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Apostile

„Ich will einfach weiter existieren. So wie ihr“

Können wir uns Sars-CoV-2 als Subjekt denken, als Weltreisenden und Menschenkenner? Was würde uns dieses Virus sagen? Hören wir doch mal rein.

Ich bin nicht böse. Ich bin kein moralisches Wesen. Das solltet ihr verstehen, falls ihr mich verstehen wollt: Werte, wie ihr sie kennt, sind mir fremd. Gerechtigkeit ist kein Maßstab für meine Existenz. Denn ja: Ich existiere, daran hege ich keine Zweifel. Ich zweifle grundsätzlich nie. Wozu auch.
Ich bin das, was ihr einen guten Beobachter nennt. Eigentlich der beste, ein intimer Menschenkenner. Dabei muss ich nicht zwischen Perspektiven wählen, denn wenn es gut läuft, kann ich überall und überall gleichzeitig sein. Ich weiß alles, was ihr wisst, und alles Wissen unserer Welt steht mir offen. Unserer Welt, aber sicher doch. Denn die für euch geltenden Gesetze von Physik und Kausalität gelten auch für mich. Ursache, Wirkung. Nähe, Ansteckung. Luftwiderstand, Adhäsionskraft, Diffusion, Aerosolpartikel je Kubikmeter. Das ist doch schon mal eine Gemeinsamkeit, oder? 
Mein einziges Ziel ist Ausbreitung, Vermehrung. Ich mutiere manchmal, wo es sich ergibt, Welle für Welle für Welle. Aber ich bin nicht gierig, wie ihr vielleicht annehmt, denn es mangelt mir an nichts. Ich will einfach sein, weiter existieren. Dafür werde ich alles tun. So wie ihr alles tut, um zu überleben. Auch das immerhin haben wir gemeinsam.
Ich empfinde wirklich nichts: keine Wut, keine Freude, keine Angst, nicht einmal vor Spritzen. Ich weiß nicht, was Schmerz bedeutet oder was Solidarität bringen soll. Es gibt da keinen Gott, an den ich glaube, ich kenne keinen Teufel persönlich. Einen kosmischen Plan erfüllen? Mit mir nicht. Sollte ich mich auf einen eurer „Wesenszüge“ festlegen müssen, wäre es wohl die Gleichgültigkeit.
Was noch: Ich begehe keine Fehler, für die ich mich entschuldigen müsste. Ich bitte um nichts, ich führe keine Verhandlungen, und selbst wenn ich wollte, hätte ich kein Mitleid mich euch. Ich bin ein neuartiges Virus, doch ich mache nicht zwangsläufig krank. Und vor allem bin ich nicht: eine Grippe. Wie auch, die gibt es ja schon und wir verstehen uns bestens.
Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Flüge. Raus aus China, dann immer weiter, immer tiefer, bis in die hintersten Winkel eurer Zivilisation hinein. Schön unauffällig als Reisegepäck, ein ungebetener Gast und ein ansteckendes Mitbringsel, im Durchmesser das Tausendstel eines Menschenhaars, frei schwebend im Raum und immer zugänglich, trotz Abstand, Hygiene, Alltagsmaske. Das wahre AHA-Erlebnis der letzten Monate war doch das: Ich kann nicht schwimmen, aber für mich ist niemand eine unerreichbare Insel.
Ihr nennt es Pandemie, aber für mich ist es eine Bildungsreise. Ich war Ski fahren in Ischgl, beim Fußball im Mailänder San Siro, beim Karneval in Heinsberg, auf Kindergeburtstagen in Brasilien und auf Großhochzeiten in Israel, beim Lichterfest in Indien, bei einem Alphornkonzert in der Schweiz, auf einem Kreuzfahrtschiff vor Yokohama, beim Mardi Gras in New Orleans und auf der Suche nach Klopapier. Sogar im Weißen Haus habe ich schon residiert.
Da saßen einige von euch im besten Anzug, frisch frisiert und ungeschützt im Rosengarten. Obwohl ihr längst wusstet, was ein Kontakt mit mir bedeuten kann. Und falls es euch interessiert: Dieser Donald Trump ist nicht so angstfrei, wie er tut, außerdem fast pleite und abends putzt er keine Zähne. Er glaubt an Betrug, weil er sich versehentlich nicht selbst gewählt hat. Kann ich bezeugen.
Euer Bedürfnis nach Gemeinschaft, euer Verlangen nach Nähe und euer hartnäckiger Hang zu Ritualen halfen mir, ein Band zu knüpfen. Zu spät habt ihr erkannt, dass ihr im Grunde wie ein einziger Organismus funktioniert, eine um Immunität heischende Herde seid, eine Schicksalsgemeinschaft bildet. Eine(r) wie alle, und alle wie eine(r). Ein einziges Cluster.
