Irgendwann ist der Augenblick da. Der Moment, in dem der Schmerz einem Hochgefühl weicht. Dann, so scheint es, tragen einen die Beine von allein und der eigene Körper signalisiert: „Alles wird gut!“. Gestandene Wanderer beschreiben diese Zufriedenheit gern als „in einen Flow geraten“. Der Weg wurde dann im wahrem Sinne des Wortes zum Ziel.
In unserer modernen, hektischen Gesellschaft ist Pilgern eigentlich eine Anomalie. In der Stille einsamer Natur hunderte von Kilometer zu wandern will so gar nicht in unserer Zeit passen. Und doch steigt von Jahr zu Jahr die Zahl jener, die sich genau dazu aufmachen. Gerade in Norwegen, wo sieben markierte Pilgerrouten, die so genannten St. Olavs-Wege, nach Trondheim führen und ihre Gesamtlänge sich auf 2500 Kilometer summieren. Ihr Markenzeichen: das rote Olavskreuz.
Wir haben uns drei Etappen für die international bekannteste Strecke entschieden. Der Weg beginnt im Süden, führt von Oslo über Hamar und Lillehammer durch das Gudbrandsdal nach Norden bis nach Trondheim und ist rund 643 Kilometer lang. Im Jahr 2010 wurde die Strecke als „Europäischer Pilgerweg“ anerkannt und damit den Jakobswegen ins spanische Santiago des Compostela gleichgestellt. Der Gudbrandsdalenweg folgt zwar zum größten Teil dem Lágen-Fluß, führt aber auch hinauf auf bis zu 1300 Meter durch das schroffe wie wilde Dovregebirge.
Wir starten in Dale Gudbrands Gard, einem kleinen Örtchen auf der Hälfte des Weges. Es ist ein historischer Ort. Nachdem Olav Haraldsson, inzwischen König und Nationalheld, am 29. Juli 1030 in einer Schlacht bei Stiklestad getötet wird, dauerte es nur ein Jahr, bis er heiliggesprochen und ihm zu Ehren in Trondheim – der Ort hieß damals Nidaros – eine Kirche errichtet wurde. Später entstand dort der Nidarosdom, die nördlichste gotische Kathedrale der Welt – das Ziel aller St. Olav-Wege.
Der Weg ist eine Herausforderung für den ungeübten Wanderer, aber zu schaffen. Anfangs führt uns ein längerer Aufstieg in den Wald. Mal ist Wander weg breit, dann wieder führt uns ein schmaler Pfad durch dichteres Gestrüpp. Immer wieder lohnt das Innehalten: weil der Blick auf das Gudbrandsdal so atemberaubend ist oder die Ruhe zum Genießen einlädt. Manchmal ist der Boden morastig, dann wieder geht es ein Stück auf Asphaltstraßen, vorbei an Wohnsiedlungen oder bebauten Feldern.
Zu den Höhepunkten einer Wanderung durch das Gudbrandsdal-Route zählen alte Bauernhöfe wie der 700 Jahre alte Hof Sygard Grytting, der schon im Mittelalter Pilgerherberge war. Alle zwanzig Kilometer gibt es sogenannte Pilgerherbergen, wie Budsjord, von der man einen wunderschönen Blick über das Guldbrandsdal hat. Sanft schlänger sich der Fluss Lágen durch das weit geschwungene Tal. Jetzt, im Frühsommer leuchten Felder und Wälder in saftigem Grün.
Die Unterkunft hier ist einfach. Die Pilger schlafen beispielsweise im früheren Pferdestall mit vier Betten. Um ein wenig Privatsphäre zu gewährleisten, sind die Kopfende mit Holzwänden abgeschottet. Alles riecht nach frischen Holz, der Fußboden ist ausgetreten und ein kleiner Hocker vervollständigt die Ausstattung. 550 Kronen zahlt der Wanderer für eine Nacht, inklusive Frühstück. Die meisten seiner Wandergäste stammten aus Deutschland, erzählt Inhaber Erik Fenstad Langdalen.
Man wird es kaum glauben, aber Pilgerwanderungen in Norwegen sind heutzutage eine deutsche Angelegenheit. Von den bis zu 12.000 Pilgern, die alljährlich in Trondheim gezählt werden, stammen 60 Prozent aus Deutschland. „Der typische Pilger ist eine 55-jährige deutsche Lehrerin“, erzählt Per Gunnar Hagelien, der in Dale-Gudbrands Gard die Pilgerstation führt und für den St. Olavsweg zwischen Lillehammer und Dovre zuständig ist, mit einem Lächeln.
In seiner Station fragen im Jahr rund 1200 Pilger um Rat. Etwa 120 übernachten hier. Nach den Deutschen sind die Norweger die zweitgrößte Pilgergruppe. Jeder vierte stammt von hier. Der Rest komme aus Ländern wie die Schweiz, den USA oder Spanien. In der Regel seien Pilger entweder im Studentenalter oder über 50 Jahre alt.
Die meisten Deutschen starteten ihre Pilgerwanderung in Hammar. „Schuld“ hat das Fernsehen. „Vor einigen Jahren lief im deutschen Fernsehen der Film 'Die Pilgerin' und dieser Streifen spielte in Hammar“, sagt Per Gunnar Hagelien. Viele Deutsche zieht es deshalb dahin.
Allerdings sind auf den Wanderwegen längst nicht mehr nur Pilger unterwegs. „Das Spirituelle spielt inzwischen bei den wenigsten Wanderern eine Rolle“, ergänzt Per Gunnar Hagelien. „Vielen geht es darum, die urwüchsige Natur zu genießen.“ Andere seien an historisch bedeutsamen Orten interessiert, wieder andere an Kultureinrichtungen.
