Von Patrick Gensing, tagesschau.de
Nun ist sie vorbei, die WM. Und auch die anschließenden Feierlichkeiten sind durch. Deutschland ist tatsächlich Weltmeister. In den vier Wochen zuvor war die Abendplanung ein Kinderspiel, einzig kühle Getränke, ausreichend Nahrung und nette Menschen musste man sich noch besorgen. Dazu gab es Fußball satt. Die schönste Nebensache der Welt wurde zur Hauptbeschäftigung.
Das hat einige bemerkenswerte Nebenwirkungen mit sich gebracht. Die WM dominierte die meisten Gespräche, aber auch medial gab es praktisch nur noch ein Thema. Während 1994 das deutsche WM-Aus gegen Bulgarien (Kopfball Letchkov) noch am Ende der 20-Uhr-Ausgabe der tagesschau gesendet wurde, ist der Fußball mittlerweile so bedeutsam, dass sämtliche Nachrichtenredaktionen ihre Sendungen damit aufmachen.
Überzogene ErwartungenWas aber passieren kann, wenn Fußball von einer Nebensache zu der Hauptsache mutiert, hat man an dem Desaster der brasilianischen Mannschaft gesehen; wenn nämlich jede halbwegs vernünftige Taktik in einem Meer von nationalem Pathos und überzogenen Erwartungen untergeht.
Ich bin seit meiner Kindheit Fußballfan, werde regelmäßig zu Hause aufgefordert, bitte endlich die Bundesliga-Sonderhefte aus den 1980er-Jahren zu entsorgen und habe bereits mehrfach geträumt, mein Lieblingsclub werde Deutscher Meister, was natürlich niemals passieren wird. Kurzum: Ich bin das, was man gemeinhin als einen Fußballdeppen bezeichnet.
Daher habe ich mich auch gefreut, dass die beste Mannschaft des Turniers die WM gewonnen hat (auch wenn ich es Chile sehr gegönnt hätte). Und ich freue mich, dass die Nationalmannschaft nicht nur mehr aus Biodeutschen besteht, sondern Özil, Khedira und Boateng zur Stammelf gehören, so wie sie natürlich zu Deutschland gehören. Hier spiegelt sich die gesellschaftliche Entwicklung im Fußball wider. Wäre auch schade, wenn es anders wäre - so wie in vielen Redaktionen beispielsweise.
Die Bedeutung von NebensächlichkeitenPolitik, Gesellschaft und Fußball hängen selbstverständlich miteinander zusammen. Aber Fußball, bzw. das, was dafür gehalten wird, sollte nicht zur Hauptsache dabei werden. Sonst werden Nebensächlichkeiten in ihrer Bedeutung vollkommen überhöht, wie beispielsweise nun der "Gauchogate". Da haben siegestrunkene und auch sonst offenkundig angeheiterte junge Männer einen Tanz aufgeführt, den man lustig oder auch despektierlich und peinlich finden kann. Darüber lässt sich sicherlich streiten. Es ist aber kein Vorgang von welthistorischer Bedeutung, sondern eher Ballermann-Kultur pur.
Der Fußball wird immer dann unangenehm, wenn er mit nationalen Befindlichkeiten aufgeladen oder als Vehikel für neuen Nationalstolz missbraucht wird, den ich in meiner Jugend, als "Schland" noch Bundesrepublik hieß, gar nicht vermisst habe. Wenn Horst Seehofer nach dem WM-Sieg vom "eisernen Willen" schwärmt und auf "eine neue Phase der Zuversicht, der Freude, des Stolzes auch auf das eigene Land" hofft, dann freue ich mich, dass die WM vorbei ist und hoffe, dass alsbald die Saison der 2. Bundesliga und der Oberliga Hamburg wieder anfangen, um die spielerische Ernsthaftigkeit dieses faszinierenden Sports wieder genießen, bzw. um mich nach Niederlagen meiner Lieblingsvereine maßlos ärgern zu können. Denn eine Weisheit sollte man nie vergessen: Beim Fußball geht es nicht um Leben oder Tod. Die Sache ist viel ernster.