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Neue Hamburger Schule: Die Polizei gibt den Takt an

Hamburg galt lange als Hort der Subkultur, mit einer aktiven, politisch bewussten und hochkreativen Szene. Mittlerweile steht die Hansestadt repräsentativ für einen bundesweiten Trend hin zur Vereinheitlichung und Kommerzialisierung der Städte: Kiez, Kult und Kommerz. Für Spannung und Aufmerksamkeit sorgte zuletzt nur noch die "Neue Hamburger Schule" der Politik, die ihre Aufgaben der Polizei überträgt. Ein Trend, der längst zum Mainstream geworden ist. Von Patrick Gensing, zuerst erschienen in der Spex No. 351

"Die Initiative ging ohne politischen Auftrag von der Polizei aus." Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) räumt offen ein, dass die Polizei eigenständig Politik macht. Gefahrengebiet - dieser Begriff avanciert bereits wenige Tage nach Silvester zu einem Favoriten für das Unwort des Jahres 2014. In Hamburg erklärt die Polizei mehrere Stadteile kurzerhand zur danger zone. Unbefristet. Grund seien Attacken auf Polizisten und Polizeiwachen.

Hintergründe, Motive und tatsächliche Abläufe sind zwar noch weitestgehend ungeklärt, kritische Fragen stellt die Hamburger Presse dennoch nicht. Zeitungen wie die Hamburger Morgenpost gießen stattdessen weiter Öl ins Feuer und packen nach einem angeblichen "Anschlag" auf die Davidwache martialische Drohungen von Polizeigewerkschaftern auf das Titelblatt: "Wir schießen nächstes Mal scharf!"

Später wird klar: Einen gezielten Angriff von "Linksextremen" auf die Wache zwischen Weihnachten und Neujahr hat es gar nicht gegeben. Auch dass die Polizei für sich selbst definiert, wo Gefahrengebiete ausgerufen werden, gegenüber sich selbst erläutert, warum diese Gefahrengebiete notwendig seien, und auch deren Erfolg selbst bemisst, fällt den lokalen Medien nicht weiter negativ auf. Statt denen eine Stimme zu geben, die keine haben, betreiben die Hamburger Medien weitestgehend Pressearbeit im Sinne von Senat und Polizei.

Was Polizeiführung, SPD-Senat und Hamburger Medien aber offenkundig unterschätzt haben, ist die Wut in Teilen der Bevölkerung. Wut über eine Politik, die Konflikte um menschenverachtende Flüchtlingspolitik, steigende Mieten und Kommerzialisierung von öffentlichem Raum gar nicht mehr demokratisch verhandeln will, sondern die Problemlösung der Polizei überträgt. Wie oft in diesen Wochen SPD, CDU und FDP auf "Recht und Ordnung" verweisen, wenn es um politische Konflikte geht, lässt sich kaum zählen.

Die Klobürste avanciert derweil zum Symbol dieser Wut auf die klinisch saubere, durchkommerzialisierte, total sichere und weitgehend entpolitisierte Großstadt, in der das Ordnungsrecht zur höchsten Instanz geworden ist.

Das Versagen der Presse, die sich gerne als vierte Gewalt rühmt, wird in Hamburg besonders offensichtlich, als Blogs deren Aufgabe übernehmen - nämlich die Kontrolle der drei staatlichen Gewalten. Citizen journalism und soziale Netzwerke schaffen eine Gegenöffentlichkeit, die nicht einfach ignoriert werden kann.

Als schließlich überregionale und sogar internationale Medien die Hamburger Verhältnisse thematisieren, Solidaritätsbekundungen aus Istanbul eintreffen und die US-Botschaft vor den Zuständen im Gefahrengebiet warnt, ist man in den hanseatischen Redaktionsstuben peinlich berührt, schüttelt ungläubig die Köpfe - und lenkt schließlich nach und nach ein. Denn nichts fürchtet der Hamburger mehr als einen Imageschaden für die "schönste Stadt der Welt". Außerdem dämmert es offenkundig einigen Zeitungsmachern, dass das medial gezeichnete Bild, das fast ausschließlich auf Pressemitteilungen der Polizei basiert, vielleicht doch etwas zu eklatant von der erlebten Realität vieler Bürger abweicht.