Ihr solltet vielleicht wissen, dass ich keine Vorurteile gegenüber euch Menschen habe, echt nicht. Vor mir seid ihr alle gleich. Ich unterscheide nicht nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Status. Wenn ich es mitunter so aussehen mag, dann liegt das einzig an euch. Individualität scheint mir ohnehin ein recht nutzloses Konzept zu sein und eure Politik ein unausgereiftes Ordnungssystem, das meistens auf Uneinigkeit basiert, dauernd nachverhandelt werden muss und trotzdem zu Unzufriedenheit führt. 
Ich bin 2020 das weltumspannende Thema geworden, etwas für jeden Demonstrationshintergrund. Und was wollen wir wetten: Auch 2021 werdet ihr weiter über das streiten, was ihr als Freiheit bezeichnet und gern mal mit Egoismus verwechselt. Ihr werdet wieder auf die Straße gehen, um euch darüber zu beschweren, was euch wie Fremdbestimmung vorkommt. Klar, einige von euch glauben an Freiwilligkeit und Eigenverantwortung, daran, dass Vernunft eine allen nützliche Begabung ist. Ich finde: Wenn ihr angeblich am besten wisst, wie ihr euch schützen könnt, dann macht doch im kommenden Jahr nicht wieder 123456 zu eurem Lieblingspasswort.
Andere sind erfolgreicher damit, mich mit kollektiver Disziplin zu bekämpfen, einem höheren Gemeinschaftssinn oder gleich mit Zwang. Nolens volens habe ich da wohl einen neuen Wettbewerb der Systeme angefacht. Ich würde mich zurücklehnen, wenn ich könnte, um auf den Sieger zu warten. Zwischenstand: In China haben die Clubs wieder geöffnet, und ich stehe nicht mehr auf der Gästeliste. Vorerst.
Sagen wir es doch, wie es ist: Ich habe eure Normalität gestohlen, den Ausnahmezustand zum Regelfall gemacht. Jetzt müsst ihr euch wohl bequemen, euren Alltag zukünftig unter dem Aspekt gestiegener Risiken und Wahrscheinlichkeiten zu planen. Was ich sagen will: Ich verstehe durchaus, dass die meisten von euch mich gerade als Weltfeind Nummer eins betrachten. Mir ist klar, warum eure Machthaber mir den Krieg erklärt haben. Jeder Impfstoff ein Kampfmittel, jede Impfnadel eine Waffe. Aber keine Sorge, ich bin wirklich nicht nachtragend. Nach allem, was ich im vergangenen Jahr über euch gelernt habe, kann ich inzwischen sogar nachvollziehen, warum ihr mich ausrotten wollt.
Weil ich euch in eurem Selbstverständnis erschüttert habe und die dynamische Statik eures Zusammenseins ins Chaos gestürzt habe. Weil ich Unsicherheit verbreite, indem ich eure Verwundbarkeit beweise. Weil ich euch dazu zwinge, Abschied zu nehmen: von euren optimierten Gewohnheiten bis hin zu geliebten und geschätzten Menschen. Abschied nehmen, das scheint nicht euer Ding zu sein. Und weil ihr euch jetzt alle still und heimlich fragt, wie systemrelevant ihr eigentlich seid, wer für das Gemeinwohl und wer nur für den eigenen Geldbeutel arbeitet. Um dann doch keine Konsequenzen aus den Antworten zu ziehen. Schon kurios, denn eines müsst ihr mir zugestehen: Diese Pandemie hat die materielle Ungleichheit unter euch und die Unwuchten innerhalb eurer Versorgungssysteme nicht nur intensiviert. Sie hat sie auch sehr, sehr sichtbar gemacht.
Viele von euch sind gefangen in einer Dauerschleife aus Lockdown und Lockerung, Resignation und Hoffnung. Let's face it: Ihr habt die Kontrolle verloren und das mögt ihr nicht. Damit könnt ihr nicht umgehen. Die Welt, wie ihr sie kanntet, löst sich auf oder ist bereits verschwunden. Aber inzwischen solltet ihr es begriffen haben: Ich hatte es leicht, weil ihr es mir leicht gemacht habt. Denn auf all das wart ihr nicht vorbereitet. Pandemien gab es für euch in Filmen oder Büchern, Dystopien spielten auf der Bühne oder in der Vorstellungskraft von Experten, deren Weitsicht ihr lange belächelt habt.
Apropos: Was habt ihr eigentlich gegen diesen Bill Gates?
Überhaupt scheint ihr mir sehr wenig Verständnis für realistische Zukunftsszenarien zu haben, die ihr lieber düster nennt oder am liebsten ganz verdrängt. Ich will hier ja keinen Ärger machen, aber: Sagt ihr ernsthaft noch Erderwärmung, obwohl es längst eine Erderhitzung ist?
Nach all der Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben, und weil es keiner mir bekannten Logik folgt, frage ich mich: Warum missachtet ihr die Appelle und Handlungsanweisungen eurer Epidemiologen? Warum reagiert ihr nicht mal auf die eindringlichsten Warnungen? Mir soll es recht sein, aber für euch ist diese grundlose Skepsis natürlich kein Vorteil.