„Den Kopf frei bekommen“, nennt Per Gunnar Hagelien es. Manche Wanderer suchen und finden in der Natur den Sinn ihres Lebens. Andere ziehen Bilanz und kommen zu ganz überraschenden Erkenntnissen. Erik Fenstad Langdalen, Inhaber der Pilgerfarm Budsjord, fragt nicht nach dem Grund, warum jemand wandert. „Wir schicken niemanden weg“, sagt er und zückt den Stempel für den Pilgerpass.
Wir starten in Budsjord unsere zweite Etappe. Gleich zu Beginn geht es steil hinein in den Berg, quer durch eine Wiese, auf der das Gras hüfthoch steht. In der Ferne leuchten die schneebedeckten Spitze des Dovre-Fjells. Im europäischen Norden erreicht man deutliche rascher als in Mitteleuropa die Baumgrenze. Schon bei knapp über 1000 Meter Höhe wird die Zahl der Bäume merklich kleiner.
Immer wieder müssen wir einen Zaun überwinden. Dazu haben die vielen freiwilligen Helfer, die den Wanderweg betreuen, oft eine kleine Treppe gebaut, so dass das Überwinden eines Zaunes zwar durchaus anstrengend, aber nicht wenig komfortabel ist.
Es ist schon oft geschrieben und noch mehr gelesen worden: aber erst, wenn man es am eigenen Leib erfährt, wird einem klar - mehrtägige kilometerlange Wanderungen können einen Menschen verändern. Dabei geht es es in erster Linie nicht um eine Art religiöse Erleuchtung, wie sie von vielen Pilgerwanderern beschrieben wird.
Das fängt mit der Wahrnehmung von Entfernung und Geschwindigkeit an. Zwanzig bis 25 Kilometer am Tag sind für Ottonormalverbraucher eine gehörige Wegstrecke und bringt ihn an seine körperliche Grenzen, wenn er diese an einem Tag am Stück zurücklegt. In unserer Welt der Automobile, Eisenbahn und Flugzeuge sind 25 Kilometer eine Entfernung, die sich in der Regel unserer Aufmerksamkeit entzieht. Selbst jene, die häufig mit dem dem Rad unterwegs sind, machen sich selten darüber Gedanken.
Aber zu Fuß und in bergigem Gelände sieht die Welt ganz anders aus. Pausen eingerechnet gehen locker fünf bis sechs Stunden ins Land, in denen man ununterbrochen auf den Beinen ist. Aller Anfang ist schwer – auch beim Wandern. Der erste Kilometer ist rasch hinter sich gebracht und wenn der eigene Körper auf „Betriebstemperatur“ ist, geht alles leichter vonstatten. Bis zur ersten Steigung. Sie treibt den Puls hoch, lässt das Blut rauschen und macht den Atem schwer. Das kräftige Pochen in der Brust, die schwerer werdenden Atemzüge.
Spätestens jetzt stellen sich erste leichte Zweifel an dem Unterfangen ein. Es kostet Überwindung, in solchen Momenten einen Schritt vor den anderen zu setzen. Man hat kein Auge mehr für die Schönheit der Umgebung, sondern blickt vor sich auf den Wegesboden und setzt eine Schritt nach dem anderen.
Keine Sorge, die Zweifel verschwinden so rasch wie sie gekommen sind. Auch die Widerstandskraft des inneren Schweinehunds ist nicht von Dauer, der Körper gewöhnt sich rasch an die erhöhten Anforderungen und stellt sich darauf ein. Und dann fängt sie an, die Freude am Wandern. Dann wird der Kopf frei und die Alltagssorgen verlieren sich. Es scheint, als steige die Sensibilität der eigene Sinne: plötzlich riecht man die Feldblumen, das frisch gemähte Gras und hört die Vögel.
Sicher trägt das Wetter an diesem Tag das Seine zum Gelingen bei. Aber es ändert nichts daran, dass die Fortbewegung zu Fuß einem gut tut. Menschen, die auf den norwegischen Pilgerwegen, tun das seltener aus religiösen Gründen. „Es mag sein, dass Wanderer auf dem Weg zu ihrer Religion zurückfinden“, sagt Cathrine Roncale, Chefin des Pilgrimcenters in Trondheim. Fast immer aber löse sich etwas in den Menschen. „Manche befinden sich in einer persönlichen Krise und versuchen herauszufinden, was in ihrem Leben sie ändern sollen.“
Anderen, und diese „Pilger“ werden zahlenmäßig mehr, „geht es um Naturerfahrung und Naturerlebnis“, sagt Roncale. Diese Pilgern wollen den ganzen Tag an der frischen Luft und in Bewegung zu sein. Sie genießen die Landschaft, das Draußensein. Die eigene Grenzen austesten bei Regen, Sonne und steilen Anstiegen gehört ebenso dazu.
Pilger berichteten ihr oft, dass während der Wanderung etwas mit Ihnen „passiert“, sagt Cathrine Roncale. Von „sich seiner selbst bewusst werden“, sei die Rede. „Sie starten als Touristen und werden zu Pilgern.“ In der Tat stellt sich dieser „Flow“, von dem viele berichten, mit der Zeit ein. Der Körper funktioniert, der Schweiß rinnt von der Stirn und irgendwie empfindet man die körperlichen Schmerzen nicht als solche.
Um so wundervoller ist es, wenn man an einem Zufluss zum Trondheimfjord von Besitzer des Pilgerunterkunft mit dem Boot abgeholt und übergesetzt wird.
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