Sind nun aber jene Wochen im Hamburger Winter ein singuläres Phänomen? Alles eine Hamburgensie? Ist also die Neue Hamburger Schule, in der die Polizei den Takt angibt, ein Sonderfall? Zwar räumt das entsprechende Gesetz in der Hansestadt der Polizei tatsächlich eine besonders große Beinfreiheit ein - doch die Tendenz, Politik durch Polizei zu ersetzen, Stadtentwicklung durch Gefahrenabwehr zu gestalten, ist längst zum politischen Mainstream geworden - weit über Hamburg hinaus.

"Kriminalitätsbelastete Orte", "Kriminalitätsbrennpunkte", "verrufene Orte", "gefährliche Orte", "Gefahrenorte" oder einfach "Kontrollbereich" - so werden seit den 90er-Jahren in Bundesländern und Städten rechtliche Konstruktionen getauft, die der Polizei weitreichende Rechte einräumen - wofür das Prinzip der Unschuldsvermutung eliminiert wird: Polizeiliche Maßnahmen gegen Personen sind hier möglich und alltäglich, obwohl überhaupt kein konkreter Tatverdacht vorliegt.

"Raumfokussiertes Kontrollregime"

Der Soziologe und Protestforscher Peter Ullrich spricht in einer Studie, die er mit Kollegen erstellt hat, von einem "raumfokussierten Kontrollregime", in dem "der Tatverdacht durch einen Generalverdacht" ersetzt werde. Dies füge sich "nahtlos in allgemeine Tendenzen der Rechtsentwicklung und insbesondere der Kriminalpolitik in der ›Sicherheitsgesellschaft‹ beziehungsweise der ›Kultur der Kontrolle‹".

Ausgerechnet Leipzig, wo sich der Aufstand gegen die SED-Stasi-Diktatur formiert hat, gilt in der Bundesrepublik als Vorreiter in Sachen Videoüberwachung. Diese wird seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich eingesetzt, um gegen Drogenkriminalität und die linke Szene vorzugehen. Seit sich in den vergangenen Jahren Initiativen gegen Gentifizierung formiert haben, setzt die Stadt nicht auf Kommunikation, sondern auf Repression. Gentrifcation wird zum Gegenstand der Kriminalprävention. Auch in Berlin beschäftigt sich der Staatsschutz mit Proteste gegen zu hohe Mieten. Videoüberwachung, Kriminalisierung und „gefährliche Orte" - viele deutsche Städte halten offenkundig wenig davon, lebendige Demokratie außerhalb der Parlamente zu leben.

Alleine in Hamburg hat die Polizei seit 2005 stolze 51 Gefahrengebiete eingerichtet. Die Anlässe sind sehr unterschiedlich: So listet der Senat in einer Antwort auf eine Anfrage der Linken das dauerhafte Gefahrengebiet "Betäubungsmittelkriminalität St. Georg" am Hauptbahnhof auf, die Gefahrengebiete in bürgerlichen Vierteln im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Gewalt- und/oder Eigentumskriminalität, Gefahrengebiete über die ganze Stadt verteilte "anlässlich einer Häufung von Kraftfahrzeugbränden" sowie im Zusammenhang mit Public-Viewing-Veranstaltungen anlässlich der überwiegend vollkommen unproblematischen Fußballweltmeisterschaft 2006. Darüber hinaus seien Gefahrengebiete auch anlässlich von Versammlungen eingerichtet worden - also bei Demonstrationen.