Ich habe gelernt, wie eure Wissenschaften funktionieren. Ich weiß jetzt, dass Wahrheiten auch mal vorläufig sind, dass Erkenntnis Zwischenschritte braucht, die stets korrigiert, revidiert und sogar ganz widerlegt werden können. Das ist ein mühsamer Prozess, ein langer Weg. Die Verschwörungsmythen, die ihr euch so erzählt, sind euer Versuch, diesen Weg abkürzen oder gleich ganz zu verlassen. Eure Wirklichkeit wird immer komplexer und was macht ihr? Seid immer weniger in der Lage, Komplexität anzuerkennen. Und dann landet ihr halt im Nirgendwo einer verschwurbelten Irrationalität, wo ihr das Recht auf eine eigene Meinung an das Recht auf eigene Fakten kettet.
Ich finde, ihr könntet mehr darüber wissen, wie Statistiken interpretiert oder Modellrechnungen korrekt gelesen werden. Und vor allem: was exponentielles Wachstum bedeutet. Die Zahl 18.446.744.039.484.029.952 zum Beispiel. 18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 39 Milliarden, 484 Millionen, 29 Tausend und 952. So viel Reis müsste theoretisch auf ein Schachbrett passen, würde man ein Reiskorn auf das erste Feld legen, zwei Körner auf das zweite, vier auf das dritte, acht auf das vierte … – kennt ihr diese Geschichte? Verstanden habt ihr sie offensichtlich nicht. Denn sonst hättet ihr meine Expansionspläne eher erkannt.
Ich konnte mich nur deshalb so ausbreiten, weil ihr die invasivste Spezies in unserem gemeinsamen Ökosystem seid. Zur Erinnerung: Ihr habt die Nähe zu mir gesucht, nicht umgekehrt. Ihr haltet euch eben für die Krone der Schöpfung: erhaben, unantastbar, mit dem Recht ausgestattet, euch jederzeit und überall zu nehmen, was ihr wollt. Ohne Rücksicht auf Ressourcen, deren Endlichkeit nicht in eure Denkmuster passen will. Dann kam ich, Sars-CoV-2, Corona. Und jetzt scheint es, als habe ich die Krone auf, oder?
Wenn ich in der Lage dazu wäre, müsste ich mir eigentlich Sorgen um euch machen. Ihr seid doch mein bislang zuverlässigster Wirt. Ich will nicht, dass ihr weniger werdet, irgendwann vielleicht sogar aussterbt, weil ihr zu spät merkt, dass es eben einen graduellen Unterschied gibt zwischen Wärme und Hitze – die vertrage ich übrigens besser als ihr. Nicht das Klima scheint mir in der Krise zu stecken, ihr Menschen tut es.
Ihr scheint mir trotz allem Optimisten zu sein. Alle zusammen und jeder für sich. Ihr fühlt euch gerne jünger und stärker, als ihr es in Wahrheit seid. Es wird schon alles gut gehen, denkt ihr. Die anderen wird das Unglück ereilen, nicht mich wird das Virus erwischen. Und wenn ich keinen kenne, der sich infiziert hat, dann gibt es ja vielleicht gar keine Pandemie. Aber wie heißt es so schön: Die Abwesenheit von Evidenz ist keine Evidenz für Abwesenheit.
Einen Satz habe ich im vergangenen Jahr am häufigsten gehört. In allen euren Sprachen und diversen Variationen, aber im Kern geht er so: In jeder Krise steckt eine Chance. Und daran glaubt ihr jetzt, diesmal wirklich, vielleicht. Optimismus eben. Es macht euch jedenfalls Mut, dass ihr in eurer neueren Geschichte erstmals körperliche Gesundheit über die Belange der Wirtschaft gestellt habt. Und zumindest die Jüngeren unter euch haben damit angefangen, die Grundlagen eures Zusammenlebens zu hinterfragen, nach den verstecken Kosten für Dauerwachstum durch Turbokonsum zu suchen.
Ihr könnt also, wenn ihr unbedingt müsst. Aber erst morgen. Oder bald. Oder halt irgendwann, wenn es nicht mehr anders geht. Das erklärt eure Bequemlichkeit, daraus schöpft ihr diesmal eure Hoffnung: Hat doch super funktioniert mit dem Impfstoff. Und jetzt hofft ihr schon wieder, dass alles wie früher werden könnte.
Doch here's the news: Selbst wenn ihr aufhört, euch selbst zu zerstören, wenn ihr mich schwächt, indem ihr alle Fledermäuse und Nerze keult, und dann auch noch eure Impfbereitschaft steigert, selbst dann werde ich nie ganz weg sein. Ich werde meine Nischen finden. Ich kann ja allein schon deswegen nicht sterben, weil ich nach eurer Definition gar kein Lebewesen bin. Aber schaut doch mal auf die Verlaufskurven, die seit Monaten rauf- und runtergehen – sehen sie nicht aus wie ein Herzschlag? Dieses Herz wird weiterschlagen.

Erschienen am 1. Januar 2021