Wird das Wort "Zivilgesellschaft" normalerweise ausgesprochen, blitzen hehre Ideen auf: Menschen, die ihr Ego zurückstellen, um sich politisch zu engagieren. Bürger, die ihre Freiheit zum Wohle aller in die Hand nehmen und sich demokratisch organisieren - statt auf die zweifelhaften Direktiven des Verwaltungsstaates zu vertrauen. Doch in das Echo dieses Wortes mischen sich auch einige unschöne Töne. Was ist etwa mit all den Manifesten von Intellektuellen und Schauspielern, die Maßnahmen zum Schutz des Lebens ohne Gegengrund oder Alternativvorschlag der Lächerlichkeit preisgeben? Oder mit Demonstranten, die zu Tausenden durch die Straßen ziehen, weil sie sich von einer Diktatur gegängelt sehen, deren Beschlüsse komischerweise mittels demokratischer Verfahren getroffen wurden? Oder mit den Antiflüchtlings-Demonstrationen, die vor ein paar Jahren ihre Hochphase hatten? Zweifelhafte Phänomene wie diese haben Christoph Bartmann, den Leiter des Goethe-Instituts Warschau, kürzlich dazu veranlasst, vorsichtig nach einer ungemütlichen Verwandtschaft zu fragen: Sind all diese Bewegungen "nicht auch Zivilgesellschaft"? Man möchte weniger vorsichtig ergänzen: Was verrät es über das Ideal der Zivilgesellschaft selbst, dass Gut und Böse hier plötzlich so nahe beieinanderliegen?
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Dass dieser Befund in Form einer Frage formuliert ist, beweist, wie schwer es noch fällt, sich einzugestehen, dass Gruppen wie "Querdenken" sogar sehr gut in das Bild zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation passen. Es handelt sich zumeist um mehr oder weniger spontan entstandene Bewegungen, die ihr politisches Anliegen mit einem emphatischen Begriff von Freiheit und Gleichheit verknüpfen, um dieses gegen die vermachteten Abläufe des Staatsapparates in Stellung zu bringen. In dem Manifest einer ihrer Parteineugründungen, die den sprechenden Kurznamen "die Basis" trägt, heißt es in aller zivilgesellschaftlichen Fröhlichkeit: "Wir sind Demokraten. Wir sind eine friedliche Bewegung. Wir eröffnen einen freien und demokratischen Debattenraum." Auch soziologisch gesehen passt die Rhetorik gut zum Charakter der eigenen Organisation, wie das Team um den Wissenschaftler Oliver Nachtwey kürzlich herausgefunden hat: Überdurchschnittlich viele befragte Demonstranten sind zivilgesellschaftlich engagiert und in ihrer allgemeinen Lebensführung politisch orientiert. Trotzdem versucht die Öffentlichkeit, es tunlichst zu vermeiden, Bewegungen wie "Querdenken" den Ehrenwimpel "Zivilgesellschaft" anzuhängen. Bloß: wieso?
Eine Antwort verbirgt sich in der Geschichte des Begriffs. In der breiten Öffentlichkeit wurde das Wort "Zivilgesellschaft" in den 1990er-Jahren populär, nachdem in den Staaten des Warschauer Paktes bürgerschaftliche Massenbewegungen das Leben jahrzehntealter Diktaturen beendeten. Zivilgesellschaft - das Wort versprach damals einen friedvollen dritten Weg zwischen Kapitalismus und autoritärem Staat. In diesem Sinne integriert es auch Jürgen Habermas in seine Demokratietheorie, die dem bundesrepublikanischen Selbstverständnis auf die eine oder andere Weise in Fleisch und Blute übergegangen ist: "Die Zivilgesellschaft setzt sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen", die "die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten".
Der Mensch als gemeinschaftlich handelndes, politisches Wesen - in Habermas' Begriff der Zivilgesellschaft klingt unverkennbar das antike Bürgerideal an. Und vielleicht ist auch das ein Grund, wieso das Wort der deutschen Öffentlichkeit seit den 1990er-Jahren so leicht über die Lippen geht. Doch bei allen alten Klängen sollte man nicht überhören, dass hier ein ganz und gar modernes Problem gelöst werden soll: die Trennung von Staat und Gesellschaft. Nur weil der Bürger als Privatmensch außerhalb und nur im Vorhof der Macht steht, kommt er überhaupt als spontaner Organisator von Protest infrage. Zueinander finden staatliche Macht und Gesellschaft, so der selbstbewusste Tonfall, erst wieder vermittels freiwilliger Zusammenschlüsse, die wie mit einem Megafon das politische System beschallen, wenn die Menschen in persönliche Bedrängnis geraten. Die Zivilgesellschaft soll die klaffende Wunde heilen, aus der sie hervorgegangen ist.
Die Trennung von Staat und Gesellschaft ist im Begriff der Zivilgesellschaft vorausgesetzt. Sie soll von der einen zur anderen Seite eine Brücke schlagen. Daher auch ihr süßer Nachhall: Politische Selbstorganisation jenseits der etablierten Institutionen gilt als Wert an sich, solange man beim Staat die Macht (und den Machtmissbrauch) vermuten darf. Diese Festlegung ermöglicht wiederum der Gesellschaft, sich für ohnmächtig und die eigenen Beweggründe für idealistisch zu halten. Staat bedeutet in letzter Konsequenz Machtmissbrauch, Zivilgesellschaft edle Gesinnung - diese eingeübte Asymmetrie erklärt die Abneigung, Bewegungen wie "Querdenken" in den Bereich der Zivilgesellschaft aufzunehmen. Wäre das nicht der Ritterschlag für eine höchst gefährliche Gruppierung?