Kurzum: Die Polizei setzt die Maßnahme praktisch als Allzweckwaffe ein. Das überrascht kaum, kann die Polizei diese "gefährlichen Orte" doch aufgrund ihrer eigenen "Lageerkenntnisse" festlegen und benötigt nicht einmal einen richterlichen Beschluss. Zudem definiert die Polizei in diesen Sonderrechtszonen "Zielgruppen", die besonders kontrolliert werden sollen, beispielsweise "Jugendliche von 16 bis 25 Jahren in Gruppen von drei Personen" oder "Personen, die augenscheinlich dem linken Spektrum zuzuordnen sind". Bei Maßnahmen gegen Drogenkriminalität kann man sich vorstellen, welche äußeren Merkmale die Polizei als besonders verdächtig einstufen dürfte.

Und genau wie bei Verkehrskontrollen werden auch bei einer höheren Dichte von Personenkontrollen logischerweise automatisch mehr Delikte wie Verstöße gegen das Betäubungsmittel- oder gegen das Aufenthaltsgesetz festgestellt, sodass die Gefahrengebiete zur selbst erfüllenden Prophezeiung werden können. Würde man auf einen Schlag bundesweit 10.000 neue Steuerprüfer einstellen, würde vermutlich auch die Statistik über Steuerdelikte deutlich ansteigen - ohne dass sich de facto irgendetwas am Verhalten der Bürger oder Firmen geändert hätte.

Personenübergreifender Verdacht

"Bereits die Kennzeichnung des Ortes generiert einen personenübergreifenden Verdacht und rechtfertigt polizeiliche Eingriffe. Damit sind die Hürden für Eingriffe gegenüber anderen Orten deutlich herabgesenkt", betont Experte Ullrich. Der

Protestforscher von der TU Berlin sieht die "gefährlichen Orte" mittlerweile als akzeptierten Teil der Stadtentwicklung, eingesetzt bei "der Umgestaltung und insbesondere der Aufwertung städtischer Räume" bis hin zum "Migrationsmanagement oder der Befriedung politischer Dissidenz" sowie "zur Durchsetzung hegemonialer Ordnungsvorstellungen". Zum großen Teil werde die Gefährlichkeit der Orte abgeleitet von den Menschen, die sich dort tatsächlich aufhalten oder aufhalten könnten.

Die Maßnahme richtet sich also nicht gegen Orte oder Gebiete, sondern gegen Menschen, die von der von der Polizei definierten Norm abweichen; gegen Bürger, die angeblich gefährlich sind und daher präventiv, ohne Anlass, kontrolliert werden sollen.

So haben etwa Menschen mit schwarzer Hautfarbe in "Gefahrengebieten", in denen die Polizei gegen den Handel mit weichen Drogen vorgehen will, beste Chancen, auch bei alltäglichen Besorgungen von der Polizei kontrolliert zu werden. Das Verbot des Racial Profiling wird umgangen, indem man sich die Kontrolle aller Menschen erlaubt - und dann doch wieder die herauspickt, die man aufgrund von "Erfahrungswerten" ohnehin für verdächtig hält.

Der Rechtsanwalt Carsten Gericke hat im Jahr 2011 gegen ein Gefahrengebiet geklagt, weil die Polizei dadurch die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einschränke. Das Verwaltungsgericht Hamburg lehnte die Klage 2012 zwar ab, ließ aber wegen der grundsätzlichen Bedeutung den Weg zur höheren Instanz zu und betonte, dass die Polizei das Gesetz streng auslegen müsse. Angesichts von mehr als 50 Gefahrengebieten innerhalb von acht Jahren ist es indes zweifelhaft, ob sich die Polizei an diese Vorgabe hält.

