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Die Zukunft hochrechnen lassen

Wir alle hinterlassen im Alltag unwillkürlich Spuren. Im analogen Leben verlieren wir eine Wimper, schütteln jemandes Hand oder lassen eine Tür offen stehen, die davor geschlossen war. Ähnlich manifestieren sich unsere Bewegungen in der digitalen Sphäre. Nicht nur, wenn wir dem Status eines Freundes auf Facebook „Daumen hoch" geben oder Musik kaufen, sondern auch, wenn wir einen Begriff in die Maske einer Suchmaschine eintippen. Anhand solcher Daten und Netzwerke erforscht die Physikerin Roberta Sinatra an der Central European University in Budapest komplexe Zusammenhänge.

Eines ihrer Themen ist die Wissenschaft vom Erfolg. „Ich versuche, die Gesetze zu verstehen, die zu Erfolg führen - bei einer Person, einem Produkt, einem Thema", erklärt die Italienerin. Den Begriff Erfolg unterscheidet sie dezidiert von Performance: „Erfolg ist, wie die Performance ankommt. Denken Sie an ein Gemälde: Die Menschenmenge vor der Mona Lisa im Louvre, das ist der Erfolg." Die Performance, das Werk Leonardo Da Vincis sei unbestritten - aber berühmt und erfolgreich wurde das Bild erst nach seinem Diebstahl und der Rückgabe 1913. „Sogar Experten scheitern oft daran, eine Performance zu evaluieren", sagt Sinatra und erinnert an J. K. Rowling, die für ihre „Harry Potter"-Romane erst nach mehreren Absagen einen Verleger fand. Hier komme die Daten- und Netzwerkanalyse ins Spiel: Ausgehend von den (digitalen) Spuren, die Menschen in ihrem Tun hinterlassen, könne Sinatra einige - zugegebenermaßen recht abstrakte - Gesetzmäßigkeiten identifizieren.

„Winzige Unterschiede in der Performance wirken sich gewaltig auf die jeweilige Erfolgsrate aus. Wer hat den 100-Meter-Sprint der Männer in Rio gewonnen?" - Usain Bolt? - „Genau, Usain Bolt. Und wer wurde Zweiter?" Die läppische Differenz von acht Hundertstelsekunden entschied hier über Ruhm oder Nicht-Ruhm. „Diese Asymmetrie zwischen Performance und Erfolg kann gemessen und quantitativ erfasst werden." Bolt ist auch Beispiel für ein weiteres Phänomen: „Je erfolgreicher man ist, desto erfolgreicher wird man auch in Zukunft sein." Wohingegen der Zeitpunkt, an dem man im Lauf einer Karriere Erfolg hat, zufallsbestimmt ist: „Physiker Frank Wilczek etwa bekam den Nobelpreis für seine Dissertation, der Chemiker John B. Fenn für eine Arbeit, die er in der Pension gemacht hat." Unser „Anerkennungssystem", wie Sinatra sagt, sei derzeit auf frühe Erfolge ausgerichtet. „Doch Erfolg kann auch später passieren."

Wie kann ihre Arbeit dazu beitragen, komplexe Sachverhalte besser begreifbar zu machen? Der erste Schritt, Datenmengen zu sondieren, sei immer die Visualisierung: „Schon da gewinnt man oft unerwartete Erkenntnisse." Weitere Berechnungen basieren auf Gesetzmäßigkeiten, die die Wissenschaftler aus Datenanalysen ableiten, z. B. der Auswertung von 300.000 Karrieren aus Wissenschaft und Kunst. So könne sie kalkulieren bzw. hochrechnen, wie erfolgreich jemand wird. „Unsere Prognosen sind wie die von Meteorologen: Sie können die Stärke eines Hurrikans mit einer gewissen Schwankungsbreite vorhersagen. Oder wie wahrscheinlich es ist, dass er New York City trifft."


Wie oft haben Sie „Gefällt mir" geklickt?

Start-ups etwa werden üblicherweise erst spät finanziell erfolgreich: „Uber (ein Online-Taxiservice, Anm.) hatte viele Wikipedia-Abrufe, lange bevor die App abhob. Diese frühe Evaluierung können wir mit den von uns identifizierten Gesetzmäßigkeiten hochrechnen." Arbeitsgrundlage sind für Sinatra immer Datenmengen sozialer Phänomene: wie oft Wissenschaftler ein Paper zitieren, wie Nutzer Bücher online bewerten, wie oft sie auf „Gefällt mir" klicken oder einen Artikel aufrufen. „Wir blicken dabei nicht isoliert auf z. B. eine Forscherbiografie, sondern betrachten sie im Kontext aller Wissenschaftler, die in unseren Daten erfasst sind. Um Erfolg zu verstehen, müssen wir uns auch mit denen befassen, die nicht erfolgreich wurden."

Die Kraft von Sinatras Forschung ist auch eine aufklärerische. Kann sie mittels digitaler Analyse die immer komplexer scheinende Welt erklären? „Die Welt war immer schon komplex", sagt Sinatra. „Wir sind uns dessen heute nur stärker bewusst. Deshalb haben wir mehr Fragen und suchen mehr Antworten." Sinatra nimmt die Wissenschaftler in die Pflicht: „Sie können die Komplexität der Welt fundiert erforschen. Aber sie müssen sich bemühen, ihre Ergebnisse zu kommunizieren", in einer Art und Weise, die auch außerhalb der Forschergemeinschaft verständlich ist. „Wenn man trainiert, komplexe Antworten simpel zu kommunizieren, trägt das zum Wohl der Gesellschaft bei." Die Vereinfachung muss freilich verantwortungsvoll geschehen. Sinatra, die auch in Boston arbeitet, findet, dass US-Wissenschaftler Laien in ihrer Kommunikation stärker berücksichtigen.

Potenzial sieht sie in einem populären Phänomen: „,Big Data' ist eine Schatzkiste, die viele kostbare Informationen enthält." Bloß stecken wir noch in der Entwicklung der Werkzeuge, um diese Informationen zu bergen, zu verstehen, zu speichern und: sie wissenschaftlich nutzbar zu machen.

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