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Im sozialen Netz des Wildschweins

Wärmere Winter beeinflussen die Ausbreitung des Schwarzwilds positiv. Doch auch seine Fortpflanzungsstrategien machen das "Problemtier" Wildschwein so erfolgreich. 

Tiere leben nach unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Zu den langsamen Arten zählt der Elefant, der sehr alt wird, aber zehn, 20 Jahre braucht, um ein erstes Jungtier in die Welt zu setzen. Schnell ist die Maus: hohe Stoffwechselrate, frühe Geschlechtsreife, möglichst oft möglichst viel Nachwuchs, wenig Jungenfürsorge. „Wildschweine hingegen sind ein bisschen speziell", sagt Claudia Bieber vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Vet-Med-Uni Wien.

Das Besondere am Wildschwein (in der Jägersprache: „Schwarzwild"): Es ist groß und mit einer maximalen Lebenserwartung von zwölf Jahren recht langlebig, beginnt aber früh mit der Reproduktion. Etwa fünf Frischlinge kommen pro Wurf zur Welt. Damit sind Wildschweine im Vergleich zu anderen Paarhufern besonders fruchtbar.

Die meisten Daten, die zur Verfügung stehen, stammen von „Jagdstrecken", also von erlegten Tieren: „So bekommt man aber nur kurze Lebensspannen der Tiere in den Blick", sagt Bieber. Offen bleiben Fragen, für die es nötig wäre, sie über mehrere Jahre zu beobachten. Diese Möglichkeit ergab sich für Bieber und ihr Team 2011 dank Unterstützung der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft und von Wirtschaftspartnern: Mit etwa 80 Tieren wird in einem Gehege nahe Wien seitdem ein experimenteller Ansatz verfolgt. Die Wildschweine werden kontrolliert gefüttert und gewogen. Haarproben werden genetisch analysiert, um zu klären, wer in der Rotte mit wem verwandt ist. Auch die klimatischen Bedingungen werden aufgezeichnet. „Die milderen Winter senken die Sterblichkeit und wirken sich positiv auf Buchen- und Eichenmast aus. Das tut den Tierchen ganz gut", sagt Bieber.

Persönlichkeitstest für Schweine

Ergänzend kommen Verhaltensstudien hinzu sowie ein „Personality-Test". Dabei wird beurteilt, ob das einzelne Tier mutig und neugierig oder scheu und zurückhaltend ist, wenn es darum geht, sich einem unbekannten Objekt zu nähern. Neue Objekte können eine Gießkanne, ein Kinderautositz oder ein Spieltunnel sein, „durch den sie sogar durchgekrabbelt sind", erzählt Bieber. „Von Personality kann man nur sprechen, wenn das Tier wiederholt das gleiche - gleich mutige oder scheue - Verhalten zeigt." Auch Soziales wird beobachtet: Wer sind die zentralen Tiere? Wer ist mit wem befreundet? Das äußert sich „durch Aneinanderliegen, Anstupsen oder indem sie Frischlinge beim Säugen tauschen". So wird das soziale Netzwerk der Tiere analysiert.

All diese Faktoren gilt es dann miteinander in Beziehung zu setzen. Derzeit läuft die Datenauswertung, so Bieber, aber eines lässt sich bereits sagen: „Ein hohes Körpergewicht spricht für einen hohen Reproduktionserfolg. Dabei ist besonders interessant: Schwere Jungtiere bleiben auch später kräftig. Also ist das, womit sie im Leben starten, ausschlaggebend." Eine weitere Forschungsfrage sieht Bieber bereits: Wie kontrollieren Wildschweine ihren Wärmehaushalt?

Da sie aus dem asiatischen Raum stammen, haben sie kein braunes Fettgewebe, „das bei anderen Säugern wie ein kleiner Heizkörper funktioniert", so Bieber. Sie müssen ihren Wärmeverlust in kalten Gegenden durch Zittern kompensieren, was im Wildschweinalltag hinderlich ist. Umgekehrt sind sie aufgrund ihrer wenigen Schweißdrüsen und kompakten Form auch nicht besonders hitzetauglich. Trotz dieser Limitierung haben sie ihr Auslangen gefunden und sind auf allen Kontinenten anzutreffen. Lässt sich dieser Erfolg erklären? Bieber: „Sie sind Allesfresser, in der Gruppe organisiert und haben kaum Angst vor Menschen." Auf den konnten sie sich verlassen: Er schleppte sie überall ein, ob als Fleischreserve oder fürs Jagdvergnügen.

Heute ist ihm das Wildschwein als „Problemtier" lästig. Einerseits ist es eine potenzielle Gefahr für das Hausschwein: Krankheiten können leicht übertragen werden - mit ein Grund, warum es in Österreich so wenig Hausschweine in Freilandhaltung gibt. Andererseits verursachen wachsende Populationen Schäden in der Landwirtschaft. Oder Autounfälle. „Wildschweine sind sehr kräftig und können gefährlich werden", sagt Bieber, wenngleich sich einige an die Forscher gewöhnten Tiere zum Streicheln sogar auf den Rücken legen. „Der Spaß hört auf, sobald uns das Wildtier zu nahe kommt." Die Bejagung von Schwarzwild ist sehr zeitaufwendig. Deshalb unterliegt mittlerweile das Zufüttern strengen Vorgaben. Das natürliche Nahrungsangebot kann sich - dank Klimawandel - ohnehin sehen lassen.

LEXIKON

Diversified Bet-hedging. Unter unsicheren Bedingungen verringert das Wildschwein den Reproduktionserfolg (weniger Junge), kompensiert dies aber durch gesteigerte Varianz (z.B. Junge unterschiedlichen Körpergewichts). Diese wird etwa mittels Multiple Paternity erreicht: Pro Wurf kann es bis zu vier verschiedene Väter geben. Auch Wildschwein (Sus scrofa) und Hausschwein (Sus scrofa domestica) können miteinander fruchtbaren Nachwuchs zeugen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2014)



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