Ein Urteil steht in der Sache noch aus. Doch von solchen Bedenken wollen die sogenannten Polizeigewerkschaften, die die unkündbaren und nach Besoldungstabellen bezahlten Beamten vertreten, was der Bezeichnung "Gewerkschaft" einen grob irreführenden Beigeschmack verleiht, nichts hören. Ihre Köpfe gelten als mediale Lautsprecher, die bessere Ausrüstung, neue Waffen wie Gummigeschosse oder drakonische Strafen fordern. Zudem klagen Spitzenfunktionäre wie der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt regelmäßig über die angeblich immer weiter ansteigende Gewalt gegen Polizisten und bitten um "Solidarität" der Bevölkerung mit den Beamten, so als handele es sich um eine marginalisierte, hilflose Minderheit.

Bürgerkriegsgebiet?

Will man dem skizzierten Weltbild der Polizeigewerkschaften folgen, erscheint Deutschland fast wie ein Bürgerkriegsgebiet, in dem sich Bürger kaum noch auf die Straße trauen können. Marodierende Fußballrowdys, autonome Schlägerkommandos und kackfreche Jugendgangs terrorisieren die Bürger, die nur noch durch den heldenhaften und selbstlosen Einsatz der Polizei notdürftig geschützt würden.

Dass solche Szenarien nicht viel mit der Realität gemein haben, zeigt beispielsweise die Tatsache, dass die Kriminalität in diesem Land seit Jahren abnimmt. Und auch die These, Polizisten würden "immer öfter" Opfer von Gewalt, zweifeln namhafte Wissenschaftler an. Allerdings müssen die Forscher gute Nehmerqualitäten mitbringen, wenn sie sich äußern. Einer von ihnen ist der Professor Rafael Behr. Er meint: Die Polizei jammert zu viel. Behr lehrt an der Hochschule der Polizei in Hamburg, früher fuhr er selbst viele Jahre Streife. Der Professor verweist auf Statistiken und Untersuchungen von Kriminologen, die belegen: Die Anzahl der gravierenden Verletzungen von Polizisten nimmt radikal ab.

Behr warnt vor den Folgen des Gejammers: Die Gesellschaft wolle von der Polizei beschützt werden. "Wenn sich die Beschützer jedoch als Opfer, als Spielmaterial für Randalierer definieren, entstehen Irritationen in der Bevölkerung." Wer zudem andauernd auf seine Opferrolle hinweise, würde auch wie ein Opfer behandelt. Denn niemand wolle sich einem Loser unterordnen, erst recht nicht, wenn der dafür bezahlt werde, stark zu sein. Das Selbstbild des Opfers wird zudem weitergegeben an die jüngeren Beamten.

Behr warnt vor den Folgen: Bereits Berufsanfänger könnten ihre Arbeitsumgebung von vornherein als feindlich gesinnt einstufen. Woraufhin der Nachwuchs sich abkapsele, nur noch seinen Kollegen traue, und irgendwann strikt zwischen "wir" - die Polizisten - und "sie", also alle anderen, unterscheide. Geschult wird so der Korpsgeist, anstelle von "Staatsbürgern in Uniform". Die Wahrscheinlichkeit sei hoch, "dass der Schutzmann in Konfliktsituationen dann härter reagiert, als er müsste", sagt Behr. Konsequenz: Der Bürger nehme den Beamten als unverhältnismäßig ruppig wahr. Es entstehe eine Spirale, die Misstrauen zwischen Beamten und Bürgern schüre.

Der Sturm der Entrüstung lässt nach derlei Verlautbarungen nicht lange auf sich warten: Die Gewerkschaft der Polizei meint, der Professor merke nichts mehr und unterstellte dem Professor einen "Fall akuter Profilneurose". Der Bund Deutscher Kriminalbeamter findet den Vorwurf schlicht frech und fordert eine Entschuldigung. Die Deutsche Polizei-Gewerkschaft setzt dem Ganzen einmal mehr die Krone auf und zeigt sich "fassungslos" entsetzt. Behrs Kritik sei "ehrverletzend, diffamierend und verleumderisch". Mehrere Polizeivertreter fordern, dass der Professor nicht mehr an der Polizeihochschule lehren dürfe.

