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Nahost: Die kalkulierte Eskalation

Das Szenario ist bekannt: Raketen fliegen auf Israel, als Reaktion folgen Luftangriffe auf den Gazastreifen. Doch wer hat diese Spirale der Gewalt in Gang gesetzt? Und wer profitiert möglicherweise davon?

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Der Minister für strategische Aufklärung will keinen Zweifel an der Recht- und Verhältnismäßigkeit des israelischen Vorgehens zulassen. Fast 12.000 Raketen seien seit dem Abzug im Jahr 2005 aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert worden, betont Juval Steinitz gegenüber CNN. Israel sei ein demokratischer und zivilisierter Staat, der jede Form des Terrorismus verurteile. Dies gelte sowohl für die Morde an israelischen Schülern als auch für den Mord von jüdischen Extremisten an einem palästinensischen Jugendlichen.

Die Bevölkerung stehe hinter dem derzeitigen Vorgehen der Regierung, sagt der linksliberale Kolumnist Carlo Strenger. Es sei "klar, dass es keine Regierung hinnehmen wird, wenn täglich Hunderte Raketen auf ihr Land abgeschossen werden". Das Recht der Israelis auf Selbstverteidigung betonen auch viele internationale Politiker. Allerdings, so wird stets betont, sei man in Sorge um Zivilisten und warne daher vor einer Konfrontation, die völlig aus der Kontrolle geraten könne, wie es Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier formuliert.

Regierungskrise in Israel

Die Frage, wie man mit der Hamas umgehen soll, ist Dauerthema in Israel - und hat jüngst zu einem Streit in der Regierungskoalition in Jerusalem geführt. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte nämlich versucht, eine Militäroperation gegen die Hamas zu vermeiden. Er war deshalb aus dem rechten Lager seiner Regierung unter Beschuss geraten. Er gehe zu zögerlich vor, warfen ihm Minister wie Naftali Bennett von der Siedlerpartei und Außenminister Avigdor Lieberman vor, die beide um den Platz rechts von Netanjahus Likud-Partei konkurrieren. Angesichts der Regierungskrise wird in Israel über einen Bruch der Koalition spekuliert. Besonders Lieberman versuche sich nun im Hinblick auf mögliche Neuwahlen zu positionieren, erklärt Kolumnist Strenger. Einerseits drücke sich Liebermann zwar "extrem und brutal aus", andererseits sei er ein Pragmatiker.

Doch nach der Ermordung der drei Jugendlichen habe sich die Atmosphäre in Israel "enorm verhärtet", Lieberman präsentiert sich daher nun wieder als Hardliner. Und Netanjahu gab dem Druck nach; er erklärte nun, es sei an der Zeit, "die Samthandschuhe auszuziehen".

Der Nahost-Experte Michael Lüders sagte der " Berner Zeitung" dazu, die Hamas werde "zwar in Israel nach Kräften dämonisiert. Aber die israelische Regierung weiß, was sie an der Hamas hat. Sie braucht Hamas als Feindbild." Die Raketenangriffe auf Israel bezeichnete er als Reaktion auf das Vorgehen der Armee gegen Hamas-Anhänger und Sympathisanten im Westjordanland.

Hamas in der Krise

Andere Experten meinen, die Hamas kämpfe derzeit nicht nur gegen Israel, sondern auch um das eigene Überleben. Der Journalist Gil Yaron analysierte in der Zeitung " Die Zeit", die Hamas sei durch den Arabischen Frühling ihrer Verbündeten beraubt worden. "Iran, Syrien und die Hisbollah haben eigene Probleme und sind angesichts der wachsenden Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten problematische Partner. Die großen Hoffnungen, die die Hamas auf die Muslimbrüder in Ägypten setzte, wurden nach dem Armeeputsch enttäuscht. Statt zum großen Verbündeten wurde Kairo zum gefährlichen Feind."

Auch der Kolumnist Strenger sieht die Hamas in einer desolaten Verfassung. Gegenüber tagesschau.de sagte er, die Hamas stehe finanziell massiv unter Druck, auch weil sie in den arabischen Staaten zunehmend isoliert sei. Im Gazastreifen könnten Tausende Beamte und Sicherheitsleute daher nicht bezahlt werden. Es sei derzeit noch nicht einmal klar, ob noch ein Zentralkommando der Hamas existiere, sagt Strenger. Auch bei den Entführungen und Morden an den israelischen Jugendlichen habe sich die Hamas widersprüchlich verhalten.

