später darüber freuen, ihren Morgenkaffee aus einer Weihnachtsmarkttasse von 2007 zu trinken.
Weihnachtsmärkte sind auch das Mekka für vorglühende Schulschwänzer, die schon im Kindesalter an die Trinkrituale ihrer Eltern herangeführt werden. Nicht Cannabis, Kinderpunsch ist die wahre Einstiegsdroge. Und Weihnachtsmärkte sind das Wacken der unterfeierten Bürostubenhocker, die gerne zu Wham! schunkeln oder gleich auf Bierbänken tanzen und jedes Jahr – rei Lühwei, hie Hühei? – die gleiche Frage stellen: „Höma, wer ist eigentlich dieser Lars Krismes?“ O du feuchtfröhliche!
Selbst das katholische Onlinemagazin Kirche + Leben ist sich unsicher und fragte mal seine Leserschaft: „Genießen oder fliehen?“ Ein von Bienenwachskerzenschein und Räuchermännchenromantik beseelter Genussmensch sammelte Pro-Argumente: „Ich liebe Weihnachtsmärkte, weil hier viele Menschen gute Laune haben. Man spürt das. Es verbindet uns ein gemeinsames Weihnachtsgefühl, so in die Richtung ,Alles wird gut’, trotz Terror, Angst und Schrecken, ob nun weltweit oder im eigenen, kleinen Alltag. Auch wenn dazu der ein oder andere drei Feuerzangenbowlen braucht, bis er sich entspannt.“
Auf der Contra-Seite, wo Weihnachtsmärkte als periodisch auftretende Plage betrachtet werden, überwogen die Fluchtreflexe: „Schließlich locken immer neue dieser angeblichen besinnlichen Veranstaltungen mit größeren Superlativen: Dem weltweit mächtigsten Tannenbaum, der längsten Glühwein-Theke, dem blinkendsten Adventskranz, der Fressbuden-Meile oder gar den Mallorca-Tanzstuben und Après-Ski-Hütten.“
Auch Bergmanns Winterwelt kommt nicht ohne Superlative aus. Gut reicht nicht, besser ist auch zu wenig. Am besten ist halt immer noch am besten. Man muss den Leuten was bieten, Mehrwerte schaffen. Superlative sind nun mal so etwas wie die Stromschnellen, die den Zeitfluss, in dem unsere trägen Leben baden, einfach mal beschleunigen, aufregender machen. Und am Potsdamer Platz steht eben „Europas größte mobile Rodelbahn“, in zwölf Meter Höhe geht es los, 10.000 Euro kostet der Aufbau. Seit ein paar Jahren rodelt man nicht mehr auf Kunstschnee, zu teuer, nicht klimaneutral, sondern auf Kunstmatten, wie bei den Skispringern im Sommer.
Es gibt etwa 3000 Weihnachtsmärkte in Deutschland, doch erst in den 60er-Jahren wurden sie so konsumfixiert, spaßorientiert, gefühlsheischend, wie wir sie heute kennen. So, wie sie ins Ausland exportiert werden, nach England vor allen, wo in Birmingham der „Frankfurt German Christmas Market“ stattfindet. 2018 besuchten 159,7 Millionen Menschen die deutschen Weihnachtsmärkte. Im Durchschnitt gibt ein Gast pro Besuch rund 18 Euro aus. Geld, das das Überleben der Händler und Schausteller sichert.
Arnold Bergmann verkaufte schon als Teenager Waren auf dem Nürnberger Christkindlmarkt, später hatte er einen Stand in Essen, handelte mit Krippenfiguren und – im Erzgebirge! – geschnitztem Christbaumschmuck. Er wurde Schausteller, kennt jeden Markt in Deutschland, jeden Marktbetreiber, er ist kurzum ein Experte für die alles entscheidende Frage: Was ist nun das Besondere an einem Weihnachtsmarktbesuch?
Bergmann beugt sich ein Stück nach vorne, schürzt die Lippen, als hätte er nur auf diese eine Frage gewartet. „Die Faszination? Kann ich Ihnen sagen“, sagt er. „Meine Philosophie.“ Und dann philosophiert er los über die Weihnachtsmärkte, für ihn sind sie das letzte Stück heile Welt. Das Jahr neigt sich dem Ende zu, man hat es fast hinter sich gebracht, die meisten Rechnungen bezahlt und alle sind hoffentlich gesund und dann, so sieht Bergmann das, lässt man es sich noch mal gutgehen, man lebt Weihnachten entgegen, mit der Familie, das ist die Faszination der Weihnachtsmärkte.
Darauf einen Glühwein. Oder swei. Lars Krismes kommt bestimmt auch schon bald.
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