Interessenskonflikt

Aber warum redet sich die Polizei ständig selbst schwach? Ihre Aufgabe ist es, für Sicherheit zu sorgen, doch befindet sich die Polizei offenkundig in einem Interessenskonflikt: Je sicherer sich die Bürger fühlen, desto weniger werden Forderungen nach besserer Ausrüstung und höheren Gehältern auf Zustimmung stoßen. Ein größeres Unsicherheitsgefühl sichert dem Polizeiapparat hingegen den zugesagten Etat - oder lässt diesen sogar weiter wachsen. Denn kein Politiker möchte sich nachsagen lassen, er vernachlässige die Sicherheit.

Auch Behr meint: Kollektiv gestöhnt werde, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, Rückhalt in der Öffentlichkeit und finanzielle Ressourcen bei der Politik zu sichern. Der Kriminologe Christian Pfeiffer hat in einem offenen Brief an die Justiz- und Innenminister von Bund und Ländern geschrieben, es werde nicht zutreffend über Kriminalität berichtet. Der Professor verweist dabei auf rapide sinkende Zahlen bei der Kriminalität: Die Fallzahlen bei vollendetem Mord gingen zwischen 1993 und 2004 von 666 auf 352 zurück, Autodiebstahl sei in diesem Zeitraum um 75 Prozent zurückgegangen, - und auch bei Bankraub und Wohnungseinbrüchen hätten sich die Werte etwa halbiert. Beeindruckende Zahlen, die in der Öffentlichkeit kaum zu vernehmen sind. "Liegt es vielleicht daran", fragt Pfeiffer, "dass Gewerkschaftsfunktionäre und Innenminister in der Sorge vereint sind, die Finanzminister könnten bei Kenntnisnahme der positiven Entwicklung auf die Idee kommen, im großen Stil Planstellen der Polizei zu kürzen?"

Es passt ins Bild, dass die Deutsche Polizeigewerkschaft kurz nach dem angeblichen zweiten "Anschlag" auf die Davidwache einen "Aktionsplan" vorgestellt hat, in dem sie die Ausrüstung mit höchst umstrittenen Elektroschockern (sogenannten Tasern) und anderem Gerät sowie mehr Stellen und Geld fordert.

Mit Erfolg: Wenige Tage später verkündete im Januar Innensenator Neumann, dass die Hamburger Polizei in diesem Jahr mit zehn Millionen Euro zusätzlich ausgestattet wird: Zwei Millionen Euro gibt es für die Auszahlung von Überstunden, für drei Millionen Euro sollen neue Schutzkleidung und Polizeifahrzeuge mit Sicherheitsglas angeschafft werden. Die verbleibenden fünf Millionen Euro dienen als Anschubfinanzierung für ein neues Beförderungsmodell - welches auch noch jährliche Folgekosten produziert.

Die Gewerkschaft jubiliert und lobt sich selbst: "Nach intensiven und hartnäckigen Gesprächen der GdP mit Vertretern der SPD-Mehrheitsfraktion [...], in der die dramatische Situation der Hamburger Polizei wiederholt besprochen wurde, hat der Senat entschieden, dass zehn Millionen Euro für die Hamburger Polizei bereitgestellt werden." Hier komme "die geforderte Wertschätzung für die Kolleginnen und Kollegen auch materiell zum Ausdruck". Keine Frage: Das selbst geschaffene Gefahrengebiet hat sich ausgezahlt.

Wie alle Institutionen neigt auch der Polizeiapparat dazu, die eigene Macht zu sichern und auszubauen. Dies führt offenkundig auch dazu, dass neue Kompetenzen an sich gezogen werden, wenn die Politik dies zulässt. In Hamburg stoppt die Polizei am 21. Dezember 2013 einen linken Demonstrationszug nach wenigen Minuten, weil die Beamten mit Steinen, Flaschen und Böllern beworfen worden seien. Auch diese Darstellung lässt sich öffentlich nicht lange halten, da Journalisten, die vor Ort gewesen sind, deutlich machen, dass vor dem Stopp der Demonstration keine Gegenstände geflogen sind. Der Verdacht lag nahe, dass die fast 10 000 Demonstranten das Schanzenviertel von vornherein nicht verlassen sollten. Eine glatte Verletzung des Grundrechts auf Demonstrationsfreiheit - und leider kein Einzelfall.