Strenger meint, es habe sich bei der Hamas ein gemäßigterer Flügel entwickelt, der sich dem Kurs der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas annähere. Eine solche Entwicklung führt in einer radikalen Organisation wie der Hamas, die von EU, USA und Israel als terroristische Vereinigung eingestuft wird, wohl zwangsläufig zu massiven Spannungen - fordert die Hamas in ihrer Charta doch nicht weniger als die Zerstörung Israels. Eine Studie der Bundeszentrale für politische Bildung über das Grundsatzpapier kam zu dem Schluss, dass ein Existenzrecht Israels durch die Hamas niemals anerkannt werden könne.

In dieser Krisensituation geht der militärische Flügel der Hamas wieder in die Offensive. Der Journalist Yaron meint, eine Eskalation berge Chancen für die Hamas: "Die Zeit scheint günstig: Israels Regierung hat wiederholt klar gemacht, dass sie nicht in Gaza einmarschieren, sondern einfach nur Ruhe will. Darüber hinaus stellten israelische Sprecher der Hamas ungewollt eine Versicherungspolice aus: Man dürfe nicht zu hart agieren, weil die Hamas angesichts des Erstarkens von Al Kaida in der Region in Gaza noch die beste Option sei."

Nahost-Experte Lüders glaubt ebenfalls, dass die Hamas Stärke demonstrieren will: Mit ihren Angriffen möchte sie "der eigenen Bevölkerung zeigen, dass sie da ist und dass sie sich nicht alles gefallen lässt". Auch Strenger meint, die Hamas wolle sich in eine "Heldenposition" gegen Israel bringen. Sie könne sich so gegen die Fatah profilieren, weil in der palästinensischen Bevölkerung die Wut über die Angriffe auf Gaza wächst.

Krieg der Bilder

Der Krieg wird aber nicht nur militärisch geführt, sondern auch mit Bildern ausgefochten. Die BBC recherchierte, dass Bilder mit angeblichen Opfer im Gazastreifen nicht authentisch sind. Die grausamen Aufnahmen von toten Kindern stammen tatsächlich aus den Kriegen in Syrien oder im Irak, wie Recherchen ergaben. Dennoch verbreiten sie sich schnell über die sozialen Netzwerke.

Eskalation, Spirale der Gewalt, Krieg der Bilder - alles wie gehabt? Nein, sagt Kolumnist Strenger. Zwar kenne man in Israel das Szenario, dass Raketen aus dem Libanon oder aus dem Gazastreifen fliegen. Doch der Kontext sei bedrohlicher geworden. "Niemand weiß, wer eigentlich die Kontrolle in Syrien hat. Niemand weiß, was aus dem Irak wird. Es gibt mehr extremistische Splittergruppen, die Israel angreifen werden - und dann hat man nicht einmal mehr eine Adresse, um über einen Waffenstillstand zu verhandeln."

Kann die Arabische Liga vermitteln?

Eine bilaterale Lösung zwischen Israelis und Palästinensern erscheint angesichts der Machtkämpfe zwischen den Palästinensern und der Umbrüche im arabischen Raum immer unwahrscheinlicher. Auch die US-Politik in Nahost ist weitestgehend erfolglos. Daher hoffen viele Beobachter auf die Arabische Liga, die eine Dringlichkeitssitzung der UN fordert und deren Außenminister in dieser Woche in Kairo berieten und noch einmal auf ihre Friedensinitiative hinwiesen.

Der langjährige Geheimdienstchef von Saudi-Arabien, Prinz Turki al Faisal, warb in einem Gastbeitrag in der israelischen Zeitung " Haaretz" für den Plan der Liga. Und nicht nur das: Das Mitglied der saudischen Königsfamilie schrieb über einen Traum vom friedlichen Zusammenleben der Religionen und Völker im gesamten Nahen Osten, wo der Handel, die Wissenschaft sowie Kunst und Kultur neu erblühen könnten. Ein Traum, der in weiter Ferne liegt.

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