Es sind große Visionen, die Anna Laura Tiessen und Michael Speer vorschweben. Ein geeinter europäischer Staat mit gemeinsamer Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik, die einzelnen Nationen bleiben im Hintergrund oder verschwinden sogar ganz; dafür steht ein klimafreundliches Europa im Vordergrund. Die Ideen werden von den europäischen Bürgern aller Länder getragen und bestimmt. Am Ende steht eine hohe Lebensqualität für jeden dieser Europäer bereit.
Speer und Tiessen sind sogenannte „Regio Leads" der Partei und Bewegung Volt in Bremen. Das Wort Vorsitzende möchten sie meiden, die stünden an der Spitze der gesamteuropäischen Partei. Volt stand erstmals bei der Europawahl 2019 in verschiedenen EU-Ländern auf dem Wahlzettel, nachdem die Partei 2018 als Reaktion auf den Brexit und den wachsenden Rechtspopulismus in Europa gegründet wurde. Sie zog mit einem Sitz ins Europaparlament ein. Bei den Kommunalwahlen der vergangenen Monate erzielte sie vergleichsweise hohe Ergebnisse, etwa 4,89 Prozent in Köln. Der nächste geplante Schritt: Eine Kandidatur bei der Bundestagswahl 2021, möglichst mit 16 Landesverbänden. Einer davon soll Bremen sein. Dafür muss die Partei 20 aktive Mitglieder zusammenbekommen - aktuell sind es 15, plus sieben bis acht Interessierte, die eine Probezeit in der Partei durchlaufen.
Von Bremen aus die Europäische Union beeinflussen - das ist zurzeit nur auf sehr indirektem Wege möglich, das gesteht Speer ein. Ein Problem an der EU, das seine Partei anprangert: Bisher seien die demokratischen Prozesse zu indirekt. Die europäischen Bürger sollen direkter mitbestimmen dürfen, was innerhalb der EU passiert. „Aber auch lokale Politik ist für Volt sehr wichtig", sagt Speer. Alle zwei Wochen donnerstags trifft sich die Ortsgruppe deshalb, um Ansätze und Ideen für Bremen zu entwickeln. Zuletzt standen vor allem die Themen Wohnen und Stadtplanung im Fokus. Eine Abkehr von der Trennung zwischen Einkaufsmeile und Wohngebiet, lieber gemischte Quartiere. Und auch sonst positioniert sich die Partei zu aktuellen Bremer Themen und schlägt Lösungen vor, die sie vor allem über die sozialen Medien verbreitet, wie zuletzt zu den Corona-Maßnahmen oder zum Strafprozess gegen Pastor Olaf Latzel.
Sowohl Speer als auch Tiessen spiegeln mit 32 und 33 Jahren den Altersdurchschnitt der Volt-Mitglieder in Bremen wider. Das älteste Mitglied ist Mitte 60, das jüngste 18, die meisten seien aber in den Zwanzig- bis Dreißigern. Eine junge Partei also, die Themen anspricht, die vor allem Jüngere bewegen. „Die Partei hat bei den Kommunalwahlen vor allem junge Wähler und Wählerinnen erreicht, das lässt sich mit einer gewissen Nähe des Programms zu Fridays for Future erklären", sagt Andreas Klee, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Bremen. Warum aber treten junge Menschen in eine kleine Partei ein, deren Zukunft noch vollkommen ungewiss ist? Tiessen etwa studiert selbst Politikwissenschaften und hat sich vorher bereits in anderen Parteien umgesehen, ist jedoch nie in eine eingetreten.
„Es gibt durchaus Schnittmengen von Volt mit anderen Parteien. Ich war aber nie komplett überzeugt. Irgendwo war immer ein ‚Finde ich gut, aber'", sagt sie. Über den Vote Swiper, eine Wahlempfehlungs-App, sei sie dann bei der Europawahl auf Volt aufmerksam geworden. Dass Volt noch so klein ist, hatte sie bei ihrem Eintritt im Hinterkopf. „Das war aber nicht entscheidend. Da hat der Idealismus gesiegt, und ich möchte der Partei eine Chance geben." Bei Speer war das ähnlich, er ist Konzeptingenieur im Sondermaschinenbau und war vorher in einigen NGOs aktiv. „Mich begeistert an Volt, dass wir faktenbasiert arbeiten. Bei den Grünen hat mich immer gestört, dass sie ideologischen Umweltschutz betreiben."
Andreas Klee sieht die klare proeuropäische Ausrichtung von Volt als einzigartigen Ansatz in der Parteienlandschaft. Dennoch sei er sich sicher, dass Volt bei der nächsten Bundestagswahl nicht die Fünf-Prozent-Hürde knacken werde. „Die Partei ist noch zu unbekannt. Trotzdem wird sie dadurch zunehmend ins Gespräch kommen und auf sich aufmerksam machen." Es sei schwierig, Bundes- oder Landtagswahlen mit jenen auf kommunaler oder europäischer Ebene zu vergleichen. „Da ist die Experimentierfreude der Wähler größer als auf Bundes- oder Landesebene." Es habe in der Vergangenheit bereits ähnliche Phänomene gegeben, etwa die Piraten-Partei, die auf Bundesebene nicht geschafft habe, erfolgreich zu sein. In Bremen könne sich Klee gut vorstellen, dass Volt bei der nächsten Bürgerschaftswahl zumindest einen Achtungserfolg erzielt. „Wir haben in Bremen eine hochpolitisierte, jugendkulturelle Gesellschaft. Das ist ein gutes Pflaster für eine solche Partei."
Tiessen und Speer sind zuversichtlich, dass sie es bis zur Bundestagswahl im September schaffen, den Landesverband zu gründen. „So abgedroschen es klingt - wenn nicht, heißt es für uns nach der Wahl ist vor der Wahl. Und 2023 wählt Bremen", sagt Tiessen.