OSZE kritisiert Vorgehen der Polizei

Frankfurt am Main, 1. Juni 2013: Die Polizei kesselt rund 900 Teilnehmer einer genehmigten Demonstration stundenlang ein, verhindert so faktisch einen Protestmarsch von insgesamt mehreren Tausend Menschen. Der SPD-Stadtverordnete Christian Heimpel erlebt die Proteste als offizieller Demonstrationsbeobachter der Stadt. Er kritisiert das Verhalten der Polizei scharf, die auch gegen Demonstrationsbeobachter und Journalisten vorgegangen sei.

Vor Ort tätige Sanitäter zählen bis zu 275 Verletzte und beklagen, die Polizei habe ihre Arbeit behindert. Die OSZE kritisiert, mehrere Journalisten seien durch den Einsatz von Pfefferspray verletzt worden. In einem offenen Brief schreiben zahlreiche Wissenschaftler: Der polizeiliche Umgang mit Protest sei oftmals und auch im konkreten Fall in Frankfurt von umfangreichen Auflagen gekennzeichnet, die auf vagen, aber kriminalisierenden Gefahrenprognosen beruhen. "Daraus folgen massive Vorkontrollen, teils mit Festsetzung von anfahrenden Bussen, zunehmende Videoüberwachung, einschüchterndes Material- und Waffenaufgebot sowie enge, einschließende Begleitung von Aufzügen. Solche und andere polizeiliche Maßnahmen wirken abschreckend und schränken so die Demonstrationsfreiheit ein."

Das Verhalten der Polizei in Frankfurt am Main wurde auch Thema für Parlament und Gerichte. Doch selbst wenn im Nachhinein festgestellt wird, dass ein Einsatz der Polizei rechtswidrig war; ändert sich dadurch oft praktisch nichts, wie wiederum das Beispiel Hamburg zeigt, wo mehrere Klagen gegen Einsätze der Polizei erfolgreich gewesen sind, aber keine Konsequenzen nach sich ziehen. Mehrmals hat die Polizei linke Demonstrationen rechtswidrig gestoppt oder aufgelöst, wie Gerichte festgestellt haben, doch die Einsatzleiter halten an ihren Strategien und fragwürdigen Begründungen fest.

Wohlfeile Hinweise

Politik und Presse schweigen größtenteils zu diesen Verfassungsbrüchen. Die wohlfeilen Hinweise von Innenpolitikern, bei Fehlverhalten von Polizisten könnten sich die Betroffenen ja juristisch wehren, wirken angesichts solcher folgenloser Urteile wie blanker Hohn. Dazu kommt, dass die dienstinternen Ermittlungen fast nie zu Ungunsten der Beamten ausfallen. Das Ergebnis von Kleinen Anfragen der Linksfraktion ist erschreckend: Zwischen 2003 und 2009 sind in Hamburg mehr als 2000 Ermittlungsverfahren gegen 3000 beschuldigte Polizeibedienstete wegen Körperverletzung im Amt geführt worden. Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat hiervon 13 Fälle angeklagt, das entspricht einer Anklagequote von 0,43 Prozent. Entweder liege gar kein Fehlverhalten vor, oder die Polizisten seien nicht zu identifizieren gewesen, heißt es zumeist.

Experten und Bürgerrechtler fordern deswegen seit Jahren die Kennzeichnungspflicht von Polizisten. Das wird aber von den Polizeigewerkschaften vehement und mit abenteuerlichen Begründungen zurückgewiesen. So demonstriert die Deutsche Polizeigewerkschaft im Jahr 2011 bei einer bizarren Pressekonferenz am Beispiel eines Eisbeins (!), wie Namensschilder mit Sicherheitsnadeln angeblich als "lebensgefährliche" Waffen missbraucht werden können.

Die Neue Hamburger Schule ist also längst zur Mode geworden. Im Januar 2014 richtet auch die Polizei in Wien ein Gebiet ein, in dem Bürger bei winterlichen Temperaturen keine Gegenstände mit sich führen dürfen, die dazu geeignet sind, sich zu vermummen. Damit will die Polizei Proteste gegen einen rechtsradikalen Burschenschaftsball erschweren. Die Burschenschafter selbst haben die Maßnahmen in Hamburg zuvor ausdrücklich gelobt und auch für Wien gefordert.

Keine einheitlichen Kriterien

In Deutschland ist bislang kaum untersucht worden, wie viele Sonderzonen es in den Städten eigentlich gibt. Da es sich um Landesgesetze handelt, existieren ohnehin keine einheitlichen Kriterien für die "gefährlichen Orte". Viele werden nur durch parlamentarische Anfragen bekannt.

Der Protestforscher Ullrich weist darauf hin, dass die Einrichtung von Kontrollbereichen von verschiedenen Maßnahmen begleitet würde, beispielsweise vom Verbot des Lagerns auf Grünflächen, von Bettel- oder Alkoholverboten. Ullrich fasst zusammen: "Erstens soll mittels räumlicher Maßnahmen tatsächliche oder vermeintliche Kriminalität an lokalen Konzentrationspunkten eingedämmt werden. Zweitens dient sie als Mittel der Aufwertung zentraler und besonders prestigeträchtiger städtischer Zonen oder sogenannter ›Visitenkarten‹. Drittens handelt es sich um ein Mittel der Durchsetzung antiliberaler Ordnungsvorstellungen und der Einhegung politischer Dissidenz oder subkultureller und sonstiger Abweichungen von der ›Normalität.‹"

Die mit der postulierten "Gefahr" verbundenen Konflikte seien also auch Auseinandersetzungen um das im öffentlichen Raum legitime Verhalten. In diesem Kontext seien "insbesondere innerstädtische Treffpunkte von Jugendlichen, Subkulturen oder Marginalisierten strikteren Kontrollregimen unterstellt" worden. Auf zentralen Plätzen rumhängen und sich gemeinsam kreativen Unsinn ausdenken, das ist in vielen Metropolen kaum noch möglich. Mehr noch: Widerstand gegen die Kommerzialisierung der Städte, gegen steigende Mieten und Verdrängung wird nicht politisch verhandelt, sondern kriminalisiert. Der renommierte Soziologe Andrej Holm erlebte hautnah, was die Folgen sind. Im Jahr 2007 stürmt eine Spezialeinheit der Polizei seine Berliner Wohnung. Holm ist zu diesem Zeitpunkt bereits über Monate als Terrorverdächtiger ausspioniert worden. Die Bundesanwaltschaft hält ihn zum damaligen Zeitpunkt für einen geistigen Brandstifter. Er soll Kopf einer terroristischen, linken Vereinigung sein. Sein "Vergehen": In Bekennerschreiben der "militanten Gruppe" tauchen die Begriffe "Prekarisierung" und "Gentrification" auf - die der Soziologe Holm auch benutzt hat.

In Hamburg verkünden Polizei und SPD-Senat derweil, das Gefahrengebiet zum Jahresbeginn sei ein Erfolg gewesen. Die Ausbeute von knapp 1000 Personenkontrollen: Unter anderem Klobürsten, ein Beutel mit Petersilie und ein Zelt. Absurd und bizarr - doch die öffentliche Kritik bleibt überschaubar. Denn den Takt zur Neuen Hamburger Schule gibt längst die Polizei an.

Die neue Spex erscheint am 27. März 2014.

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